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Full text of "Wandlungen 2 (1853)"

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* 


——— 


HARVARD COLLEGE 
LIBRARY 


HUGO REISINGER 
OF NEW YORK 


For the purchase of German books 








MWandlungen. 


o De 
2Nandlungen. 
N — 


von 


Fanny Lewald. 


In vier Bänden. 


Erſter Band. 
iS, 


Braunfhweig, 
Drud und Berlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 


18538... 





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0. 5 . 


JUL 30 1924 - 
LIBRARN 


x am Res, feu 
 Ume N) 





Meinem Bruder 


Otto Lewald. 





Erſtes Kapitel 


Die Burfchenverfammlung war ſehr ſtuͤrmiſch 
gewefen, die Studenten hatten eben das Audito⸗ 
rum marimum verlaffen, in dem fie gehalten 
worden war, und die verfchiebenen: Corps ſon⸗ 
derten fich in Gruppen auf dem Hofe, den von 
zwei Seiten die Univerfitätögebäude, von der 
dritten der Dom begrenzte, während die vierte 
fih mit einem eifernen Gitter gegen die ftattliche 
Weitung ded Domplabes öffnete. 

Die alten Linden und Kaftanien des Univer- 
fitatöhofes, welche ihre Aefte hinüberbogen nad) 
der bededten Halle ded Domes, zu der Grab: 


flätte berühmter Profefforen, waren faft entlaubt, 
Bandlungen I. 1 





28 andlungen. 


— — — — — — __ 


We Fam 
WBandlungen, 


von 


Fanny Lewald. 


In vier Bänden. 


— — 


Erſter Band. 
/7 37 —2 


Braunſchweig, 
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 


18583. 


LEE RG 
v 


EMNado co 
JUL 30 1924 * 
LIBRARN 





Meinem Bruder 


Otto Lewald, 





Erfteg Kapitel 


Die Burfchenverfammlung war fehr ftürmifch 
gewefen, die Studenten hatten eben bad Aubito- 
rum marimum verlaffen, in dem fie gehalten 
worden war, und die verfchiebenen. Corps fon- 
derten fich in Gruppen auf dem Hofe, den von 
zwei Seiten die Univerfitätögebaude, von ber 
dritten der Dom begrenzte, während Die vierte 
ſich mit einem eifernen Gitter gegen die ftattliche 
Weitung ded Domplatzes öffnete. 

Die alten Linden und Kaftanien des Univer- 
fitatshofes, welche ihre Aefte hinüberbogen nad) 
ver bededten Halle ded Domed, zu der Grab: 


flätte berühmter Profefforen, waren faft entlaubt, 
Bandlungen 1. 1 


2 


obfchon man ſich noch in der erften Hälfte des 
Octoberd befand. Der Herbit hatte fich früh 


eingeftellt und ſtarke Nachtfröfte bereit3 die Nähe _ 


des Winters verkündet. 

Auch hatte die Burfchenverfammlung den 
Sreuden des Winters gegolten. Won jeher hatte 
zwifchen den Studirenden und den Bürgern ein 
gutes Vernehmen beftanden, und da die Stuben: 
ten in den Familienkreiſen ftet3 eine gaftliche 
Aufnahme gefunden, war es feit alten Zeiten 
Sitte gewefen, daß fie ſich dafür mit Bällen 


und mit Concerten dankbar bezeigten. Wie, bie 


Söhne aller Stände fich unter dem Schußeder alma 


mater zu einer Corporation zufammenfanden,, fo ' 
begegneten ſich Kaufmannfchaft, Adel, Militair, : 


Beamte und Handwerker in den Gartenconzer: 


ten fowohl als auf den Bällen der Studenten, . 


. und die Univerfität trug auf diefe Weife zur Aus- 
gleichung der Standedunterfchiede bei, während 
fih hinwieder daS Leben in den verfchiedenen 


Samilienkfreifen für die Gefittung der Studirens 


den förderlich bewies. 


J 


Der Geift der Stadt war aufgeklärt u 


3 


duldfam. Man hob ed gern hervor, daß die kri⸗ 
tifhe Philofophie von bier ihren neuen Auf: 
fhwung genommen habe, und von jener kirchli⸗ 
chen, myſtiſchen Richtung, welche fpäter in ganz 
Deutfchland fo bedenklich um ſich griff, war zu 
Ende der zwanziger Jahre in dem Orte wenig 
zu bemerken, der als Handeld- und Hafenftabt das 
Gepräge eined gefunden, tüchtigen Weſens an ſich 
trug. 

Der Kaufmannöftand bildete den eigentlichen 
Kern der Bürgerfchaft. Stolz auf eine altbegrün- 
dete Wohlhabenheit, vol Vorliebe für ererbte Sitte 
und doch auf den Weltverkehr gewiefen und durch 
ihn moderniſirt, bewahrte dad innere Zeben der 
Kaufleute eine gewiffe patriarchalifhe Abgefchlof- 
fenheit, bei einer Gaftlichfeit, wie nur der Norden 
fie kennt, und bei einer Prachtliebe, wie fie dem 
Kaufmannsftande eigen ift. 

Der Landadel, welcher im Winter das Stamm: 
[bloß mit dem Haufe in der Stadt vertaufchte, 
mochte an Saftlichfeit und Lurus der Handelö- 
ariftofratie nicht nachftehen, zu ber fich auch die 
fremden Confuln und nationalifirte englifche Kauf- 

1* 


Mandlungen. 


— — —— — — — 


J 


I 


w Ob 
Bandlungen 


Roman 


von 


Fanny Lewald. 


In vier Bänden. 


— — 


Erſter Band. 


im, 


Braunfhweig, 
Druck und Berlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 


1853. ., 


—8 


SOCIM. SF. 
v 


8 ARD CO 
JUL 30 1024 








Meinem Bruder 


Otto Lewald. 


— — — — 


10 


— 


Griechen, fhon am Ende der erften Studienjahre 
ein Menfch geworden, den nur die Gewohnheiten 
einer guten Erziehung, und eifl angeborner Sinn 
für fchöne Form, vor wüfter Robheit zu bewah⸗ 
ren vermochten. Ein flotter Burfche im Sinne 
der Studenten war er dabei nie geweſen. Es 
fehlte ihm nicht an Muth, aber er war zu be- 
quem, fich irgend eine Anftrengung aufzuerlegen. 
Alle jene Abenteuerlichkeiten, an denen die akade⸗ 
mifche Jugend leicht Gefallen findet, widerfpra- 
chen feinem an bürgerlihe Behaglichkeit und 
aͤußern Anftand gemwöhnten Sinne, und feine Vor⸗ 
liebe für die Letztem war mehr und mehr ge⸗ 
wachfen, je weiter er fich von wahrer Sittlichkeit 
entfernt hatte. Die Grundfäge feined Vaterhau⸗ 
ſes waren ihm ein Spott, die Gewohnheiten def: 
felben ein Heiligthum. Die Verehrung der 
außern Form wird in Religion und Leben um 
fo eifriger betrieben, je mehr der innere Gehalt 
verfchwindet. 

Larſſen war drei Sahre auf der Univerfität, 
ald fein Vater durch unglüdliche Speculation 
fein Bermögen verlor. Beide Eltern überlebten 





11 


dies Unglüd nur eine Eurze Zeit, und der Sohn 
ſah fich plößlich auf fich felbft gemiefen. Für 
eine energifche Natur wäre der Drud der Ber: 
hältniffe eine Triebkraft gewefen, um fo fchneller 
und höher zu fleigen; nicht fo für ihn. Er wollte 
dem Menfchenfreife entgehen, der ihn beklagen 
konnte, er wollte fich den drohenden, augenblid- 
lihen Entbehrungen entziehen, und eine Haus⸗ 
Iehrerftelle in einer adligen Familie, die ein 
Freund derfelben ihm anbot, ſchien ihm dazu ber 
geeignetefte Ausweg. 

Betroffen von dem Vertrauen feines Freun⸗ 
des, das nicht zu verdienen er ſich bewußt war, 
hatte Larſſen es als eine Ehrenſache angeſehen, 
ſeine Verpflichtungen im Hauſe des Baron von 
Heidenbruck mit hoͤchſter Puͤnktlichkeit zu erfuͤllen. 
Der aͤlteſte Sohn des Barons, Erich, den man 
eben jetzt zum Entrepreneur der Baͤlle ernannt hatte, 
war damals bereits in einem Erziehungsinſtitute, 
und nur Georg noch im Haufe gewefen, der bald 
darauf einem Cadettenhaufe übergeben worden war. 
Larffen hatte alfo nur den wiffenfchaftlichen Un- 
terricht der Züchter zu beforgen gehabt, der ihn 


12 


wenige Stunden des Tages befchäftigte. Die 
ganze übrige Zeit hatte er fich felbft und feinen | 
Neigungen gelebt, die in dem hochgebildeten, gafts 
freien Haufe mit denen der Beſitzer glüdlich ges 
nug zufammenfielen. Seine literariiche Bildung, 
feine guten Umgangöformen, fein Geift und feine 
Anfpruchelofigkeit, feine Theilnahme für jeden 
Vorgang des menfchlichen Lebens, hatten ihn 
dem Baron und feiner Gattin zu einem ange- 
nehmen Hausgenoſſen gemacht, dem man jebe 
Bequemlichkeit bereitwillig gewährte und manche 
Unregelmäßigfeit der. Sitten verzieh. 

Fünf Jahre waren für Larffen in dieſen Ver⸗ 
Hältniffen unter dauerndem Wohlbehagen dahin⸗ 
gefchwunden, ald die Ernennung zum Landforſt⸗ 
meifter den Baron nad) Königöberg berief, wo 
man ded Haudlehrers für die Toͤchter nicht mehr 
benöthigt war. Wohlmeinend drang man in ihn, 
fi einem Eramen zu unterwerfen, der Baron 
erbot fih, ihm beim Beginne jeder zu ermählen- 
den Laufbahn mit feinem Einfluffe förderlich zu 
fein; Larſſen konnte zu keinem Entfchluffe kom⸗ 
men. Seine Laͤſſigkeit war in den fuͤnf Jahren 


13 


des MWohllebens, bei den Studien, die er ale 
Dilettant betrieb, gewachſen, und obfchon er das 
bei dem erftrebten Ziele einer univerfellen Bil- 
dung näher gefommen war, ald er felbft es 
wußte, hatte er alle Kraft verloren, feine Kennt 
niffe fleißig zum eigenen Beſten zu verwerthen. 
Bereit, für jeden Andern mühevolle, langwierige 
Arbeiten zu übernehmen, konnte er fi nicht 
‚überwinden, eine Differtation zu fchreiben, um 
ben Doctorgrad zu erwerben, und nur die Noth⸗ 
wendigkeit, für feinen Unterhalt zu forgen, hatte 
ihn bewogen, in Erziehungsanftalten ald Huͤlfs⸗ 
lehrer zu unterrichten. 

In diefer Weife hatte er fortgelebt, feit er 
aus dem Haufe des Barond gefchieden war. 
Seine Altersgenoffen, die Freunde feiner erſten 
Studienzeit, waren zu bürgerlichen Stellungen 
gefommen, hatten felbft Familien gegründet, 
und Larſſen vermied es, ihnen zu begegnen, meil 
fie ihm fein eigenes verfehltes Leben in's Ge— 
dächtniß riefen. Aber von Natur gefellig, fühlte 
er fich gedrungen, andere Genofjen zu fuchen, 
und er fand fie in dem immer neuen Zuwachs 


14 


der Univerfität, zu deren traditionellen Figuren 
er gerechnet ward. Befländig von neuen Bes 
kannten, von fogenannten Freunden umgeben, die 
fein Geift und feine Originalität leicht an fi 
zogen, von ihnen verlaffen, fobald fie im bürgers 
lichen Leben vorwärts fehritten, hatte Larſſen fein 
dreißigſtes Jahr erreicht. Liebevoll für manchen jun- 
gen Mann, der diefe Liebe nicht hoch anfchlug ober 
fie kaum ahnte, verlegt durch jede Nichtbeachtung, 
und immer ‘wieder zu neuer Theilnahme verlodt; 
oftmals ein nüßlicher Freund, ein forglicher War⸗ 
ner, öfter ein Verführer der Studenten; bochges 
halten um fein Wiffen von den Profefloren, miß⸗ 
achtet ald Charakter; felbftbemußt und an fidh 
felbft verzweifelnd; gleichgültig gegen das Urtheil 
der Welt und voll Achtung vor dem Schein der 
guten Sitte, fo war Larfien, ald er an jenem 
Tage dad Amt des Vorfchneiderd an der Tafel 
der Studenten übernommen hatte. 

Man konnte ihn nicht unfchon nennen. Er 
war mittler Größe. Das etwas derbe Geficht, 
defien Backenknochen eine hohe Röthe trugen, die 
tiefliegenden blauen Augen, das Fraufe dunfel« 


15 


braune Haar, der ebenfalld krauſe Badenbart, 
paßten wohl zufammen, und der flarfe Mund, 
die breite Stirn belebten fich zu einem geiftrei- 
hen, humoriſtiſchen Ausdrude, fobald er ſprach. 
Saar, Bart, Zähne und Hände waren forgfältig 
gepflegt, die Kleidung frei von jedem Stäubchen, 
das fchwarze Halstuch mit einer großen Schleife 
tünftlich gebunden, denn Larſſen legte Werth auf 
die Kunft, das Halötuch recht zu falten und zu 
tragen. Trotz diefer wohlanftändigen Sauberkeit 
lag aber etwas Verkommenes in den Zügen, in 
der Kleidung, in der ganzen Erfcheinung des 
Mannes, dad keinem Menfchenkenner verborgen 
bleiben Eonnte, und die Läfligkeit diefer Natur 
Iprach fich in jeder Bewegung, felbft in der Art 
und Weife aus, mit der Larffen die filberne 
Brille an die Augen drüdte, um feiner großen 
Kurzfichtigkeit zu Hülfe zu kommen. 


Mit Befriedigung hatte er den gewaltigen 
Rinderbraten zerlegt, die Serviette über daß 
Bein gebreitet und die erften Biffen gekoftet, als 
er, gegen feinen Nachbar den Senior gewendet, 


16 


bie im Univerfitätöhofe abgebrochene Unterbal- 
tung wieder aufnahm. 


»Du haft Recht gehabt, die Sache beizules | 
gen«, ſprach er; »Nuthenberg geht noch zu blind - 
in’d Zeug und Reinbed hätte ihn mit feiner feis . 
nen Klinge fo zufammengehauen, daß er auf _ 
dem erften Balle nicht gefehen haben würde, 0b 
Brand ein guter Entrepreneur ift oder nicht. 
Aber es ift Fein Comment in der Jugend. Man 
verträgt fich vor den Bällen und geht nad) ben 
Bällen los.« — Dabei legte er fich einen neuen 
Schnitt Braten vor, ließ fich einen befondern 
Zeller zu den Beiſaͤtzen geben, den fonft Nies 
mand erhielt, und fagte dann: »Ruthenberg, be= 
lade Deinen Bart etwad weniger mit, Sauce, 
Du mutheft ihm mehr zu, ald er tragen kann, 
lieber Sohn!« 


Ruthenberg ſtrich lachend mit der Serviette 
den Schnurrbart zurecht und meinte: »Du ſoll⸗ 
teft als Univerfitätähofmeifter angeftellt werden, 
Larſſen!“ 


»Oder in Deinen Mußeſtunden ein Complimen⸗ 


17 


tirbuch für Mufenföhne fchreiben,« fiel ein Ande⸗ 
ter ein. 

»Nein!« rief ein Dritter. »Er muß ein Bud) 
ſchreiben: »Perikles, der vollkommene Gentles 
man;» dabei kann Larſſen feine ganze Gelehr⸗ 
famfeit entfalten, und das univerfell gebildete 
Alterthum mit unferer Barbarei vergleichen !« 

»Und,« fiel Ruthenberg ein, »über fpartanifche 
Suppe, attifched Salz, über den Faltenwurf der 
Statuen und die Kunft, Cravatten zu binden, 
fäinfinnige Bemerkungen machen!« 

»⸗Perikles mit einer Cravatte ald Xitelfups 
fer wäre ein Anblid für Götter!« 

»Und im zweiten Bande Larffen, mit nadter 
Bruft als Grieche! Welche Sterbliche könnte ihm 
widerſtehen?« 

Alle lachten, die Neckereien waren harmlos, 
und Larſſen, der ſich gar Manches gegen ſeine 
Bekannten herausnahm, ließ ſich in ſeiner Ruhe 
und ſeiner Mahlzeit nicht ſtoͤren. Erſt als er 
ſeiner Eßluſt Genuͤge gethan, ein großes Glas 
Bier in einem Zuge ausgetrunken und ſich dann 
mit lang ausgeſtreckten Beinen behaglich in fei- 

Bandiungen I. 2 


18 


nen Stuhl zurüdgelehnt hatte, entgegnete er: . 


»Glaubt Ihr nicht, daß ed ohne Schaden wäre, _ 
. wenn man bei den Univerfitäten Lehrer anftellte, . 
die Euch fagten, wie Ihr efien, wie Ihr fliehen, 


figen und gehen folt? Seht einmal dad ganze 


Beamten: und Profefiorenvolf an, ob darunter | 
im Grunde auch nur Einer einem Menfchen aͤhn⸗ 


lich fieht, wenn er fih vor Menfchen zu bewes 


gen hat. Wie verfchüchterte Nachteulen und Fle⸗ 


dermäufe flattern fie aus ihren Bureauldchern 
und Studirneftern hervor auf die Straße und in 
die Gefellfchaft, daß mir unmwohl wird, wenn ich 


— — — — — ui mu — — 


ſie ſehe. Jeder Unteroffizier, jeder Statiſt des 


elendeſten Theaters iſt ein Halbgott gegen dieſe 


—7 


verkommenen Herren der Intelligenz. Und Ihr 
ſelbſt? Unter den ſechshundert Studenten koͤnnen 


nicht fünfzig gehen oder ftehen.« 

„Wir Litthauer koͤnnen Alle geben, dem wir 
wachſen im Freien auf!« wendete ber Senior 
ein. 

»Ihr Tönnt reiten, und dad Spruͤchwort bat 
Recht, wenn ed behauptet: «Jeder Litthauer 
fommt mit einem Pferdezaum in der Hand auf 


19 


die Welt.» Dad fpringened Roß, das Euer 
Bappen ift, das kommt Euch zu; aber gehen 
koͤnnen nicht fünf unter Euch. Der Heidenbrud 
kann gehen, und auch Brand geht vortrefflich, 
fie werden fich gut auf den Baͤllen machen !« 

»Ich bleibe dabei, daß Brand ed nidht an- 
nimmt!« behauptete der Senior wieder. 

»Man muß fatt fein, um eine volle Schüffel, 
einen vollen Becher an ſich vorübergehen zu laf- 
fen, ohne zuzugreifen!» entgegnete Larſſen. 

»Was heißt das ?« 

»Erich von Heidenbrud, der künftige Majo- 
ratöherr, Fönnte die Ehre auöfchlagen, Entrepre⸗ 
neur der Bälle zu werden, denn er wird nod 
manchen Genuß außer diefen Studentenbällen in 
feinem Leben haben,« erklärte Larſſen mit einem 
überlegenen Lächeln, das fpöftifcher war, als er 
ſelbſt es wollte; »der Sohn des Handwerkers, 
der künftige Landpfarrer, für den die magern 
Sahre gleich nach der Univerfität beginnen, muß 
den Becher der Freude ergreifen, der ihm gebo— 
tn wird. Ich wette Zehn gegen Eins, daß 
Brand ed annimmt!« 


20 


 »Laß ed einftweilen bei Eind gegen Zwei be= 
wenden, Larfien, das kommt eher zu Stande, 
wenn Du verlierft!« meinte Ruthenberg lachend. 
Der Senior nahm die Wette an, es blieb bei 
zwei Bowlen, man fland vom Tiſche auf und 
verabredete, am Abend, wenn man über Brand’s 
Antwort Gewißheit haben würde, wieder im 
Speifehaus zufammen zu fommen, um auf Ko: 
fien des Verlierenden die beiden Bowlen zu 
trinfen. | 


Zweites Kapitel, 


Waͤhrend deffen: hatte Brand einen Weg vor 
die Thore gemacht, um mit fich felbft zu Rathe 
zu gehen. Die auf ihn gefallene Wahl feiner 
Commilitonen hatte ihn uͤberraſcht. Mit der 2b: 
fung einer theologifchen Preisaufgabe befchäftigt, 
entfchloffen im Beginne des Fruͤhjahrs fein Ganz 
didaten-Eramen zu machen, hatte er fchon feit 
Monaten ganz zurüdgezogen gelebt, ohne fich an 
den Parteifachen und fonftigen Angelegenheiten 
der Studenten zu betheiligen, und nicht daran 
gedacht, ein folches Ehrenamt zu übernehmen. 

. Sein erfter Gedanke war, ed abzulehnen, weil 
er fich den Beitverluft und die Hinderniffe nicht 


22 


verbergen konnte, die ihm aus der Annahme ber 
Wahl erwachſen mußten; fein zweiter Gebante 
überfchaute die lange Reihe von Genüffen, Die 
bevorzugte Stellung, melde ihm geboten wurbe. 
Er fah ſich in der vortheilhaften Kleidung der 
Entrepreneure, er fah fich ald Vertreter der Stu- 
direnden, ald Ehrenmitglied zu allen Seftlichkeiten 
gezogen, welche während der nädıften fechd Mo- 
nate in dem Bereiche der Stadt gefeiert wurben; 
er fah fi) mit Heidenbrud in einer eleganten 
Equipage die erften Beamten der Stadt perfön- 
lich zu den Bällen einladen, mit den fchönften 
und vornehmften Mädchen und Frauen die Bälke 
eröffnen, und er hätte nicht ein und zwanzig 
Fahre fein müffen, wären folche Ausfichten ohne 
Wirkung auf ihn geblieben. Larffen hatte Recht 
gehabt: Friedrich Eonnte den verlodenden Becher 
der Freude nicht von fich weifen! | 

Er war noch nicht lange gegangen, ald er 
mit fich darüber einig war, den Winter zu ges 
nießen und durch verdoppelte Arbeit im Frühling 
den Zeitverluft zu tilgen; nur der Gedanke, wie 
fein Bater diefen Entfcehluß anfehen würde, beun- 


23 


ruhigte ihn. Er überlegte, auf welche Weife er 
die Sache darzuftellen habe; ob er ihm feinen 
Plan als etwas Feſtſtehendes mittheilen, ob er 
feine Zuſtimmung dabei erbitten, ob er ihn durch 
die Mutter darauf vorbereiten laſſen folle. Jeder 
biefer Wege konnte der rechte fein, jeder mißlin- 
gen und eine der Scenen herbeiführen, bie das 
ſchwere eben feiner Mutter dann für lange Zeit noch 
fhwerer machten. Wo ed unmöglich ift, ſich mit 
Sicherheit zu ſchuͤtzen, ift ein rafcher Angriff für 
kräftige Naturen ſtets der befte Ausweg, und 
Friedrich wendete plößlich auf feinem Spazier⸗ 
gange um, bie peinliche Erörterung fo bald als 
möglich abzuthun. 

Es war Sonntag und zwei Uhr Nachmittag. 
Die Glocken läuteten zur Kirche, ald er in einem 
entlegenen Stadttheile vor der niedrigen Thür 
eines Beinen Giebelhaufes ftand, die ſich nad 
der Bauart unferer Vorfahren der Höhe nad) 
in zwei Xheilen öffnete. Die obere Hälfte war 
zurüdgefchlagen, Friedrich Elinfte die untere auf, 
fhritt durch den gepflafterten Flur, aus dem eine 
Treppe ohne Lehne zu dem Boden führte, und 


24 


trat zu ebner Erde in die Tifchlerwerfftatt ein, bie 
heute, dem Sonntag zu Ehren, verlaffen war. 

Ein Gefühl von Bangigkeit bemächtigte fich 
des jungen Mannes, während er zwifchen den 
Hobelbänken und Werktifchen fi) der Stube feis 
ner Eltern näherte. Es war ihm, als müffe er 
fih unbewaffnet einem mächtigen Gegner ftellen,. : 
und tiefaufathmend öffnete er die Thür. Das 
Zimmer war fauber gehalten, aber ärmlid. An 
dem Zifche, der zwifchen den Fenſtern unter dem: 
Spiegel ftand, faß der Vater. Er lad dad Wo⸗ 
chenblatt. Die Mutter Eniete am Ofen und 
kochte Kaffee. 

»Ich habe mit dem Kaffee gewartet, weil ich 
dachte, Du würdeft Fommen!« fagte die große 
und noch hübfche Frau, während fie dad Feuer 
fchürte und ihr Geficht beim Anblic ihres einzi⸗ 
gen Kindes jenen verfchleierten Ausbrud Der 
Freude zeigte, wie er unter den Zügen hervors 
fieht, welche Sorge und Arbeit dem Kopfe eine 
gegraben haben. Nur in den Gefichtern ber 
Gluͤcklichen leuchtet die Freude wie heller Sons 
nenfchein, bei dem Sorgenvollen gleicht fie dem 


25 


sebftlichen Lichte, dad nur matt die Wolken 
irchdringt. 

»Komme ich zu ſpaͤt?« fragte Friedrich und 
ih nach der Schwarzwälder Uhr in der Nähe 
es grünen Sachelofend, deren Pendel fich lang: 
im über dem roth und ſchwarz gedrudten Zi- 
{blatte des Kalenders hin- und herbewegte. 

»Du hätteft Sonntags früher kommen koͤn⸗ 
en!« entgegnete der Vater. »Wo kommſt Du 
er?« 

»Ich war vor dem Zhore.« 

- »Allein?« 

»Sie gehen jadoch niemald mit mir, Vater!« 
ntwortete Sriedrich, der den Zadel in feines Va— 
ers Stage wohl verfland. 

»Ja, das weiß Gott!« nahm die Mutter das 
Bort, die den Kaffee abgeklärt, die braune 
Tanne auf den Zifch geftellt hatte, und nun aus 
em Schranke die Zaffen herbeiholte. »Du rührft 
dich ja halbe Jahre lang nicht aus dem Haufe, 
yenn’s nicht zu einem Kunden oder zum Holz- 
lage ifl. Wenn der Fritz auf Dich warten follte, 
me er grade fo wenig vord Thor, ald ich!« 

2* 


16 


die im Univerfitätöhofe abgebrochene Unterhal⸗ 
fung wieder aufnahm. 


»Du haft Recht gehabt, die Sache beizule- 
gen«, fprach er; »Ruthenberg geht noch zu blind 
in’d Zeug und Neinbe hätte ihn mit feiner feis . 
nen Klinge fo zufammengehauen, daß er auf 
dem erften Balle nicht gefehen haben würde, ob 
Brand ein guter Entrepreneur ift oder nicht. 
Aber es ift Fein Comment in der Jugend. Man 
verträgt fich vor den Baͤllen und geht nach ben 
Ballen los.« — Dabei legte er fich einen neuen 
Schnitt Braten vor, ließ fich einen befondern 
Teller zu den Beifäßen geben, den fonft Nie 
mand erhielt, und fagte dann: »Nuthenberg, be= 
lade Deinen Bart etwad weniger mit. Sauce, 
Du mutheft ihm mehr zu, ald er tragen kann, 
lieber Sohn!« 


Ruthenberg ftrich lachend mit der Serviette 
den Schnurrbart zurecht und meinte: »Du folls 
teft als Univerfitätshofmeifter angeftellt werden, 
Larfien !« 


»Oder in Deinen Mußeftunden ein Complimen⸗ 





27 


ten zu müflen, fiegten über den Eindrud der 
Niedergefchlagenheit, und mit größerer Ruhe als er 
fühlte, fagte Friedrich: »Ich und Heidenbrud 
find zu Entrepreneuren der Bälle gewählt !« 

»Das fehlte!« rief der Water fpottend, wäh- 

vend die Mutter erflaunt die Kanne aus der 
Hand fegte und Friedrich mit einer Art von 
Ehrfurcht anfah. Als gehe er fchon zum Fefte, 
betrachtete fie ihn von Kopf zu Fuß, und wifchte 
unbeachtet mit der Schürze einen Eleinen Fled 
von feinem Ermel ab. 

»Ich habe die Wahl angenommen! fagte 
Friedrich beftimmt. 

»Der Sohn vom Zifchler Brand und der 
Sohn vom Landforftmeifter von Heidenbrud, die 
paflen auch gut zufammen!« höhnte der Bater, 
»Du Fannft hingehen, Mutter, und zufehen auf 
der Straße unter dem anderen Bolf, wenn Dein 
Herr Fritz zum Balle ausſteigt vor dem Schlofie 
oder vor dem Rathhaus!« 

Friedrich war bleich geworden und aufgeflan- 
den von dem Tiſche, an dem er mit den Eltern 
gefeflen. Die Mutter fah ſcheu und aͤngſtlich zu 


18 


nen Stuhl zurüdgelehnt hatte, entgegnete er: 
»Glaubt Ihr nicht, daß ed ohne Schaden wäre, 
. wenn man bei den Univerfitäten Lehrer anftellte, . 
die Euch fagten, wie Ihr efien, wie Ihr flehen, 
figen und gehen folt? Seht einmal dad ganze 
Beamten und Profefiorenvolf an, ob darunter 
im Grunde auch nur Einer einem Menfchen ähns 
lich fieht, wenn er fih vor Menfchen zu bemwe- 
gen hat. Wie verfchlichterte Nachteulen und Fle⸗ 
dermäufe flattern fie aus ihren Bureaulöchern 
und Studirneftern hervor auf die Straße und in 
die Gefellfchaft, daß mir unwohl wird, wenn ich 
fie ſehe. Jeder Unteroffizier, jeder Statift des 
elendeften Theaters iſt ein Halbgott gegen diefe 
verfommenen Herren der Intelligenz. Und Ihr 
felbft? Unter den fechöhundert Studenten können 
nicht fünfzig gehen oder ftehen.« 

„Wir Eitthauer können Alle gehen, denn wir 
wachen im $reien auf!« wendete der Senior 
ein. 

»Ihr koͤnnt reiten, und dad Spruͤchwort hat 
Recht, wenn ed behauptet: «Jeder Litthauer 
fommt mit einem Pferdezaum in der Hand auf 


19 


e Belt.» Das fpringened Roß, das Euer 
Bappen ift, das kommt Euch zu; aber gehen 
Innen nicht fünf unter Euch. Der Heidenbrud 
inn gehen, und aud Brand geht vortrefflich, 
e werben fich gut auf den Bällen machen !« 

»Ich bleibe dabei, daß Brand ed nicht an- 
immt!« behauptete der Senior wieder. 

»Man muß fatt fein, um eine vole Schüffel, 
inen vollen Becher an fich vorübergehen zu laf- 
en, ohne zuzugreifen!» entgegnete Larffen. 

»Was heißt das ?« 

»Erich von Heidenbrud, der künftige Majo- 
atöherr, Tönnte die Ehre auöfchlagen, Entrepre _ 
wur der Bälle zu werben, denn er wirb noch 
nanchen Genuß außer diefen Studentenbällen in 
einem Leben haben,« erklärte Larſſen mit einem 
iberlegenen Lächeln, das fpüttifcher war, als er 
elbft ed wollte; »der Sohn des Handwerkers, 
ver kuͤnftige Landpfarrer, für den die magern 
Sahre gleich nach der Univerfität beginnen, muß 
ven Becher der Freude ergreifen, der ihm gebo= 
en wird. Ich wette Zehn gegen Eins, daß 
Brand ed annimmt!« 


20 


Laß es einftmeilen bei Eins gegen Zi 
wenden, Larſſen, das kommt eher zu St 
wenn Du verlierft!« meinte Ruthenberg lar 

Der Senior nahm bie Wette an, es blie 
zwei Bowlen, man fiand vom Tiſche auf 
verabrebete, am Abend, wenn man über Br. 
Antwort Gewißheit haben würde, wieden 
Speifehaus zufammen zu fommen, um auf 
ften des Werlierenden die beiden Bowle 
trinken. 


Zweites Kapitel. 


Während deſſen hatte Brand einen Weg vor 
die Shore gemacht, um mit fich felbft zu Rathe 
zu gehen. Die auf ihn gefallene Wahl feiner 
Commilitonen hatte ihn uͤberraſcht. Mit der 2b: 
fung einer theologifchen Preisaufgabe befchäftigt, 
entfchloffen im Beginne des Frühjahrs fein Can— 
didaten-Eramen zu machen, hatte er ſchon feit 
Monaten ganz zurüdgezogen gelebt, ohne fi an 
den Parteifachen und fonftigen Angelegenheiten 
ber Studenten zu betheiligen, und nicht daran 
gedacht, ein folches Ehrenamt zu übernehmen. 

. Sein erfter Gedanke war, ed abzulehnen, weil 
er fih den Zeitverluft und die Hinderniffe nicht 


32 


»Er fol nicht ihr Prediger werden, fonde: 
unferer fol er werden, dazu habe ich ihn erzoge 
Mas kümmern fich die Prediger um unfer Eineı 
Hätte ich Einen gefunden, einen Prediger, einı 
Lehrer, der fih um mid) gekümmert hätte ; 
meiner Zeit, der gemerkt hätte, wie ich auf 
Lernen aus war, der mir geholfen hätte, ich flänl 
heute nicht ald Xifchler hier und mein Sof 
brauchte fich meiner nicht zu fchämen!« 

Damit hatte er die Saite getroffen, weld 
in Friedrich’ Herzen immer wieder für den Vat 
erflang, dad Mitleid mit einem aufftrebend« 
Seifte, dem die Verhältniffe jede Erhebung, jei 
Entwidlung unmöglic gemacht. Friedrich ve 
ftand diefe Eiferfuhht des Vaters auf die Bi 
dung des Sohnes und ehrte fie, fo fehr er au 
davon gelitten hatte. Sein Geficht verlor de 
Ausdrud der Kälte, er trat näher zum Batı 
heran und fagte mit fanfter Stimme: »Sie bi 
ben mir die Bildung zukommen laflen, Vate 
die Sie fich nicht verfchaffen Fonnten, und Go 
weiß, ob ich Ihnen das anerkenne und danf 
Sie haben manchmal gefagt, mein Wiffen fürn 


33 





Ihnen wie Ihr eigned vor, wie ift e8 Ihnen 
alfo möglich, in den einzelnen Schritten, die ich 
vorwärts thue, jedesmal eine Kränkung für fich 
zu finden?« 

‚Wenn Du die Reichen und Vornehmen 
fennteft wie ich, wirdeft Du von Keinem Gu⸗ 
ed erwarten. Sie werden Did) auch dazu be- 
kommen; fie werden Dich verachten ald Tifch- 
leröfohn, und Du wirft bald lernen Deinen Va— 
fer verachten! Ich habe Dich ehrlich erzogen, ich 
gehe arm, aber rechtfchaffen aus der Welt, laß 
Du Di) nur mit dem Volke ein, und fieh zu, 
wohin Du Fommen wirft! Laß Dich nur mit 
den Bällen, mit den Narrenspoflen ein, die 
Schulden werden bald da fein und die Händel 
auch; und wenn fie Dir nachher das Geficht von 
einander hauen, dann fieh zu, auf welcher Kan- 
zel Du predigen Fannft!« 

Sobald der Bater ſich nur von dem Gefühle 
feines eignen verfehlten Lebenszieles und feines 
daraus entftandenen Hafles gegen glüdlichere Men 
ſchen abwendete, war die Möglichkeit einer Ver: 


fländigung gegeben. Friedrich erinnerte den Va— 
3 


— a 0 






a za e—⸗— 


Wandlungen 1. 


34 


ter, daß er niemald Schulden, felten Händel ges 
habt hätte, daß er im Nothfalle ein guter Schlä- 
ger, alfo nicht viel Gefahr für ihn zu fürchten 
fei; »und gerade Ihnen,« fagte er, »müßte es 
doch recht fein, wenn Ihr Sohn fich neben und 
vor die Erften der Stadt zu ftellen vermag!« 


Der Alte antwortete nicht, aber er feßte fich | 


wieder, reichte der Mutter die leere Kaffeetaffe 
hin, fie durch dies Zeichen zum Einfchenten aufs 
fordernd. Die Frau gehorchte, fie füllte auch Die 
anderen Taſſen, und obſchon dem Siege nahe, 


ließ Friedrich fi verflimmt und traurig nieder, - 


denn es liegt für wahre Naturen ein Schmerz 
darin, dad, was fie zu erlangen fich berechtigt. 
fühlen, den Ihren durch eine auf deren Schwaͤ⸗ 
chen berechnete Liſt abgewinnen zu müffen. 
»Was wird ed denn Poften?« fragte nach 
einer Weile der Alte. 
»Etwas Zeitaufwand, den ich aber leicht ein= 


bringen Fann und werde. Mein Eramen made 


ich jedenfalld zu Pfingften!« 
»Alfo nicht Oftern, wie Du erft gewollt?« 


- -—_ 


»Dieſe ſechs Wochen Auffchub find unbedeu- 


35 


tend, und ich behalte dafür die Erinnerung an 
einen froben Winter !« 

»Das heißt alfo, Du wirft jest tagtäglich 
ded Abends tanzen und ded Morgend zu Befu- 
hen gehen und von früh bis fpat herum ſcherwen⸗ 
zeln. Thu’ was Du willft! Ich Fann Dir Nichts 
dazu geben, ich verlange auch Nichts von Dir!« 

»Es ift nicht feine Schuld,« fiel die Mutter 
ein, »daß Du Nichtd nehmen will, er hat Dir’s 
oft genug angeboten, wenn er's hatte!« 

Eine neue Paufe entfland, die der Vater mit 
dem Ausruf unterbrah : »Wenn nur Etwas da= 
bei herausfäme !« 

»Nun,« meinte die Mutter, »er kann doch 
Befanntfchaften machen, die ihm rafch zur Pfarre 
verhelfen !« 

»Fuͤr's Tanzen?« fragte der Vater fpöttifch 
und fügte dann hinzu: »Aber meinetwegen mache 
es mit, ich kann's nicht hindern, ich gebe Dir ja 
Nichts dazu!« 

| Friedrich fühlte dem Vater auch in Diefem 
| Punkte nach. Er verftand die Liebe, die in dieſem 
Manne zum gefränften Stolze ward, weil fie 


Yık 


36 


Nichts zu bieten, Nichtd zu gewähren ver- 
mochte. Er gab dem Vater die Hand und fagte: 
»Ich verfpreche Ihnen, dag mein Eramen nicht 
darunter leiden fol Water, und danke Ihnen, 
dag Sie mir meinen Willen lafjen!« 

Der Alte war gerührt, ließ es aber nicht 
merken; die Mutter durfte ed niemals in des 
Vaters Gegenwart zeigen, wie fie den Sohn 
liebte, wie fie mit Anbetung zu dem von ihr ge= 
bornen Kinde emporfah, das fo viel mehr war, 
als fie felbft. Diefe Verehrung vor dem eigenen 
Kinde, die in der Madonna, wenn fie dad Chrift- 
find anbetet, ihren reinften Ausdrud hat, findet 
man oft im Herzen der Mütter, wenn ihre Kin- 
der fich weit über fie hinaus emporgefchwungen 
haben. 

Sie ftand auf und machte fih im Zimmer 
zu thun, auch der Vater erhob fih. »Ich möchte 
heute einmal zu Bier gehen!« fagte er. 

Das war ein feltened Ereigniß, deflen Be- 
deutung Mutter und Sohn verftanden. »Bleibft 
Du noch hier?« fragte er den Sohn. 

»Noc eine Stunde Fann ich bleiben!« 


37 


»Und was thuft Du nachher? 

»Ich muß zu Heidenbruck gehen!« 

Während dieſer Worte hatte der Meifter vor 
dem Spiegel ſich das bunte Halsſtuch umgebunden, 
den langen blauen Rod und den Hut vom Na— 
gel genommen, fich angePleidet, Pfeife, Zabafs- 
beutel und Tabaksdoſe in die Taſche geftedt, 
den Reſt feines Kaffees auögetrunfen, und fchritt 
dann mit einem achtlofen »Adieu!« der Thür 
zu, in der ein ganz junges Mädchen ihm entge- 
gentrat. Er ließ dad Kind, denn ein Kind war 
Regina, troß ihrer frühen Größe, ohne es anzu- 
bliden, an fich vorübergehen. Er dachte zu leb- 
haft Daran, wie er ed den anderen Meiftern er- 
zählen werde, daß fein Sohn und der Sohn des 
Landforftmeiftere von Heidenbrud zu Entrepre- 

neuren der Studentenballe ernannt worden wären. 


Drittes Kapitel. 


Friedrich und die Mutter hätten Manches zu 
befprechen gehabt, aber die Ankunft des Mäp- 
hend machte ed unmöglich. 

„rau Meifterin! wir reifen nah Berlin!« 
tief dad Kind mit einer auffallend lieblichen 
Stimme und mit einem Ausdruf von Freude 
und Beftürzung, die dem fchönen Gefichte unges 
mein wohl ftanden. 

»MWarum nicht gar?« fagte die Meifterin. 

»Nein gewiß!« entgegnete Regina, »wir ha= 
ben einen Poften in Berlin befommen!« 

Friedrich, der fletd feinen Scherz mit Regina ° 
trieb, fragte: »Ald was ftellen fie Dich denn an? : 
als Fönigliche Plätterin oder ald Sängerin?« - 


“ U — . 





39 


Aber Regina war zu befchäftigt durch den 
Gedanken an die bevorftehende Reife, ald daß fie 
feine Nederei beachtet hätte. »Der Water wird 
Auffeher, wir befommen zwanzig Thaler monat: 
lich und große Zrinfgelder!« 

»Auffehber wovon ?« fragte Friedrich. 

»Bon einem Schloß, in dem Bilder find, 
ich weiß nicht, wie es heißt, ich habe den Na- 
men nur einmal gehört.« 

»Wann ift denn die Nachricht gefommen? « 

»Jetzt eben, Frau Meifterin, ald ich herging, 
und naͤchſten Fuͤnfſehnten follen wir fort, wir 
haben freie Poft!« 

»Alfo ſchon in vier Wochen,« fagte Friedrich, 
»denn heute ift der Achtzehnte!« 

Die Bemerkung machte die Kleine ernfthaft. 
»Dann haben Sie wieder MWäfche!« meinte fie 
und fah zur Meifterin mit den großen ſchwar— 
zen Augen empor, in bie fich ploͤtzlich Thraͤnen 
drängten. 

»Da wirft Du mir fehlen!« antwortete die 
Mutter. »Du wirft mir überhaupt fehlen !« 

Regina fing bitterlich zu weinen an. »Wo 


40 


werde ich bleiben unter al’ den Menſchen, wenn 
der Water bei den Bildern ift? Wenn nur die 
Mutter nicht todt wäre!« fchluchzte fie. 

Die Meifterin tröftete, daß es überall gute 
Herzen gabe, und daß ſich auch in Berlin Leute 
“ihrer annehmen werden; aber freilich mußte fie 
ſich im Innern fagen, daß nicht leicht Jemand an 
dem Mädchen fo treu handeln würde, als fie 
felbft, und ed war ihr ein Schmerz, die Kleine 
zu verlieren. 

Regina’s Mutter war als die Frau eined Unter- 
offizierd Baldig nad) Preußen gekommen, als Die 
legten Beſatzungstruppen Parid verlaffen hatten. 
Madmoifelle Reyne, die bübfche Näherin, hatte 
in der Heimath die ehrliche Liebe und die fchöne 
Geſtalt des Unteroffizierd mehr ald ausreichend 
für ihr Gtüd gefunden. Sie hatte genäht und 
gearbeitet nach wie vor, ihr anmuthiged Fran⸗ 
zöfich mit ihren Nachbarn geplaudert, fich gefreut, 
wenn ihr lieber Deutfcher fie in die Guinguette 
vor die Barriere führte, fi) von ihm herzen 
und kuͤſſen laſſen und es dabei nicht fonderlich 
gemerkt, daß er nur wenig franzöfich fprach, und 


41 


daß fie fih im Grunde kaum mit ihm ver- 
ftändigen konnte. Indeß dies forglofe Hinleben 
hatte eines Tages ein plößliches Ende genom- 
men, alö die Befagungstruppen Ordre zum Mar: 
ſchiren erhielten, der Unteroffizier feinen Zornifter 
vaden, und die junge Franzöfin nun ihrem lie: 
ben Deutſchen in feine Keimath folgen mußte, 
von der ihr Nichts befannt war, als daß man 
dort eine unverftändliche Sprache rede, und daß 
die große Armee des Kaiferd in dem Schnee bes 
Falten Zanded erfroren fei. Die Vorſtellungen ihres 
Mannes, daß fie nicht nach Rußland, fondern 
nach Preußen zu gehen hätten, vermochten ihre 
Thraͤnen nicht zu ftillen, ihre Angft nicht zu be— 
ruhigen. Sie war überzeugt, daß nur in ihrem 
Baterlande Menfchen ein menſchlich Dafein füh: 
ren koͤnnten; was jenfeit feiner Grenze lag, war 
ihr gleichgültig oder verächtlih. Sie nahm ſich 
nicht die Mühe, es Eennen, unterfcheiden zu ler- 
nen, und hatte auf alle VBorftelungen ihres Man- 
ned nur ein traurige: »Es ift nicht Sranfreich!« 
zu entgegnen. 

Und freilich war es nicht Frankreich, das Falte, 


42 


ernfte, arbeitövolle Land, in das fie ſich nach we— 
nig Monaten verfegt ſah. Ihr Körper litt von 
der ungewohnten Strenge des Klimas, die Spra= 
che blieb ihr fremd, felbft ald fie fie verftehen 
lernte, fremder noch die Sitten und die Men- 
fchen, aber fie beklagte fich darüber nicht. Der 
Unteroffizier that, was in feinen Kräften ſtand, 
ihr dad Leben leichter zu machen, dennoch mußte 
“er gewahren, daß die Zrifche ihrer Wangen, der 
helle, lachende Glanz ihrer Augen immer mehr 
erloſchen. Ihr älteftes in Frankreich gebornes 
Kind erlag dem erften Falten Winter; die Fleine 
Regina aber gedieh in ihrem nordifchen Vaters 
lande und war die größte Freude ihrer Eltern, 
als ein Unglüdsfall die Lage derfelben noch me 
fentlich veränderte. 

Ein Sturz mit dem Pferde machte den Un- 
teroffizier untauglich für den Dienft und er ward 
mit einem Wartegelde zur Ruhe gefebt, bid man 
einft eine Givilbedienung für ihn gefunden ha= 
ben würde. Bon dem geringen Einfommen des 
Snvaliden fonnte man nicht leben, und jest war 
ed, wo Liebe und Nothwendigfeit die Spann= 


Ka. . 


43; 


fraft der Pränfelnden Frau erwedten, wo bie 
praftifche Tchätigkeit der Franzöfin fich plößlich 
hulfreich und wirffam zu zeigen begann. Sie. 
fing an, fi) um Arbeit zu bemühen. Ihre Ge- 
fchicklichkeit im Nähen und im Wafchen ver: 
ſchaffte ihr bald eine größere Kundfchaft, als fie 
zu bedienen vermochte. Der Mann machte fich 
zum Copiſten, der Eleine Hausftand hielt fich 
tapfer aufrecht. Was Frau Baldig von den 
Frauen ihres Ranges entfernte, das feine Wefen 
der Franzöfin, machte fie den Damen ihrer Kunbd- 
fchaft nur beliebter. Das intereffante Geficht 
der Eränkelnden Frau, die fremde Sprache, das 
niedliche franzöfifche Geplauder ihres Kindes, das 
fie faft immer mit ſich führte, wenn fie ihrem 
Gefchäfte nachging, nahmen für fie ein; und wie 
der Reiche Alles zu benußen weiß, was die Ver— 
bältniffe deö Armen ihm zu bieten haben, fo 
ließen die Kunden von Frau Baldig die Fleine 
Regina zu ihren Kindern fommen, mit denen fie 
fpielend franzöfifch fprechen mußte. 

Dadurch verfeinerten fich die ohnehin zierli= 
chen Sitten der Kleinen nur noch mehr. Man 


44 


beſcherte ihr zum Weihnachtsfeſte manches Nuͤtz⸗ 
liche und Ueberfluͤſſige, man ſchenkte ihr die ab- 
gelegten Kleidungsſtuͤcke ihrer Spielgefährten, und 
da die Mutter das Alles mit gefchicter Hand zu 
verwenden wußte, ſah Reyne immer fo fchmud 
und ſtattlich aus, daß fie eher für eine Tochter 
jener reichen Familien gelten Fonnte, ald für ein 
Kind der arbeitenden Stände, in deren Mitte fie 
wohnte und zu denen fie gehörte. 

Die Nachbaröfinder ließen dad die arme Eleine 
Reyne entgelten, wenn fie fic) dann und wann 
in ihre Spiele mifchte. Sie nannten fie ſpot⸗ 
tend »das Fräulein, die franzöfifche Prinzeß«, fie 
verbarben ihr die Kleider, ahmten ihren franzöfi- 
fchen Dialekt wohl oder übel nad), und hatten auf 
jede Weife ihre Luft daran, fie zu plagen, bis fie 
fich erfchredt und böfe wieder von ihnen ent—⸗ 
fernte, um immer feltner zu ihnen zurüdzufehren. 
Shre Liebe für ihre vornehmen Spielgenoffen 
wuchs dadurch, und die Mutter, ebenfo unbeliebt 
unter ihres Gleichen, ald das Kind, hatte nur 
einen Gedanken, einen Wunfc), allmählich fo viel 
zu erwerben, daß fie einen kleinen Handel mit 


45 


feinen Näbereien eröffnen, dem Manne ein for= 
genfreied Alter, und ſich und ihrer Zochter ein 
Leben unter gebildeteren Menfchen fehaffen Eönnte, 
als ſich in ihrer jebigen Umgebung fanden. 

Nur in einem Haufe in der ganzen Nachbar: 
{haft hatte man ftetd die Fleine Reyne geliebt, 
fih an dem Wohlergehen der Familie erfreut und 
Sorge getragen um die immer ſchwaͤcher werdende 
Geſundheit der arbeitfamen Frau, denn der Tifch- 
lermeifter Brand hatte das Streben derfelben wohl 
begriffen. Die beiden Familien waren ſtets gute 
Nachbarn und einander hülfreich gemefen. Zum 
Dank für die Dienfte, welche die Meifterin ihr bei 
ihrer Ankunft bereitwillig erwiefen, hatte die Fran- 
zöfin mit Friebrich feine franzöfifchen Lektionen einge⸗ 
übt, und ihn in diefer Sprache mehr gefördert, als 
feine Lehrer im Gymnaſium. Er hatte dagegen die 
Pleinen Reyne gewartet, wenn die Mutter fich vom 
Haufe entfernen mußte, und er hatte das Kind 
geliebt denn er hatte keine Gefchmifter, aber die 
Mutter deffelben war ihm noch weittheuerer gemefen. 

Bon jeher hatte fie Freude gehabt an ber 
Srühreife des Knaben, an feiner Klugheit, 


46 


feiner Sanftheit, und je. mehr die fortfchreitende 
Bildung die Sitten ded Gymnaſiaſten verfeinerte, 
um fo werther war er ihr geworden. Sie liebte 
ihn, weil er begierig war ihre Mutterfprache zu 
lernen, weil er Zuft hatte, von Franfreich, von 
Paris zuhören. Ihm hatte fie unverhohlen von 
der nie erlofchenen Sehnfucht nach der Heimath, 
von ihrem Mipfallen. an ihrer Umgebung gefpro- 
chen. Er war ihr Troft in Tagen der Entmus 
thigung geweſen, er ward ihr ein jüngerer Bru⸗ 
der und ein Freund. 

Die glüdlichften Stunden feiner Kindheit 
hatte Friedrich mit dieſer Frau verlebt. Ihr 
franzöfifches Gebetbuch, die fchlechten Bilderchen 
von Paris, von feinen Straßen und Gebäuden, 
feinen berühmten Männern und Ereigniflen, hat- 
ten einen unwiberftehlichen Zauber für ihn ges 
habt. Er hatte nicht müde werden Fönnen, fie zu 
betrachten, die Unterfchriften zu leſen, die Erflä- 
rungen feiner Freundin zu hören. Und dieſe 
Luft war in ihm gewachſen, je mehr er den 
Louvre, die Zuilerien, dad Palaid Royal, den 
Greve-Plab ald Zeugen der größten Weltereig- 


41 


niffe hatte kennen lernen. Niemand in feinerganzen 
Umgebung hatte ihm jene Augenblicke aufhorchen⸗ 
der Begeifterung zu bereiten vermocht, deren er 
neben Frau Baldig genoflen, wenn fie ihm von 
Paris, von Frankreich erzählt, von der großen 
Nation, von den tapferen Soldaten, von Napo- 
leon, und wie fie ihn gefehen im grauen Rode, 
mit dem kleinen Hute, an der Spitze feiner flol- 
zen Garden. Sie war ihm täglich neu, Alles, 
mas zu ihr gehörte, ihr Eleines Zimmer mit den 
Vorhaͤngen von buntem Kattun, ihre faubere Art 
fich zu Heiden, ihre Sprache und ihr Behaben 
waren ihm lieb gewefen. Es hatte ihm wohlgethan, 
fich von ihr als Monsieur Frederic angerebet zu 
hören, obfchon fie ihn in guten Stunden mon 
enfant und Du zu nennen pflegte, mit einem 
orte, fie hatte in jener Zeit das Ideal, die 
Poeſie feined Lebens ausgemacht, und er hatte 
an ihr mit jener fchuldlofen, hingebenden Liebe 
gehangen, mit der die Seele des Knaben, des 
werdenden Sünglings fi) dem Guten und dem 
Schönen, dem Großen wie dem Fremdartigen 
zumwendet. 


48 





Friedrich war eben Student geworden, als 
ein Nervenfieber feine Freundin auf ein Kran- 
Eenlager warf, von dem fie nicht erftehen follte. 
Er und feine Mutter hatten dem niedergebeugten 
Manne in ihrer Pflege beigeftanden, Meifter 
Brand ihr den Sarg gemacht, fie Alle hatten fie 
zu Grabe begleitet und von der Stunde ab, Frau 
Brand Mutterftelle vertreten an der Fleinen, ver: 
waiſten Reyne. 


Eine große Veraͤnderung hatte mit dieſem 
Todesfalle in dem Leben des Kindes ſtattgefun⸗ 
en. Der Vater, der immer mehr in ſich ver: 
funfen war, und den die Nachbarn tieffinnig 
fhalten, obwohl er nur fehr traurig war, hatte 
es nie gebilligt, daB Reyne, wie er es nannte, 
über ihren Stand erzogen, daß ihr jenes franzoͤ⸗ 
ſiſche Weſen angeeignet wurde, durch daS ihre 
Mutter fich fremd in Preußen gefühlt. Er hatte 
immer dagegen geeifert, wenn man die Kleine 
nicht Regina nannte, er hatte die Spielbefuche in 
den reichen Familien nie gern gejehen, und ftets 
darauf gehalten, daß das Mädchen der Mutter, 


49 


foweit feine Eleinen Kräfte es gefiatteten, bei 
ihren Arbeiten behülflich gemwefen war. 

Jetzt nad) dem Tode der Frau Baldig fand 
er in Meifter Brand und deſſen Frau eine zu— 
flimmende Meinung, und er befchloß, das Kind 
zur Deutfchen zu erziehen. Die Kleine follte 
zwar dad Andenken ihrer Mutter ehren lernen 
im Gebet und Leben, aber fie follte ihr befon- 
deres Weſen vergefien, ein Mädchen werben, wie 
alle anderen Nachbarstöchter auch. 

Friedrich beklagte das. Es fchmerzte ihn, 
dag man das Kind feiner Mutter unähnlich zu 
machen, daß man ihre mwohlgemeinten und auch 
wohlbedachten Pläne zu vereiteln ſtrebte. Er 
fonnte ed fich nicht verfagen, die Kleine mit dem 
Namen zu rufen, mit dem die Mutter fie ges 
nannt, er konnte es nicht laſſen, dad Andenfen 
an biefelbe dem Kinde wach zu erhalten, indem 
er franzöfifch mit ihm ſprach. Er erbot fi, ihr 
Unterricht zu geben, er verfuchte feinen eigenen 
Bater fiir eine beffere Ausbildung des Mädchens 
zu gewinnen, um Baldig durch ihn Dazu bewe— 
gen zu laffen, aber vergeben3. 

Wandlungen I. 4 


50 


»Was für den Sohn des Armen ein Glud 
ift, das iſt ein Unglüd für ein armes Mädchen, _ 
hatte Meifter Brand ihm geantwortet. »Du 
kannſt es zu Etwas bringen in der Welt; aber 
Regina? — was foll aus der werden, wenn fie. 
was gelernt hat?« 

»Man brauchte fie nur nicht ihre Mutter: 
Sprache abfichtlicd vergeffen zu machen,« entgeg- 
nete Friedrih, »um ihr ald Bonne oder Gou⸗ 
vernante ein befjeres Loos und ein gutes Aus- 
fommen zu bereiten!« | 

»Ja, wenn fie häßlich wäre! Aber hübfch wie 
fie ift und Gouvernante! — Setze ihr nur folche 
Dinge in den Kopf und fieh zu, wie Du ed ver- 
antworten Fannft!« hatte der Vater gewarnt, und 
Friedrich, von dem eigenenZeben mehr und mehr 
in Anſpruch genommen, fortgezpgen durch feine 
neuen Studiengenoflen, hatte bald ſelbſt nicht 
mehr daran gedacht und Regina’d Zukunft nicht 
weiter beachtet. 

Jetzt, als fie weinend vor ihm fand, ald er 
fürchten mußte, das Kind feiner erften und lieb- 
ſten Freundin nicht wieberzufehen, kam ein 


51 


Schmerz über ihn und er fchalt fi, Regina fo 
fehr vernachläffigt zu haben. Er hatte fie wohl 
lieb gehabt, mit ihr gefcherzt und gegen alle Ver: 
bote franzsfifch mit ihr geplaudert, wenn er fie 
bei feinen Eltern gefunden, aber wie wenig war 
das gegen die Liebe und das Gute, welche Regi- 
na's Mutter ihm durch fo viele Sahre bewiefen ! 


Er betrachtete Regina, ald hätte er fie lange 
nicht gefehen, und warb faft mit Erftaunen ihre 
feltene Schönheit gewahr. Die Kraft des beut- 
fchen Vaters und die lebensvolle Natur der Fran- 
zöfin hatten fich in ihr vereinigt. Weit über 
ihre Jahre groß und Eräftig, konnte man die 
Zwölfiährige Faum noch ein Kind nennen, fo 
vorgefchritten war fie an Geift und Körper. 
Dürftigkeit und Reichthum, Weberfluß und Man 
gel üben öfters einen ähnlichen Einfluß auf die 
Kindheit. aus. Sie entwideln fie zeitig; aber 
wenn der Ueberfluß die Entfaltung des Geiftes 
und der Phantafie befördert, fo Eräftigen Noth 
und Mangel bäufig den Verſtand der Kinder 


und geben ihnen eine Einficht und eine Energie, 
4* 


52 


die ihrem Alter vorgeeilt, ihren Bebürfniffen an= 
gemeſſen find. 


Die zwölfjährige Regina verforgte bereits 
das ganze Hausweſen des Vaters nad) den Ans 
leitungen, die fie von Frau Brand erhielt; fie 
verftand feinen Stimmungen zu begegnen, ihn 
zu behandeln, ohne daß fie fich deffen felbft be- 
wußt war; und wie Friedrich einft als Knabe 
der Freund ihrer Mutter gemefen, fo befaß Re— 
gina, außer dem Vertrauen ihres Vaters, das 
Zutrauen von Frau Brand, die Beide mit ihr 
alle Angelegenheiten befprachen und beriethen. 


Haudhaltöforgen waren ed auch zunächft, 
welche Regina aus ihrer Zraurigfeit emporriffen. 
»Was wird nur mit unferen Sachen werden, 
Frau Brand?« fragte fie und trodnete fich. die 
Augen. »Es fol Alled bier bleiben, nur die 
Betten nicht, und wir follen einen großen Koffer 
mitnehmen, in den Alles eingepadt wird, was 
mitlommen foll.« 


»Wie fommt dad denn nach Berlin hin?« 
fragte Frau Brand, der jeder Ort außer dem 


53 


nächften Umkreiſe der Stadt in unerreichbarer 
Ferne zu liegen fchien. 

Regina wußte ed nicht, hatte aber fo viel 
Bedenken, fo viel Angft und fo viel Sorgen in 
ihrem armen kleinen Kopfe, fo viel verfchiedene 
Einfälle und Vorſtellungen, daß fi in ihnen 
Doch deutlich wieder die Natur eined Kindes 
verrieth, und endlich lief fie davon, den Vater 
zu fragen, ob fie ihre beiden Kaninchen wirklich 
zurüdlaffen müffe, wie Friedrich es behauptete. 

Als fie zur Thuͤre hinaus war, feßte Frau 
Brand fich mieder, ftüßte den Kopf auf den Arm 
und feufzte: »So geht’d in der Welt, der Menfch 
denkt und Gott lenkt! Daß fie mir das Kind 
fortnehmen müffen!- 

»Es thut mir auch leid!« fagte Friedrich. 

»Gerade darum, Friß!« meinte die Mutter. 
»Ich hatte mir immer ausgedacht, daß ich fie 
mir fo recht nach der Hand ziehen wollte, recht 
zur guten Wirthin! Und fie ift fo geſchickt! Was 
ihre Augen fehen, das koͤnnen ihre Hände ma— 
chen, gerade wie die Mutter. Es wäre die aller= 
befte Frau für Dich geworden! —« 


54 


»Fuͤr mich?« fragte Friedrich im Tone des 
höchften Erftaunend. »Wie kommen Sie dar- 
auf?« 

»Ein vornehmes Mädchen kannſt Du ja doch 
nicht heirathen!« 

»Aber ein gebildetes Mädchen !« 

»Der würden wir zu fchlecht fein, Fritz! und 
dad Fannft Du ja nicht zugeben. Wenn Du 
Dir eine Frau nimmft, der wir zu fchlecht wä- 
ren — der Water überlebte dad nicht, und es 
wäre auch mein Ende! Mir ging's an’d Herz, 
wenn Du von und abwendig wuͤrdeſt! Das 
Kind haben wir lieb, ed wird ein fchönes Maͤd⸗ 
chen werden und ein gutes, braves oben ein. 
Es wäre die befte Frau fir Dich geweſen!« 

Friedrich antwortete nicht. Die Mutter ver- 
fland dies Schweigen. 

»Regina ift Dir jebt zu fchlecht,« fagte fie, 
»und Du warft doch nicht zu tröften, wie ihre 
arme Mutter begraben wurde. War die denn 
gebildet?« 

„Ich war ed damals felbft noch nicht,« ent⸗ 
gegnete Friedrich. 


95 


»Ich glaube, Du hatteft damals ein befferes 
Herz, Fritz! ich fehe ed fchon lange und der Va- 
ter kann wohl Recht haben, die Vornehmheit 
macht die Menfchen nicht befler.« 

»Muß mich denn heute Alles quglen! Wie 
fommen Sie, grade Sie zu diefem Vorwurf, 
Mutter?« 

»Du bift nicht mehr Derfelbe, der Du gewe⸗ 
fen bift, Fritz! Wenn ich auch nicht gebildet bin, 
fo merk' ich's doch, denn ich hab’ ja Deine Blide 
verflanden und gewußt, was Du wollteft und 
was Dir fehlte, ald Du noch Feine Sylbe fpre- 
hen konnteſt. Du bift nicht mehr Derfelbe, ich 
fehe es wohl!« 

„Aber was bringt Sie zu diefem Vorwurf, 
liebe Mutter? grade Sie?« wiederholte Friedrich 
mit einem Zone, in dem feine ganze Liebe für 
fie ertönte. 

»Ach ja! Du liebft mich wohl,« fagte die 
Mutter, »ich verdiene das auch. Aber das ift 
auch Alles. Es ift Dir nicht mehr wohl zu 
Haufe, Du fommft nur fo, wie Mancher in die 
Kirche geht, weil man’d doch eben muß!« 


96 


»Liebe Mutter,« rief Friedrich und legte ſei— 
nen Arm um die Schulter der fißenden Frau, 
»ja ih komme, weil ich muß, weil ich wiſſen 
muß, wie Sie leben. Wenn ich einen Tag nicht 
bei Ihnen gvar, treibt ed mich her, nach Ihnen 
zu fragen, nach Ihnen zu fehen.« 

»Das iſt's grade,« fiel ihm die Mutter in’s 
Wort, »Du willſt fehen, wie es und geht, Du 
willft auch hören, ob der Water Arbeit hat, 
ob ich Verdruß mit ihm gehabt habe — das 
ift Alles wahr; aber wenn Du da bift, haft 
Du mir Nichts zu fagen. Es ift nicht mehr 
wie fonft!« 

»Gute Mutter! Das kommt daher, dab Sie 
die Dinge nicht Fennen, die Leute nicht, mit de—⸗ 
nen ich zu thun habe — « 

»Und was wir thun und was die Leute 
thun, mit denen wir zu fohaffen haben,« unter- 
brach fie ihn abermald, »das kuͤmmert Dich 
Nichts mehr !« 

Friedrich Eonnte ihr Nichts darauf entgegnen, 
er fühlte e8 nur zu tief, wie fehr fie Recht hatte. 
Mußte er doch fein ganzes Weſen herabſtimmen, 


57 


felbft feine Austrudsweife ändern, um den El— 
tern nicht in jedem Augenblide die Kluft fühlbar 
zu machen, welche fic) mehr und mehr zwifchen 
ihnen aufthat. Unfähig, die Mutter zu täufchen, 
verfuchte er ed, fie von diefem fchmerzlichen Ge: 
danken zu zerftreuen. »Sie lagen, ich hätte Ihnen 
Nichts mitzutheilen, liebe Mutter! und doch hätte 
ich Ihnen heute viel von der Wahl zu erzählen 
gehabt, hätten Sie's nur hören wollen !« 

»Ich habe wohl daran gedacht,“ entgegnete fie. 
»Du wirft einen ganz neuen Anzug dazu haben 
muͤſſen! Wird das nicht fchredliches Geld Eoften, 
Fritz ?« 

»Gewiß, aber ich haͤtte doch im Fruͤhjahr 
zum Examen einen Anzug noͤthig gehabt, und 
ein halb Jahr früher — « 

»MRuinirt ihn doch fchneller,« unterbrach die 
Mutter, »und gerade zum Tanzen, das ftaubt fo 
ſchrecklich!« 

Friedrich beruhigte ſie daruͤber, aber ſein 
Herz ward immer mehr zuſammengepreßt. Es 
war ihm, als verengten ſich die Waͤnde, als 
ſinke die Balkendecke auf ihn herab, als ſchrumpfe 


98 


er felbft zufammen. Er Eonnte ed nicht länger 
ertragen, er mußte fort. 


»Ich komme bald wieder!« rief er zerfireut, 


ohne gejagt zu haben, daß er gehen wolle. 
Dann gab er der Mutter eilig die Hand‘ und 
verließ die Stube. Frau Brand aber begleitete 
ihn bi8 zur Hausthür, denn ed war ihr eine 
Luft, dem ftattlichen Sohne nachzufehen, foweit 
ihr Auge ihn erreichen konnte. 

Als fie in der’ Thuͤre flanden, nahm fie ihn 
bei der Hand und hielt ihn zurüd, als hätte fie 
ihm noch Etwas mitzutheilen, und fchwieg den⸗ 
noch. Friedrich merkt ed. »Wollen fie mir Et- 
was fagen?« fragte er freundlid. »Haben Sie 
etwas auf dem Herzen, liebe Mutter?« 

»Nein, Fritz! Nichts, gar nicht& habe ich. 
Es fiel mir nur fo ein, wenn Du jest fo viel 


Ausgaben haft, wirft Du am Ende die Sterbe: . 


kaſſe nicht bezahlen Eönnen !« 

»Wie Eönnen Sie das denken!« rief er, und 
die Mutter entließ ihn mit freundlichen Worten, 
nun fie fich über diefen Punkt beruhigt wußte; 


denn nach mühevollem Leben fchidlich, ja für. 


| er 


59 


ihre Verhaͤltniſſe prächtig beerdigt zu werden, ift 
faft immer dad Verlangen der Armen, und die 
wöchentliche Beifteuer zur Beerdigungskaſſe ihnen 
eine Herzens- und eine Ehrenfache. 

»Er fol fih doch nicht zu fehämen haben, 
wenn er einmal nach dem Kirchhof hinter ung 
bergehen wird!« fagte Frau Brand, ſchloß die 
Hausthür und ging in die Stube zurüd. 


Viertes Kapitel, 


Schnellen Schrittes, als entfliehe er einem Ge⸗ 
fängniffe, tief aufathmend, als werfe er eine ſchwere 
Bürde von fih, eilte Friedrich die Eleine enge 
Straße entlang von dem Haufe feiner Eltern 
fort, und doch liebte er feine Eltern. 

Keine Woche war ihm feit Jahren vergangen, 
in der er nicht ähnliche Scenen, ähnliches Weh 
zu durchleben gehabt, aber immer wieder zerriß 
eö fein. Herz, immer wieder drüdte ihn der Zwie- 
fpalt diefer Verhältniffe nieder. Der Vater. be- 
neidete dem Sohne feine höhere Bildung, die 
Mutter fürchtete fie, und weder der harte Sinn 
des Einen, noch der befchränfte Sinn der Anderen 


61 


Gen jemals eine dauernde Verftändigung zwi- 
hen ihnen und dem Sohne voraudfehen. Die 
;ebe ber Eltern hatte ihm den höheren Lebens⸗ 
eg eröffnet, die Selbftfucht der Elternliebe fuͤrch⸗ 
te ihn auf diefem Wege zu verlieren. Vorwärts 
trieben von dem Drange feines Geiftes, von 
len Bedürfniffen feiner Bildung; zurüdgezogen 
yn denen, die ed winfchten ihn vorwärtöfchreiten 
ı feben, litt Friedrich's weiche Seele doppelt 
»wer Davon. 

Berftiimmt war er ein paar Straßen entlang 
»gangen, ohne eigentlich zu willen, wohin er 
olle, ald es ihm wieder einfiel, er habe Heiden- 
ud verfprochen, um fünf Uhr zu ihm zu fom- 
en, um einige Verabredungen mit ihm zu tref- 
n. Friedrich und Heidenbrud waren fich häufig 
‚gegnet, ohne fich näher getreten zu fein. Sie 
‚hörten verfchiedenen Verbindungen an, hatten 
»rfchiedene Umgangskreife und Friedrich’ zurüd- 
ıltendes Weſen hinderte ihn, fchnell und leicht 
zekanntſchaften zu machen. 

Als er fih dem Heidenbrud’fhen Haufe 
iherte, fah er ein paar Equipagen vor demfel- 


62 


ben halten. Das erfte Stodwerf war glänzend 
erleuchtet, das Licht fiel hellftrahlend durch die 
gefenkten Vorhänge auf die Straße herab. Er 
wollte nicht hineingehen und that ed dennoch; 
Heidenbrud follte ihn nicht unpünfktlich glauben 
dürfen. 

Er fragte den Portier nach dem Studivſus 
Heidenbrud. 

»Der Herr Baron find noch bei Tafel!« ent: 
gegnete dieſer abweifend. 

»So fagen Sie ihm, daß ich bier gemefen 
bin und ihn bitten laffe, morgen früh zu mir zu 
fommen; mein Name ift Brand!« 

»D verzeihen Sie!« rief der Portier plößlich 
fehr höflich geworden, »ich fol Herrn Brand er- 
fuchen, den Herrn Baron zu erwarten. — Wil⸗ 
beim, führen Sie den Herrn nad) des jungen 
Herrn Stube!« 

Ein Knabe, in derfelben Livree wie der Por- 
tier, erfchien und bat Friedrich, ihm zu folgen. 
Treppen und Flur waren erleuchtet, auf den wei- 
chen Teppichen fchritt man unhörbar hinauf. Im 
erften Stode vernahm man aus dem Speifefaale 


63 


— — — — — 


das heitere Gewirr verſchiedener Stimmen, durch 
die ein leiſes Klappern der Geraͤthe klang. Man 
geleitete ihn zur zweiten Etage, die niedriger und 
weniger hell erleuchtet war und oͤffnete ihm eine 
Thuͤre zur rechten Seite des Flurs. 

Er trat in ein maͤßig großes Zimmer. 
Eine Lampe brannte, den Bewohner erwartend, 
auf dem Tiſche. Friedrich ging auf und ab und 
betrachtete den Raum. Das weich gepolſterte 
Sopha, die geſtickten Kiſſen, der dicke Fußteppich 
und vollends ein Schlafrock von violettem Sam⸗ 
met mit hochgelber Seide gefuͤttert, der nachlaͤſſig 
uͤber die Sophalehne geworfen war, machten ihm 
einen Eindruck weibiſcher Verweichlichung; und 
doch kannte er Heidenbruck als eine tuͤchtige, 
maͤnnliche Natur. An der einen Wand ſtand 
eine Buͤcherſpinde, als Gegenſtuͤck an der anderen 
ein Waffenſchrank. Neben den Hiebern und Fecht⸗ 
handſchuhen hingen Hirfchfänger, aſiatiſche Dolche 
und ein Paar Piftolen von großer Schönheit. 
Der Degen, die Epaulettd und der Federhut des 
Landwehroffiziered lagen dazwiſchen. — Der 
Schreibiif war mit jenen überflüffigen Noth— 


64 


wendigfeiten ausgeftattet, deren Gebrauch Friedrich 
zum Theil räthfelhaft war; vor dem Spiegeltifch 
ftanden ein Handſchuhkaſten und Parfüms; und 
doch waren juriftifhe Bücher in folcher Weiſe 
auf dem Schreibtifche ausgebreitet, daB man 
jehen konnte, der Bewohner fei viel mit ihnen 
befchäftigt geweſen. 

Eine Weile unterhielt fich Friedrich mit dem 
Befehen diefer verfchiedenen Dinge. Ihre Man 
nigfaltigfeit und Schönheit reizten ihn, aber die 
Zufammenhäufung fo vieler Luruögegenftände er- 
regte ihm ein peinliches Gefühl, ein Mißbehagen, 
Das fich auf den Befiger überzutragen und durch 
das lange Warten fich mehr und mehr gegen die- 
fen zu wenden begann. Friedrich fand ed ruͤck⸗ 
fihtölos, er nannte es eine ariftofratifche Unver⸗ 
fhamtheit, Iemand in einer Stunde zu fich zu 
entbieten, in der man feiner Zeit nicht Herr 
ſei. Er dachte an die Worte feines Vaters: 
»Sie werden es Dir nicht vergeflen, daß Du des 
Tifchlerd Sohn bift,« und er fagte fih, Heiden- 
brud würde keinem Evelmanne eine folche Ges 
duldyrobe zuzumuthen wagen. Er wollte fie auch 


N 


65 


nicht Yänger beftehen und nahm eben feine Müße 
fih zu entfernen, ald er in dem untern Zimmer 
dad Rüden von Stühlen, das Hin= und Herge⸗ 
ben hörte, welche das Ende der Tafel bezeichneten. 
Nun mußte er eilen davonzukommen, follte Hei- 
denbrud ihn nicht mehr finden, wollte er ihm 
feine Rüdfichtölofigkeit begreiflich machen. 


Er wendete ſich zu geben, da oͤffnete fich die 
Thüre und Heidenbrud trat eilig ein. Mit großer 
Freundlichkeit reichte er Brand beide Hände zum 
Willkommen entgegen. »Wie gut ift ed, daß Du 
gewartet haft, Brand !« fagte er, »ich wußte Nichts 
von dem Diner, ald ich Dich zu kommen bat, 
und dachte nicht, Daß ed fo lange dauern würde. 
Nun fei mir aber herzlich willfommen !« 


Damit warf er den Schlafrod vom Sopha 
herunter, nöthigte Brand zum Sigen, holte eine 
Gigarrenkifte herbei und fuchte es feinem Gafte 
auf jede Weife behaglich zu machen. Friedrich 
empfand dies Wohlwollen und doch war ihm die 
Art und Weiſe Erich's nicht ſtudentiſch genug. 
Er hatte ihm fonft an dritten Orten befler gefal- 

Wandlungen. L 5 


66 


len, alö bier in feinem Haufe mit den Gewohn⸗ 
heiten des MWeltmannes. 

Die Unterhaltung wendete fich gleich den Bäl- 
len zu und Erich fagte: »Ich war fehr froh, 
daß fie Dich wählten, denn ich dachte, ed müffe 
und zufammenbringen und ich geftehe Dir, ich 
habe lange einen Zug zu Dir gehabt.« 

Friedrich war von diefer Sreimüthigfeit über: 
rafcht. Er hatte dafjelbe Gefühl gehegt, auch er 
hatte ftetS eine gewifle Neigung, ein Intereſſe 
für Heidenbrud gefühlt, aber er hatte dem rei- 
chen, vornehmen jungen Manne nie den erften 
Schritt entgegenthun mögen, hatte nicht gefehmei- 
chelt fcheinen wollen durch Erich’ hie und da 
verfuchte Annäherungen, und noch in diefer Stunde 
vermochte er ed nicht, ihm auözufprechen, dag 
er fein Empfinden theile. 

»Warum haft Du mich niemald aufgefucht?« 
fragte er Erich. 

»Ich habe es gethan, aber e& ſchien mir, als 
hätteft Du es nicht beachten wollen.« ° 

Der Zon, mit welchem er diefe Worte fprach, 
hatte eine fo kindliche Gutmüthigfeit bei aller 


N 





67 


männlichen Offenheit, daß Brand fich tief davon 
ergriffen fühlte. Erich fand plöglich feinem Her- 
jen nahe, feine gewohnte Zurüdhaltung ſchmolz 
vor dem warmen Strom ber fiebe, die den Grund: 
zug feined Wefend machte. Er mußte fich zu: 
fammennehmen, daß ihm die Thränen nicht in's 
Auge traten. Noch vor wenig Sekunden hatte 
er Heidenbrud eines unverfchämten Duͤnkels an- 
geklagt, und jebt nannte derfelbe Heidenbrud ſich 
ohne Hehl verfchmäht von ihm. 


Mit einer Leidenfchaftlichkeit, die Erich nicht 
verftehen Eonnte, weil ihm Friedrich’d Gedanken: 
gang verborgen war, ergriff diefer feine Hand. 
»Vergieb mir!« rief er aus; »ja, ich habe es ge: 
eben, daß Du mich fuchteft und ich habe es nicht 
beachten wollen!« 


Das Geficht des jungen Barons verbifterte 
fi, er z0g die Hand zurüd. »O! werde nicht 
ime an mir!« riefriedrich, »werde nicht irre an 
mir! Du wirft es begreifen, wenn du mich Eennft. 
Du denkſt nicht befier von mir, als ich von Dir! 
sh würde Dich gefucht, um Deine Freundfchaft 


68 


allein gerungen haben unter den Hunderten, 
mit denen wir leben, wärft Du —« 

Er hielt inne, Erich fah ihn befremdet an, 
»wäre ich?« wiederholte er — »Wärft Du arm 
gewefen und kein Edelmann!« rief Friedrich mit 
einer Anftrengung, die ihn erbleichen machte. 

Erich's Wangen loderten in heller Röthe auf 
und fanft und ftolz zugleich fagte er: »Das ift 
Fleiner, ald ich von Dir dachte!« 

»Ich weiß dad, Heidenbrud! aber ed giebt 
Beengungen, in denen man nicht groß werden, 
nicht wachfen kann. Laß uns heute nicht davon 
fprechen! Heute nicht! ich habe heute feinen gu= 
ten Tag gehabt, bis ich Dich fand!« 

Erich fah den Schatten des Leidens, den die : 
Erinnerung an die Scenen im Vaterhauſe über ’ 
Friedrich's Züge warf, und ehrte ihn fchweigend. ! 
Nach einer Paufe fagte er, indem er feinem Gaſte A 
die Hand bot. »Wir haben und gefunden und -? 
wollen einander nicht verloren gehen!« und ehe 
er die Worte noch beendet, hatte Friedrich ſich 
an feine Bruft geworfen. Erich drüdte ihn feſt 
an's Herz. Dann ließ er ihn los, fah ihm heiter JE 





5 Tr 


69 


ind Angeficht und fprach lachend: »Heute ift 
mir’8 gegangen, wie bem Saul, der audzog, fei- 
ned Vaters Efelin zu fuchen und dem ein König- 
reich zu Theil ward. Statt Ballangelegen- 
beiten zu berathen, finde und gewinne ich das 
Einzige, was mir außer einer Geliebten fehlte, 
einen erfehnten Freund! Aber Du bift Theolog, 
Du bift gewiß verlobt?« fragte er fcherzend. 

Friedrich verneinte ed. Darüber hatte der 
Andere eine große Freude, denn er behauptete, 
dag Liebe die rechte Sreundfchaft nicht neben ſich 
gedeihen laffe, »und ich bin eiferfüchtig,« fagte er. 

Die Unterhaltung nahm nun eine allgemeine 
Wendung ; die bevorftehenden Bälle, die Wahl 
der Chapeaur d’honneur wurden befprochen und 
doch tauchte immer wieder dazwifchen die Freude 
auf, welche die beiden Sunglinge an ihrer An- 
näherung empfanden. Bei Friedrich verrieth es 
bie und da ein leifes, faft fchüchtern zurüdgehal- 
tened Wort, während Erich fich voll dem Zuge 
feines Empfinden überließ und jugendlich froh 
mitten in den Gefprächen ausrief: »Ich freue 
mich, Daß Du viun bei mir bift!« 





70 


So fihwand die Beit dahin, die Uhr in Erich's 
Zimmer fchlug acht, ed war dieXheeflunde feiner 
Eltern. »Komm mit hinunter zu den Meinen,« 
bat er, »fie werden fich freuen, Dich zu fehen, 
und befuchen mußt Du fie ja doch, der Bälle 
wegen!« 

Sriedrich machte Einwendungen. Er meinte 
nicht im Ueberrock erfcheinen zu dürfen. Sein 
Freund wußte das zu widerlegen. »Der Sonntag 
ift unfer Familientag, es ift Abends Feine geladene 
Sefelfchaft da. Du findeft Doctor Bernhard 
und andere Freunde unferes Hauſes, aud) Larſſen 
pflegte ftetd zu kommen — aber freilich thut der 


eö niemald ohne Frack!« fügte er lächelnd hinzu. -- 
»Larflen?« fragte Friedrih im Zone Des. 


Zweifels. 


»Er war Zehrer in unferem Haufe und er ift; ' 


eine treue, ehrliche Haut. Wir halten viel auf:” 


ihn!« erklärte Heidenbrud, nahm Friedrich untert* 


den Arm und führte ihn in den Salon hinab. 


D% 


a 


Fünftes Kapitel, 


Auf dem Sopha an der Hauptwand faß die 
Baronin, eine hohe, würdige Geftalt; ihr gegen- 
über machte Gornelie, die zweite Tochter, den 
Thee. Sie war, obfehon nur fiebzehnjährig, 
groß wie ihre Mutter, aber nicht fo ſchoͤn, als 
diefe es in der Jugend gewefen fein mußte. Ihre 
Gefichtöformen waren zu mächtig auögeprägt, 
ihre Augenbrauen fehr ſtark für ein fo junges 
Mädchen und das reiche ſchwarze Haar gab ihr, 
bei ihrem ohnehin dunkeln Zeint, einen ernften, 
faft finfteren Ausdruck. 

Helene, die ältere Schwefter, lag auögeftredt 
in einem niedrigen Seflel vor dem Kamine, def- 


70 


So ſchwand die Zeit dahin, die Uhr in Eı 
Zimmer ſchlug acht, es war die Theeftunde fi 
Eltern. „Komm mit hinunter zu ben Mein 
bat er, »fie werben fich freuen, Dich zu fi 
und befuchen mußt Du fie ja doch, ber Q 
mwegen!« 

Friedrich machte Einwendungen. Er m 
nicht im Ueberrod erfcheinen zu dürfen. 1 
Freund wußte das zu widerlegen. »Der Son 
ift unfer Familientag, es ift Abends Feine gela 
Gefelfhaft da. Du findeft Doctor Bern 
und andere Freunde unferes Haufes, auch La 
pflegte ftetö zu kommen — aber freilich thu 
es niemals ohne Frad!« fügte er Lächelnd F 

»Larfien?« fragte Friedrich im Tone 
Zweifels. 

»Er war Lehrer in unferem Haufe und 
eine treue, ehrliche Haut, Wir halten) 
ihn!« erflärte Heidenbruck, 
den Arm und | 






73 


dem Weltgemohnten immer bei dem BBeginne 
einer Unterhaltung zu Gebote ftehen und die dem 
Reuling fo wohlthuend find; eine fpielende An: 
gelruthe für den, der fie auögiebt, ein haltender 
Hafen für den, der fie empfängt. 

Auch fühlte fich Friedrich gegen fein Erwar: 
ten ſchon nach wenig Xugenbliden von der Scheu 
befreit, mit welcher er in dieſen Kreis getreten 
war, denn er fand fich von einer Aufmerkfam- 
feit umgeben, die ihn in feinen eigenen Augen 
bob. Die Angelegenheit, welche ihn mit Erich 
zufammenführte, die Studentenbälle, erregten ber 
Familie des Lesteren um Erich's willen eine große 
Theilnahme, und die Ausfichten, welche die bei: 
den jungen Männer hatten, jene Fefte mehr oder 
weniger glänzend zu Stande zu bringen, wur: 
den von der Baronin und von Erich's Schwe: 
ſtern ernfthaft in Erwägung gezogen. Dadurd) 
lenkte fich die Unterhaltung dem Leben der Stu: 
direnden im Allgemeinen zu, und der Baron 
machte, gegen den Fremden gewendet, Die Bemer- 
tung, daß die Art der deutfchen Univerfitätsbil: 
dung und das Leben der deutfchen Studenten 


70 


So ſchwand die Zeit dahin, die Uhr in Erich’s 
Zimmer fehlug acht, ed war die Theeſtunde feiner 
Eltern. »Komm mit hinunter zu den Meinen,« 
bat er, »fie werden fich freuen, Dich zu fehen, 
und befuchen mußt Du fie ja doch, der Bälle 
wegen!« 

Sriedrich machte Einwendungen. Er meinte 
nicht im Ueberrod erfcheinen zu dürfen. Sein 
Freund wußte das zu widerlegen. »Der Sonntag 
ift unfer Familientag, ed ift Abends keine geladene 
Gefelfchaft da. Du findeft Doctor Bernhard . 
und andere Freunde unferes Haufes, aud) Larſſen : 
pflegte ftets zu kommen — aber freilich thut der . 
eö niemald ohne Frack!« fügte er lächelnd hinzu. { 
»Larflen?« fragte Friedrih im Tone des \ 
Zweifels. N 

»Er war Zehrer in unferem Haufe und er PR 
eine treue, ehrliche Haut. Wir halten viel auf: 
ihn!« erklärte Heidenbrud, nahm Friedrich unter 
den Arm und führte ihn in den Salon hinab. : 





75 


mit fo farkaftifchem Zone, daß Ale, mit Aus: 
nahme ber beiden Stubenten, zu laden be- 
gannen. | 

Erich und Friedrich aber fühlten fi), Jeder 
auf feine Weife, verlegt von dem Spotte des 
Grafen, und Friedrich bemerkte: »Es ift wenig: 
ſtens bis jebt Die einzige Inftitution in Deutfch- 
land, in welcher der Grundfa& einer volllomme: 
nen Gleichheit aller Stände vertreten und auf: 
recht erhalten wird.« Als er aber diefe Worte 
durch die Stille dieſes Saales tönen hörte, klan⸗ 
gen fie ihm wie ein Widerfpruch gegen die An- 
wefenden und fo fremd dem Orte, daß er meinte, 
ein Echo müffe fie von allen Wänden zunidtö- 
nen laſſen und wiederholen. 

Auch nahm der Graf, an den fie gerichtet 
waren, fie mit feinem früheren Lächeln auf. »Das 
Princip der Gleichheit,« wiederholte er, Die Worte 
wägend, und fie fcharf ald Etwas betonend, 
defien Tragweite man anzudeuten wünfcht. »Ia! 
es wird aufrecht erhalten, wie man es in einem 
Badeorte aufrecht erhält — — fo lange die Sai- 
fon dauert!« 


66 


len, als hier in feinem Haufe mit den Gewohn⸗ 
heiten des Weltmannes. 

Die Unterhaltung wendete fich gleich den Bäls 
len zu und Erich fagte: »Ich war fehr froh, 
daß fie Dich wählten, denn ich dachte, es müfle 
und zufammenbringen und ich geftehe Dir, ich 
habe lange einen Zug zu Dir gehabt.« 

Friedrich war von diefer Freimuͤthigkeit über- 
raſcht. Er hatte daffelbe Gefühl gehegt, auch er 
hatte ftet? eine gewifle Neigung, ein Intereſſe 
für Heidenbrud gefühlt, aber er hatte dem rei- 
chen, vornehmen jungen Manne nie den erften 
Schritt entgegenthun mögen, hatte nicht gefchmei- 
chelt fcheinen wollen durch Erich's hie und da 
verfuchte Annäherungen, und noch in diefer Stunde 
vermochte er es nicht, ihm auszuſprechen, daß 
er ſein Empfinden theile. 

»Warum haſt Du mich niemals aufgeſucht?« 
fragte er Erich. 

»Ich habe es gethan, aber es ſchien mir, als 
haͤtteſt Du es nicht beachten wollen.« 

Der Ton, mit welchem er dieſe Worte ſprach, 

eine ſo kindliche Gutmuͤthigkeit bei aller 


67 


männlichen Offenheit, daß Brand fich tief davon 
ergriffen fühlte. Erich fland plößlich feinem Her⸗ 
zen nabe, feine gewohnte Zurückhaltung ſchmolz 
vor dem warmen Strom der &iebe, die den Grund: 
zug feined Weſens machte. Er mußte ſich zu: 
fammennehmen, daß ihm die Thränen nicht in’ 
Auge traten. Noch vor wenig Sekunden hatte 
er Heidenbrud eines unverfchämten Dünfeld an⸗ 
geklagt, und jest nannte derfelbe Heidenbrud ſich 
ohne Kehl verfcehmäht von ihm. 


Mit einer Leidenfchaftlichkeit, die Erich nicht 
verftehen Eonnte, weil ihm Friedrich's Gedanken: 
gang verborgen war, ergriff diefer feine Hand. 
»Vergieb mir!« rief er aus; »ja, ich habe es ge: 
fehen, daß Du mich fuchteft und ich habe es nicht 
beachten mwollen!« 


Das Geficht des jungen Barons verdifterte 
fi), er 309 die Hand zurüd. »O! werde nicht 
irre an mir!« riefriedrich, »werde nicht irre an 
mir! Du wirft es begreifen, wenn du mich Eennft. 
Du denkt nicht beffer von mir, als ich von Dir! 
Ich würde Dich gefucht, um Deine Freundfchaft 


78 


Wendung brachte er das Gefpräc von den deuffchen 
Studenten auf die deutfche Literatur, auf ein Feld, 
in dem alle Anwefenden, felbft Erich und Friedrich, 
ihm überlegen fein mußten. Er wußte, wie leicht 
man Jemand gewinnen kann, der ſich und gegen- 
über behaglich und ald der Gebende empfindet. 
Für den Strafen befchränkte fich die deutſche Li⸗ 
teratur auf Klopfiod, Schiller und Goethe. Das 
Klopſtockſſche Deutſch war ihm, wie er offen ge 
ſtand, vollkommen unverftändlich und Klopſtock's 
religioͤſe Anfchauung dem Verehrer Voltaire's 
fremd. Schiller, den der Convent würdig geach⸗ 
tet, ein Mitglied der franzöfifchen Republid zu 
“fein, hatte von jeher ſchon um dieſes Grundes 
willen dad Mißtrauen des Grafen erregt, und 
der rüdfichtölofe Idealismus des Dichters, der 
über alle Convenienz hinaus den Gedanken freier 
Menfchlichfeit geltend machen wollte, mußte ihm 
als. eine unpraftifhe Schwärmerei erfcheinen, 
deren Einfluß auf die Jugend er für gefährlich 
hielt. Goethe allein von allen beutfchen Dichtern 
war ihm ein Gegenftand der Hochachtung. 

Mit einer ihm feltenen Wärme pried der 


79 


Graf den greifen Dichterfürften als den Dichter 
der Wirklichkeit, der die Wahrheit und die Schön- 
heit nicht jenfeitd der Grenzen der Vernunft er⸗ 
blide. »Was ihn fo erhaben macht und was 
zugleich fo wohlthuend, fo beruhigend in feinen 
Schriften wirkt,« fagte er, »das ift die Klarheit, 
mit der er ‚die Welt wie fie ift“ betrachtet, das 
richtige Licht, das er über die Gefege der Gefell- 
{haft verbreitet, in der für Jeden der Platz 
vorhanden iſt, den er einnehmen fan, wenn er 
eben nur den begehrt, den er auszufuͤllen beftimmt ift. 
Er ift der Dichter des Friedens und der Berfühnung, 
und es ift zweifellos, daß Sie die Weisheit Ihres 
größten Dichter den wuͤſten Erfahrungen ver: 
danken, welche unfere unglüdliche Revolution 
ihn machen ließ.« 

Trotz der Acht franzöfifhen Schlußfolgerung 
des Grafen, machte fein Lob Goethe's einen gu⸗ 
ten Eindrud auf den Baron, deſſen Anſchau⸗ 
ungsweiſe in Betreff der Goethe'ſchen Werke 
nahe mit der bed Grafen zufammentraf. Er 
ſtimmte ihm vollfommen bei, und erklärte, daß 
der Werther, der Wilhelm Meifter und die Wahl: 


80 


verwandtfchaften für alle Zeiten Mufterromane 
bleiben und vielleicht niemals ihres Gleichen fin⸗ 
den würden. 

»Fuͤr alle Zeiten?« wiederholte der Doctor 
im Tone des Zweifels, »es giebt Nichts in der 
Welt, das für alle Zeiten daſſelbe wäre!« 
Diefe Worte wurden mit jener Ruhe gefprochen, 
welche einen Hauptcharafterzug des Doctors 
machte, dennoch wirkten fie auf Friedrich wie ein 
Signal zur Befreiung, wie ein Aufruf zu einem 
Kampfe, an dem Xheil zu nehmen er tro&ß fei- 
ned Verlangens fich nicht befugt geglaubt hatte. 

»Alfo leugnen Sie, daß es in der Kunft ein 
Abfolutes giebt?« fragte der Baron. 

»Unbedenklich!« entgegnete der Doctor. »Das 
wirklich Große, das, was in feiner Beit allen 
Anfprüchen derfelben genügte, was ihren ganzen 
geiftigen Gehalt in fi) zur Anfchauung brachte, 
das wird, fei ed nun ein Werk der Malerei, ber 
Bildhauerkunſt oder der Dichtung, für alle Zei⸗ 
ten eine Bedeutung behalten; wir werden darauf 
fortbauen, e8 wird maßgebend, lehrreich, begei« 
fternd für uns bleiben, aber ein unbedingtes Mu⸗ 


81 


ſter, das ewig und allein Berechtigte kann es 
nicht fein. Das hieße den Zortfchritt der Menfch- 
beit leugnen !« 

Der Baron, der den Doctor fehr verehrte, 
ſchwieg einen Augenblid nachdenklich, dann fagte 
er: »Ich wäre begierig, den Dichter zu Eennen, 
der einft über Goethe hinausgehen wird. Wir 
werden Muße haben, denke ich, uns an Goethe's 
Werken zu erfreuen, ehe er fich findet!« 

»Er kann fich aber finden,« meinte Friebrich, 
»wenn ‘bie Menfchheit, im Allgemeinen freier ge⸗ 
worden fein wird, als fie ed war, da Goethe 
feine großen Werke fchuf!« 

Diefe lebhafte, jugendliche Behauptung flach fo 
auffallend gegen Friedrich’ bisherige Zurüdhal- 
tung ab, daß die Anderen ihn mit Erſtaunen an- 
bliften, während der Doctor ihm zuftimmend 
mit dem Kopfe winkte. Dadurch ermuthigt und 
von feinen Empfindungen hingeriffen, fuhr" er 
fort: »Bei aller Wahrheit des Wertherö, bed 
Meifters, der Wahlvermandfchaften, deren ganze 
Ziefe ich wohl nicht einmal ermeſſen Tann, weil 
mir die Kenntniß der Geſellſchaft fehlt, in der 

Wandlungen. I. 6 


82 


fie ſich bewegen, find fie doch eben nur das Bild 
dieſes Xheild der Gefellfchaft, einer Welt der 
Ausfchließlichkeit, ihrer Leiden und Freuden, und« 
— — fügte er plößlich flodend, dann aber fich 
mit einer ſcheuen Haft zum Sprechen zwingend 
hinzu — »und es giebt noch eine andere Welt 
hienieden außer diefer Einen!« — 

Friedrich litt von feinen eigenen Worten, 
während er fie fprach, und doch vermochte er fie 
nicht zurüdzubrängen. Er empfand ed, daß er 
plößlich der Gegenftand der allgemeinen: Auf: 
merkſamkeit geworden fei, und biefe Beachtung 
machte ihn verlegen. Die engen Verhältnifie, 
in denen er erwachfen war, hatten ihn vor Zerſplit⸗ 
terung feiner geiftigen Kräfte bewahrt, feinen Ge⸗ 
danken Zeit und Ruhe gegeben, fih aus ftiller 
Tiefe audzubreiten, ruhig fortzufchreiten von 
Schluß zu Schluß, bis er zu jenen Bliden und 
Zweifeln gefommen war, bie ihn dad Unhalt- 
bare der beftehenden flaatlihen und gefelligen 
Zuftände ım Gegenfage zu den natürlichen, bes 
rechtigten Forderungen des Menfchen ahnen lie⸗ 
fen. Jetzt indeffen, da er auf dem Punkte ftand, 


83 


diefe Ueberzeugung in einem Kreife auszufprechen, 
deſſen Vorrechte fie antaftete, erfchraf er vor dem 
Unternehmen. Die anerzogene Ehrerbietung vor 
den Reichen, den Vornehmen lähmte ihn. Eine 
dunkle Röthe flog über fein Geficht, aber ed war 
niht Scham, welche fie hervorgerufen, fondern 
der Zorn gegen fich felbft, der Zorn gegen bie 
Berhältniffe, welche ihm eine folche ſtlaviſche 
Befangenheit eingeimpft hatten. 

Der Doctor errieth den Zuftand, in welchem 
fi Friedrich befand, und Fam ihm theilnehmend 
zu Hülfe »Sie haben Reht, Herr Brand!« 
fagte er, »die Goethe'ſchen Romane haben darin 
ihre Schranfe, daß fie mehr oder weniger auf Die 
Abftraction vom Leben, auf den fchönen Schein 
des Lebens gearbeitet find. Sie verhalten ſich 
zur Wirklichkeit, wie die griechifchen Götterbilder 
zur menfchlichen Geftalt, wie Rafael’ typijche 
Menfchengeftalten zum individuellen Portrait.« 

»Sie werden aber zugeben, lieber Doctor,« 
fiel ihm der Baron in dad Wort, »daß diefe 
Behandlungsweife der WirklichFeit die edelfte und 
angemeflenfte, die eigentlich Elaffifche iſt, wie ja 

6* 


84 


auch Ihre Hindeutung auf die Antike und auf 
Rafael dies fchon zugiebt.« 

»Fuͤr eine beftimmte Klaffe von Romanen,« 
entgegnete der Doctor, »ift, oder war vielmehr, 
jene Darftelungsart nicht nur die berechtigte, 
fondern die geforderte; für den Roman der Bil- 
dungsleiden der bevorzugten Stände, um die fich 
dad Intereffe jener Zeit faft ausfchlieglich bewegte. 
Die Darftelungsweife der Goethe’fchen Romane 
ift ganz und gar ariftofratifh, und fie wird uns 
möglich, fobald man fich von den Leiden und 
Sreuden des MWohlhabenden, bes bevorzugten 
Menfhen, zur Bildungsgefhichte der Menfchen 
im Allgemeinen wendet, wie fie fich in den verfchie- 
denen Perfönlichkeiten der Stände darftellt, "welche 
noch andere als Seelenfämpfe zu beftehen haben.« 

„Aber glauben Sie, Herr Doctor!« fragte der 
Graf, »daß jene Kämpfe der niederen Stände um . 
ihr äußeres Dafein, daß jene alltäglichen Miferen 
überhaupt eine poetifche Behandlung zulaffen, 
die fi) über die Art der ffizzenhaften Beleuch⸗ 
tung erheben koͤnnte? Was Tönnen die Leiden 
eined armen Handwerkers, einer kleinen Näherin, 


85 


die mit der harten Wirklichfeit um ihr täglich 
Brot zu ringen haben, fur eine große, voetifche 
Bedeutung bieten? Goethe bat dad wohl ge⸗ 
fühlt, und deshalb, duͤnkt mid), die Behandlung 
von Motiven vermieden, welche einer Idealiſi⸗ 
rung, wie die Kunft fie erheifcht, nicht fähig 
waren. Im Kampfe um dad tägliche Leben 
liegt keine Schönheit, keine Poefie.« 


Ein Blick des Zornes leuchtete in Friedrich’s 
Augen, und mit fefler Stimme fagte er: »Die 
vornehme Welt, in der die Goethe'ſchen Romane 
ih bewegen, weiß freilich) von der Sorge um 
das tägliche Brot noch weniger, als die leicht- 
lebenden Götter Homer's, die denn doch das 
mühfelige Ringen des Erdgebornen wenigftens 
ihrer Theilnahme nicht für unwerth bielten.« 


Und während er das ſprach, begegneten ſich 
die Blide des Studenten und des Grafen mit 
einem Ausdrud der Abneigung, welche diefe bei: 
den durch ihr Alter und ihre Stellung fo weit 
getrennten Männer, feit dem erften Augenblice 
gegen einander empfunden hatten. Es mar etwas 


86 


Unvereinbared zwifchen Friedrich's unterbrüdtem 
Selbfigefühl und dem fcharf hervortretenden Hoch- 
muthe ded Grafen, und der fichtlihe Antheil, 
den die Baronin und ihre Töchter, trotz ihres 
Schweigend, an dem Jünglinge zu nehmen bes 
gannen, trug nicht dazu bei, ben Grafen gegen 
ben Sreimuth defjelben, den er al& eine unberech⸗ 
tigte Anmaßung tadelte, milder zu flimmen. 

Und wieder war ed der Doctor, ber die Ver: 
mittelung zwiſchen Friedrich's Morten und den 
Anfichten des Grafen übernahm. »Ich glaube, 
Ihr Irrthum, Herr Graf,« fagte er, »befteht da⸗ 
rin, daß Sie überfehen, wie die Stimmung und 
das Intereſſe unferer Zeit fich gerade den Leiden 
der Stände zuzumenden beginnt, welche Sie von 
demfelben auögefchloffen glauben. Damit aber 
ift die Aufgabe und die Bedeutung ded Romanes 
eine wefentlich verfchiedene geworben. Sobald 
der Roman fi) aus dem Bereich des befriedig- 
ten Bebürfniffes in den Bereich des zu befriedi- 
genden wendet, wird ber Roman des fchönen 
Sceind, die typifche Behandlung deſſelben, zu 
einer Unmöglicheit, ber Roman der harten 


87 


Wirklichkeit und der fcharfen Individualiſirung 
zur Nothwendigkeit.« 

»Es ift etwas Wahres darin,« pflichtete die 
Baronin, welche biß dahin eine ſtumme Zuhöres 
rin geblieben war, dem Doctor bei, »denn wir 
fehen in ben Goethe'ſchen Gompofitionen, wie 
fehr er es vermieden hat, dad Beburfnig an 
feine Helden und Figuren herantreten zu laffen, 
um die reine Atmofphäre vornehmer Ruhe zu 
erhalten, in ber fid) Alles und Jeder bewegt.« 

»Das kannft Du nicht fagen,« wendete der 
Baron ein. »Du findeft den Architekten, Du 
findeft Gärtner, Bauern, Schaufpieler, den Harf- 
ner und viele andere Geftalten in den Dichtun: 
gen, denen die Sorge um des Lebens Nothdurft 
nicht fremd geblieben ſein kann!« 

»Aber bei allen dieſen Menſchen iſt das Be⸗ 
duͤrfniß in dem Augenblicke, in dem wir ſie vor 
und handelnd erblicken, befriedigt, lieber Vater!« 
bemerkte Erich, der ſich zu den Anſichten des 
Doctors und ſeines neuen Freundes neigte. 

»Doch nicht bei den Schauſpielern und dem 
Harfner,« wendete der Baron ein. 


88 


»Gewiß nicht!« fagte der Doctor, »aber ges 
rade aus der Wahl diefer Geftalten können Sie 
fehen, wie Goethe es zu vermeiden wußte, Die 
Noth bitter erfcheinen zu laſſen. Jene Architel- 
ten, Bauern, Gärtner, deren Sie erwähnten, 
find, wie Erich richtig bemerkte, Alle wohlver- 
forgt im Dienfte großer Herren; der Harfner ift 
ein Geifteöfranfer, der flumpf geworden ift gegen 
die äußere Noth des Lebens, und die Schaufpier 
ler wiflen fih durch Schuldenmachhen und Nicht: 
bezahlen vor eigentlihem Mangel zu fcehügen.. 
So tief Goethe ald Menſch für die Noth feiner 
Mitmenfchen empfand, fo fehr er in feinem Amte 
ald Minifter ihr ſtets abzuhelfen fuchte, fo ent 
fhieden hat er die Welt der’ Dichtlunft in der 
Melt der fatten Bildung gefucht, und darin liegt 
fein Zufammenhang mit der romantifchen Schule, . 
die Anfchauung, welche ihn in gewiflem Sinne 
von den Beftrebungen der Nachwelt trennen 
koͤnnte.« 

Der Baron gab das, wenn auch mit Bedin⸗ 
gungen zu, und bie Baronin, welche ftetd einen 
auögleichenden und verfühnenden Abfchluß der 


89 


Unterhaltung herbeizuführen liebte, fagte: »Was 
Sie auch gegen die Goethe'ſchen Schöpfungen, 
als Mufterromane, einzuwenden haben, fo werden 
fie diefelben doch ald ewige Vorbilder eines Haf: 
fiihen Styls ftehen laſſen müfjen.« 

»Unbedenklich!« rief der Graf; und der Doc: 
tor fagte: »Diefer abftracte Elaffifhe Styl wird 
aber für den Roman eine Unmöglichkeit werden, 
“wenn wir anfangen, das allgemeine Leben zum 
Vorwurf ded Romans zu benugen. Die Har⸗ 
monie deö gleichmäßigen Styls, der hochgebilde- 
tn Sprechweife, wie wir ihr in allen Figuren 
Goethe's begegnen, hört auf, fobald der Ungebil- 
bete in den Kreis der Dichtung gezogen wird.« 

»Dadurh wird der Styl alfo buntfchedig 
werden,« meinte der Baron, »und einen unter: 
geordneten Ton annehmen müffen.« 

»Ja und nein!« fagte der Doctor. »Die 
Birklichkeit hat gegen das Ideal anfcheinend oft 
etwas Untergeordnete, die Sprechweife des Ar: 
beiterö, der Buͤrgersfrau etwas Unfchönes, wenn 
wir fie mit der glatten, durch Feine perfünliche 
Unart unterbrochenen "Schönheit des Goethefchen 


90 


Styls vergleichen, und doch wird man biefen nicht 
überall anwenden, jene nicht entbehren koͤnnen; 
aber ein ſtrenges Maßhalten wird die Buntfches 
digkeit und Kleinlichkeit, die Sie fürchten, leicht 
vermeiden laffen. Faßt der Dichter die Menfchen 
mit jener großen Anfchauung auf, mit welcher 
die Rafael, Tizian, Ban Dyk, Murillo ihre Por- 
traitö erfchufen, fo wird das Bild jebed Men 
fchen eine ewige Wahrheit und felbft dad fcheins 
bar Unbedeutende, Unfchöne bedeutend und erfreus 
lich; während das tägliche Leben uns überall 
Karikaturen bieten würde, wenn man Beinlich 
jede Art und Unart, jedes Fledchen und jebe 
Warze der Originale feftzuhalten fuchte.« 

»Diefe Dinge zugegeben,« meinte der Baron, 
»fo wird aber Ihr humaner Roman der Zukunft 
eine maßlofe Ausdehnung haben müffen, wenn 
er alle Stände in feinen Bereich ziehen will, und 
wir werben wieder zwölfbändige Werke wie die— 
alten englifchen erleben, wenn Sie fie nicht in 
zwei beftimmte Klaffen, in ariftofratifhe und 
Volksromane fcheiden wollen.« 

»Was ficher nothwendig fein wird, wenn ſie 


91 


altbar und in fich abgefchlofien, das heißt ein 
dunſtwerk fein follen,« fügte der Graf hinzu. 
»Keineöweged!« meinte der Doctor. »Im 
toman eine Trennung der Stände aufftellen, 
ie im 2eben immer mehr und mehr zu verban- 
en unfer Beftreben ift, wäre fein richtiger Grund⸗ 
itz, und die Länge eines Romans wird durch 
a3 Zufammenwirken ber Stände fo wenig bes 
ingt, ald feine fünftlerifche Einheit dadurch ge: 
indert. Beichäftigt fi der Roman, wie ed 
ine Aufgabe ift, mit der pfychologifchen Ent: 
iickelung einzelner Charaktere, fo ift dem Zufall 
der Spielraum in demfelben genommen. Er ift 
edingt durch den Charakter der Helden, und 
noͤgen dann auch, wie im Leben felbft, Perfonen 
er verfchiedenften Klaffen an den Helden heran 
:eten und zu feiner Bildung mitwirken, mag er 
ch in den entgegengefeßteften Sphären bewegen, 
em Roman wird in dem Raume eines foldyen 
zildungsproceſſes immer eine Schranke geſetzt 
in, die ihn vor übermäßiger Lange bewahrt. 
jefchäftigt der Roman fich aber mit Vorgängen, 
acht er die Entwidelung fpannender Ereigniffe 


92 


zu feiner Hauptaufgabe, fo finft er zur Erzaͤh⸗ 
lung herab, hat Beine innere Nothwendigkeit und 
ann fo unermeßbar werben, ald die Möglichkeit 
der Ereigniffe felbft.« 


Bei diefen Testen Worten des Doctord öffnete 
fih die Thür, und ein hellblondes, etwa fünf- 
zehnjähriged Mädchen trat, von einem drei Jahre 
jüngern Knaben gefolgt, in das Zimmer. 


„Meine Nichte!« fagte die Baronin, ald dad 
Mädchen an den Theetifch gekommen war und 
die ante umarmte. 


»Und ich!« fiel der Knabe ein, ald ob er es 
übel empfände, daß man ihn Feiner Beachmas 
werth zu halten ſcheine. 

Alle Anweſenden lachten über ihn, und De 
lene fland auf, nahm ihn mit feherzender Feier⸗ 
lichkeit bei der Hand und fagte zu Friedrich: 
„Mein Better Mafter Richard Windham!« In 
gleicher Weiſe ftellte fie ihn dem Doctor vor, 
und obfhon Richard, wie Die Anderen, darüber 
zu lachen begann, fo ließ er es doch gefcheben 
ohne, wie Kinder fonft pflegen, ungeduldig ober 


93 


verlegen dadurch zu werben. Er fchüttelte dem 
Grafen, der ihn nad Deutfchland gebracht hatte, 
freimüthig die Hand und bewegte fich in dem 
ihm neuen Kreife feiner Familie mit einer Unbe- 
fangenheit und Sicherheit, welche Friedrih an 
einem fo jungen Knaben. überrafchend waren. 


Helene, die fein Erftaunen bemerkte, fagte: 
Nicht wahr, Ihnen kommt diefer felbftändige 
Gentleman in der runden Jade auch fo komiſch 
vor, wie mir?« 


»„Mie kannſt Du ed Fomifch finden, fiel ihr 
Sornelie ind Wort, »daß ein Knabe fich unter 
günftigen Einflüffen fehneller und gefünder ents 
widelt, ald unter ungünftigen? Iſt Dir die 
Blume komiſch, die im Freien beffer gedeiht, als 
in der engen Stube? Ich wollte, ich wäre ein 
Knabe und mit zwölf Sahren fo felbftändig ges 
weſen, als Richard ift!« 


„Du! ja Du märft auch würdig gemefen, 

die Stelle Deiner Ahnfrau einzunehmen oder die 

| Mutter der Gracchen zu repräfentiren!« fcherzte 
| Helene und feßte, gegen Friedrich gewendet, hinzu: 


94 


»Sie müffen nämlich wiffen, daß meine Schwer 
fter die jebige Welt fehr erbäarmlich, die Männer 
fehr ſchwach und charakterlos findet, und nur an 
den Herven der Vorzeit noch eine Art von Wohl: 
gefallen hat.« 

Gornelie warf ihr einen ernften, faft ftrafen- 
den Blick zu, und Erich fagte: »Gornelie und 
Richard werden gute Freunde werden, wenn He: 
lene ihn nicht verdirbt!« 

Was nennft Du ihn verberben?« fragte Larſ⸗ 
fen. der gleich nach den Kindern erfchienen war, 
dem Baron und der Baronin feine Aufwartung . 
gemacht und fih nun zu ben jüngeren Haus: 
genoffen gefellt hatte 

»Verderben wird fie den Knaben, wenn fie 
ed ihm zum Bebürfniß macht, von ihrer weichen 
Liebe umgeben zu fein und ihr dafür Alles zu 
Willen zu thun.« 

»Diefem Verderben wird der Knabe nicht 
entgehen, da Männer ihm erliegen!« fagte ber 
Graf, und fo alltäglich Friedrich dieſe Schmeiche⸗ 
lei fand, nahm Helene fie doch mit einem freund 
lichen Lächeln, ald etwas ihr Mohlgefälliges auf. 


95 


Friedrich verargte ihr das. Die fchöne Helene 
fhien ihm einer anderen Huldigung werth, fehien 
ihm zu gut für dad Wortfpiel gefelliger Galan- 
terie, indeß es blieb ihm nicht lange Zeit, darüber 
nachzudenken, da der Doctor die Frage aufwarf, 
ob man ‚Helene heute nicht fingen hören werde? 

Sie erklärte fich bereit dazu, und Larffen, 
der mit Selbftgenügen vor Friedrich die Rechte 
eined alten Bekannten der Familie geltend machte, 
öffnete den Flügel, holte aus dem Nebenzimmer 
vom Schreibtifch der Baronin die Leuchter her: 
bei und richtete Alles für den Gefang ein, wor: 
auf er fih, mit mehr Nachläffigkeit, als er fich 
fonft zu geftatten pflegte, in einen der Seffel am 
Kamine warf, und Friedrid nöthigte, ſich neben 
ihm niederzulaffen, was diefer ablehnte, weil er 
Helenens Geficht von diefem Plage nicht vor fich 
gefehen haben würbe. 

Scherzend feßte fie fih zum Flügel nieder, 
griff präludirend ein paar Akkorde und ging dann 
zur Melodie eines damals noch neuen Liedes von 
Fanny Henfel über, dad mit begeifterter Sehn- 
fucht die Reize Italiens feierte. Es lautete: 


96 


»Schöner und fchöner fhmüdt fi der Plan, 
Schmeidhelnde Lüfte wehen mich an u. f. w. 


und wie ed in feiner Schilderung des Suͤdens 
immer jubelnder wurde, fo durchleuchtete eine 
wahrhaft füdliche Gluth, ein hinfchmelzendes Feuer 
die Züge und die Stimme Helenend, bis aus 
dem Entzüden über die Schönheit der Natur 
plöglich ein unterbrüdtes Weh in dem Schmer- 
zensrufe verzagender Sehnfucht emportönte: 


»O fo verſuch' es Ehen der Luft, 
Ehne die Wogen, die Wogen auch diefer Bruft! « 


Ein lauter Beifal ſcholl ihr von den Zuhoͤ⸗ 
rern entgegen, fie beachtete ihn nicht. Ihr Ge- 
fiht war fehwermüthig geworden, ihr Auge ſah 
ernfthaft umher, bis ed auf Friedrich fiel, der in 
ihre Anfchauen verfunfen war. Ihre Blide tra= 
fen fich ſchnell und flüchtig, um ſich ebenfo ſchnell 
von einander abzuwenden, und Helene begann 
eines jener traurigen Lieder von Berger, in des . 
nen er Meifter ift, das Lied vom blauen Veilchen, 
Das der Liebende der geftorbenen Geliebten in 


97 


das Grab fentt, zur Erinnerung an ihren Beil: 
chenkranz beim erflen gemeinfamen Tanze im 
Grünen. 


Zriedrich kannte die Compofition, er hatte fie 
oft fingen hören, aber niemald mit der Gefühle: 
innigkeit, die Helene hineinzulegen wußte. Seine 
Augen fchwammen in Thränen. Er dachte an 
dad Begräbniß feiner Iugendfreundin, an das 
tiefe Weh feined armen Knabenherzend, und die 
unbeftimmte geftaltlofe Ahnung einer viel größeren 
Liebe, eined viel tieferen Verluſtes zitterte in fei- 
nem Herzen. Er mußte fich von feinen Phan= 
tafteen gemwaltfam logreißen, als er gewahr wurde, 
daß die Gruppe am Flügel fich aufgelöft, die Ge— 
fellfchaft fi) wieder um den Theetiſch verfammelt, 
und das Gefpräc fich auf Gegenftände der pla= 
ſtiſchen Kunft in Italien, Frankreich und Spa— 
nien gewendet hatte. Dabei kamen Keifeerinne= 
tungen und dad Andenken an befreundete Perfonen 
jwifchen dem Grafen und der Heidenbrud’fchen 
Samilie zur Sprache, denn auch Erich und feine 
Schweftern hatten fchon bedeutende Heilen ge= 

Wandlungen 1. 


98 


macht und waren in fremden Ländern durch 
eigene Anfchauungen wohl zu Haufe. 

So ſchwand nody eine Stunde hin, bi8 bie 
Säfte aufbrachen. Was man bei'm Abfchiede ge= 
forochen, welche Verabredung Erich mit ihm ge= 
nommen, hätte Friedrich in dem Augenblide nicht 
zu fagen vermodht. Er erinnerte fich erft am 
folgenden Tage, da er die Erfchütterung über 
wunden, in welche Helenend Gefang feine mufila- 
lifche Natur verfentt, dag man ihn zu baldiger 
Wiederkehr gar freundlich eingeladen hatte. 

Wie bezaubert fam er aus dem Haufe auf die 
Straße. Larfjen nahm feinen Arm und ging ein paar 
Minuten fhweigend neben ihm her, bis Friedrich, 
von der Nachtkühle erfrifcht, tief aufathmete und 
fih hoch emporrichtete, als ob er wieder Herr 
über fich felbft zu werben wünfchte. 

»Nun,« rief Larffen, den Moment benugend, 
»wie haben fie Dir gefallen?« 

»Mer?« fragte Friedrich, immer noch zerftreut. 

»Die Mäpchen!« entgegnete Larſſen mit jener 
felbfigefälligen Vertraulichkeit, welche Friedrich 
ihon im Saale fo mißfällig gewelen war. »Ich 


99 







denke, man kann zufrieden fein mit der Erzie- 
bung! Aber fie und die Alten erkennen ed mir 
auch an. Du hafl’s ja gefehen, ich bin noch heute 
wie zu Haufe unter ihnen! Ich kann mich ges 
ben laflen, wie ich eben will.« Es lag etwas 
Wahres in diefer Behauptung Larſſen's, und doch 
beneidete ihm Friedrich fein Verhältniß zu der 
Heidenbrud’fchen Familie keinesweges. So wenig 
Welt: und Menfchenkenntniß er befaß, fühlte er 
dennoch, daß die Freiheit, welche Iener ſich neh- 
men durfte, die Zutraulichfeit, welche man ihm 
bewies, nicht auf das Gefühl der Gleichberechti- 
gung begründet, fondern ein Zugeſtaͤndniß für 
einen Menfchen wären, für den man ed unmög- 
lich hielt, jemals eine volle Gleichberechtigung 
zu beanfpruchen. Larſſen war Friedrich begnadigt, 
nicht berechtigt erfchienen neben feinen ehemaligen 
Schülerinnen, und er beklagte ihn deshalb in 
feinem Inneren, während Sener, volltommen mit 
ſich zufrieden, alfo fortfuhr: 
»&8 find fonderbar geartete Naturen, dieſe 
Mädchen. Beide idealiftifh, Beide dem Ge: 
wöhnlichen feind, Helene aus Liebebedürfnig, Cor: 


mu 
m) 


100 


nelie aus Verſtand und Herzenögüte. Helenens 
Phantafie trägt fie weit hinaus über die Been⸗ 
gung des conventionellen Zebens, in dem fie er- 
wacfen if. Sie glaubt an ein Ideal von Liebes- 
glüd und möchte dies erreichen, während Corne- 
lie von Kindheit an fich fEeptifch verhalten hat 
gegen Alles, was fie umgab, und von geläutet- 
ten Weltzuftänden phantafirte, in denen es Feine 
Noth und Fein Elend geben follte. Helene mollte 
immer einen Feenprinzen heirathen und überirs 
difch glüdlich werden, Cornelie eine Fee fein und 
alle Armen glüdlich machen. Ich habe viel Noth 
mit ihnen gehabt, bis ich fie zur Wirklichkeit ge= 
wöhnte.« 


»Und ift Dir das gelungen?« fragte Friedrich 
mit reger Sheilnahme. 


„Allerdings! Es ſteckt zwar in Beiden noch 
die eigene Richtung, die ja dem Menfchen ange- 
boren ift wie fein Blut und feine Haut, aber 
fie haben gelernt fi in die Welt zu fügen und 
vom 2eben Feine Ideale zu verlangen. Es find 
eben vernünftige Frauenzimmer geworden, und 


101 


die Enge Mutter wird für fie auch bie richtigen 
Lebenöwege bahnen. Ach fehe das im Werben!« 

Friedrich hätte fragen mögen, was Larffen 
werben fähe, da hatten fie aber die Wohnung 
des Lebteren erreicht und trennten ſich für ven 
Abend. 


Sehstes Kapitel. 


— — — — 


Erſt tief in der Nacht hatte Friedrich den 
Schlaf gefunden. Als er am Morgen erwachte 
und die matte Herbſtſonne auf die grauen Waͤnde 
feiner Stube fiel, das Buͤcherbrett, den Arbeits: 
tifch und fein Lager zu beleuchten, Fam eine tiefe 
Niedergefchlagenheit über ihn. Entbehrung und 
Sorge waren ihm vertraut gewefen von feiner 
Kindheit an, er hatte jeßt weniger davon zu lei- 
den, als in manch früheren Tagen, die Ausficht 
auf reichlicheren Lebenserwerb trat ihm immer 
näher, und doch kam er fich heute armer vor ale 
fonft, hoffnungslofer, als er es noch je gewefen. 
Mas konnte aus einem Leben werben, welche 


103 


Blüthen konnte ed treiben, das eines reichlich 
nährenden Bodens, einer fehnell und warm rei- 
fenden Sonne entbehrte, das, durch Nichts be- 
günftigt, Alles aus fich felbft erzeugen mußte? 

Sein Fleiß, feine Luft an willenfchaftlichem 
Beftreben däuchten ihm thöricht,, feine Kenntniffe 
nichtig. Die erftrebte Gelehrfamkeit erfchien ihm 
todt und reizlos neben der Fülle von Leben, welche 
die glüdlichen Ariſtokraten genoffen hatten. Er 
hatte Reichthbum und Bildung, bevorzugte Ver- 
hältniffe und die aus ihnen hervorgehende edle 
Einfachheit des Benehmend nie in folcher Weife 
vereint gefehen, als in der Familie feined neuen 
Freundes. Was ihn tm Einzelnen angezogen 
und abgeftoßen, ihm bald beneidendwerth, bald 
geringfügig gebäucht hatte, Rang, Beſitz, Bil 
dung der äußeren Form, Kunft und Luxus, das 
Alled war ihm geftern in einem Bilde allgemei- 
ner Schönheit, harmonifcher Entwidlung erfchie- 
nen, von dem er fich unfähig fühlte, das Auge 
abzuwenden, obfchon das Anfchauen ihm zum 
Schmerze wurde, wenn er auf fi und fein Ge- 
ſchick zurüdblidte. 


104 


»Leben! Leben!« rief er. »Sich zur Schön: 
S heit entfalten in gleichmäßiger Ausbildung aller 
Kräftel«e — Uber hatte das nicht auch Larſſen 
gewollt? Und wohin hatte. es ihn gebraht? Wo— 
bin konnte es Friedrich führen, dem nicht die 
Mittel zu Gebote ftanden, über welche Sener einft 
hatte verfügen koͤnnen? Ein flummer Schmerz, 
der fih nicht zur Entfagung zu geflalten ver- 
mochte, bemächtigte fich feiner. Er zürnte der 
Vorſehung, die ihn mit hochftrebender Seele. in 
Niedrigkeit geboren werden ließ, und der Tag, 
der vor ihm lag, flößte ihm in feiner Entmuthi⸗ 
gung ein Grauen ein. Er war niedergefchlagen 
bis zum Lebensüberdruffe, weil er ein paar Stun- 
den Glüdes genoffen hatte. 

Da kam die treue, fo oft verfpottete Gefähr- 
tin unfereö Lebens, die Gewohnheit, ihm zu Hülfe. 
Der Schlag der Thurmuhr fehredite ihn .erlöfend 
aus feiner Berzagtheit empor. Ed war halb 
neun Uhr, um neun begann dad Collegium, 
und fo gering er noch vor wenig Minuten bie 
Wiffenfchaft im Wergleih zum Leben geachtet 
hatte, würde er es fich nicht verziehen haben, das 


105 


Collegium zu verfäumen; aber diefer Tag und 
viele andere Tage fchwanden dahin, ehe er das 
Gleichgewicht feiner Seele wieberzufinden, und 
fih zu einem Kampfe mit den Berhältniffen zu 
rüften vermochte, aus dem er fich gelobte, als 
Sieger hervorzugehen. Die Jugend hat dad Vor- 
recht, an die Erfüllung ihrer idealen Wünfche zu 
glauben, darin liegt ihre Kraft und ihr Süd, 
und wer ein Ideal im Herzen trägt, nach deffen 
Erlangung er trachtet, hat an demielben einen 
mächtigen Bundeögenofjen gewonnen. - 

Was Friedrich bisher ald Ziel angefehen, die 
Erwerbung von Kenntniffen, die Erlangung eines 
Amtes, das duͤnkten ihm plößli nur Mittel für 
feine Zwecke zu fein. Er blidte weit über das 
friedliche Afyl eines Pfarrhaufes in die Welt hin- 
aus, die fich vor ihm erfchloffen hatte. Die ge- 
felligen Genüffe, welche ihm als Unternehmer ver 
Bälle zu Theil werden mußten, und die er noch 
vor wenig Sagen fo hoch angefchlagen hatte, daß 
er fie al eine dauernde Erinnerung zu ermer- 
ben gewünfcht, ſchienen ihm jest fo gleichgültig, 
daß er von der ganzen Ballunternehmung zurüd- 


106 


getreten fein würde, hätte nicht die Luft an dem 
Zufammenwirfen mit dem Freunde ihn daran 
feftgehalten. 

Auch machte der Umgang deſſelben fich bald 
wohlthuend auf Friedrich geltend. Um zwei Jahre 
älter alö Diefer, durch frühe Reifen, weiten Men- 
fchenverfehr und einen gewählten Umgang in feis 
nem Baterhaufe vielfeitig gebildet, mit dem wirf- 
lichen eben vertraut und durch feine glüdlichen 
Verhältniffe vor den harten Berührungen deſſel⸗ 
ben bewahrt, hatte er fich zu einem über feine 
Jahre weltgewandten Menfchen entwidelt, ohne daß 
er die Gefühldwärme und Begeifterung der Ju⸗ 
gend darüber eingebüßt. Er war fich deutlich 
der Vorzüge bewußt, welche Rang und Reich: 
thum feines Water ihm verliehen, er verftand 
fie für fih zu nußen, aber er brauchte fie faft 
ebenfo gern, Anderen Damit förderlich zu fein, ald - 
fich ſelbſt. Sein weiches Herz machte ihn theil- 
nehmend für fremdes Leid, eine Luft zu eingrei- 
fendem Handeln, ihn geneigt, dad Schickſal ber- 
jenigen lenken und beffern zu wollen, bie feine 
&heilnahme gewonnen, und er fcheute nicht leicht 


107 

ein perfönliches Opfer für folche Zwede. Aber 
dieſelbe Herzensweiche, welche ihn für Andere thä- 
tig fein ließ, machte ihn auch empfindlic und 
fheu vor unangenehmen Berührungen, fo daß 
Zurüdhaltung und Wohlwollen, abweifende Kälte 
und großmüthiges Entgegentommen, verftändige 
Ueberlegung und Handeln nach augenblidlichen 
Empfindungen in ihm wechfelten, und feine näch- 
ften Bekannten ihn fchäßten und liebten, wäh- 
rend Fremde ihn oft für hochmüthig und launen- 
haft zu halten berechtigt waren. 

Zu feinem Freunde hatten ihn die beften Sei: 
ten feines Wefens hingezogen. Friedrich's geift- 
volles Geſicht war ihm in einem Collegium über 
neuere Literatur aufgefallen, ein Ausdrud von 
Schwermuth oder Leiden ihm anziehend gewor- 
den, und Alles, was er durch Dritte von ihm 
erfahren, hatte Dazu gedient, diefe Zheilnahme zu 
erhöhen, welche er auch feinen Eltern für ihn ein- 
zuflößen wußte, fo daß der junge Theologe bald 
ein gern gefehener Saft des Heidenbrud’fchen 
Hauſes wurde. | 

Drei Wochen mochten vorüber fein, der Win- 


108 


ter war im Anzuge und die Zeit gekommen, in 
welcher Regina Königöberg verlaffen follte. Frie- 
drich hatte ihrer wohl gedacht, aber fie nur 
felten wieder gefehen, als er von feiner Mutter 
erfuhr, daß am folgenden Tage der Hausrath 
des Unterofficierd verfteigert werden würde. Er 
erfchraE vor diefem Gedanken, obfchon er feit 
Wochen davon fprechen hören und viele Berathun- 
gen über die Auction in feiner Gegenwart ver- 
handelt worden waren. Es fehmerzte ihn, als 
fole ihm ein Stüd feines Lebens, ein Theil fei- 
ner Erinnerungen entriffen werden. 

Im Dämmerlichte ging er in die Fleine Woh- 
nung hinüber, Die er lange nicht betreten hatte. 
Der Unterofficier war zu dem Fuhrherrn gegangen, 
der die Beforgung der wenigen Sachen übernom- 
men hatte, welche den Scheidenden in die neue 
Heimath folgen follten. Regina war allein zu 
Haufe. Ein Kaften und ein Bettſack landen 
gepadt im Flur, im Zimmer brannte die kleine 
Dellampe, bei deren Schein Friedrich fo oft ne= 
ben feiner Freundin gefeffen. An dem Nähpulte, 
an dem er die Mutter fonft täglich arbeiten ge= 


109 


eben, faß jest Regina. Als er eintrat und fie 
u ihm emporblidte, trafen ihre Augen ihn tief 
is in's Herz. Sie hatten denfelben Ausdrud von 
grauer, der ihn fo feft an die Mutter gekettet 
atte.e Wie mit einem Bauberfchlage erwachte 
ie geliebte Vergangenheit in feinem Geifte, ihm 
iefen Augenblid noch fehmerzlicher zu machen. 
Bon den Fenftern waren die Vorhänge, von den 
Banden die Bilder abgenommen, die er fo oft 
etrachtet, die ihm in dieſer Stunde höheren 
Berth zu haben ſchienen, als alle Kunſtwerke ver 
Belt. Das Bett, in dem Frau Baltig geftor- 
ven, war leer, der Hausrath aus dem Glasſchrank 
verfcehwunden, es fah fo Eahl, fo dürftig aus, und 
nitten in dem kahlen Raume faß das ftille, ein- 
ame Kind. 
»Du arme Regina!« rief er aus. 

»Ach ja!« entgegnete die Kleine feufzend, und 
Beide fchwiegen dann wieder. Friedrich ging im 
Zimmer umber, dann feßte er fih zu dem 
Mädchen. 

»Was nähft Du?« fragte er, wie man ges 
vöhnlich die gleichgültigften Fragen thut, wenn 


110 


man recht viel und recht Schweres auf dem Her: 
zen hat. 

„Einen Pompadour zur Reiſe!« antwortete 
Regina. | 

Er blickte auf ihre Arbeit. »War das nicht 
ein Kleid von der Mutter?« fragte er; die Kleine 
nickte bejahend , und wieder entfland eine Stille, 
bis er zu wiſſen begehrte, wann fie abreifen 
würden. 

»Weber übermorgen!« 

»Und wo werdet Ihr bleiben, wenn morgen 
Eure Sachen verkauft find?« 

»Bei Deiner Mutter! Wir fchlafen heute zum 
lebten Male hier.« 

Der Ton, mit dem fie fprach, war voll tie= 
fem Leiden, aber fie weinte nicht mehr und nähte - 
während des Sprechens ruhig fort. Des Juͤng⸗ 
linge Auge folgte jeder ihrer Mienen, während 
er nach dem Ausdruck für fein Empfinden fuchte. 
Endlich legte er feinen Arm um ihren Hald und 
fagte: »Wir fißen hier auch zum legten Male 
zufammen, und ich werde Dich vielleicht nicht 
mehr allein wiederfehen, Regina! Du weißt, wie 


111 


eb ich die Mutter gehabt habe und wie gut fie 
ı mir gewefen ift, bleibe Du mir alfo auch gut 
nd wenn — —« 

Da warf fich Regina laut weinend an feine 
Zruft, umflammerte ihn angſtvoll und brach 
Hiuchzend in die Worte aus: »Sag’ Deiner 
Nutter, ich will bei ihr bleiben!« 

Es war ein bitterer Schmerz für Friebrich, 
yr diefen Wunſch nicht gewähren zu Tonnen; 
{bft kaum fähig, ſeine Thraͤnen zu unterdrüden, 
ıchte er das Mädchen zu tröften. »Es wird 
ine Zeit fommen,« fagte er, »in der ich Dir. ver- 
elten fann, was Deine Mutter mir geweſen ift. 
sch werde Dich nicht vergeffen, vergiß Du mic 
uch nit, und wenn Du Dir einmal nicht zu 
‚elfen weißt im Leben, fo fag es mir!« 

»Und dann wirft Du fommen?« fragte die 
tleine. 

»Ja! gemwiß!« 

»Und Du wirft mir auch helfen? 

»So gut ich irgend kann!« Da fah fie ihn 
eft an, gab ihm die Hand, fiel ihm nochmalö 
ım den Hals und fehien des Weinens und der 


112 


Traurigkeit, wie Kinder pflegen, müde zu fein. 
Ihr Geficht erhellte ſich, fie zeigte Friedrich ein 
Paar warme Schuhe, die der Vater ihr gekauft, 
und hatte Fragen und Erzählungen aller Art zu 
machen, fo daß fie ganz heiter geworden war, als 
er fie verließ, während er felbft der Traurigkeit 
nicht Herr zu werden vermochte. 

Spät am Abend ging er zu Erih. Da er 
ihn nicht zu Haufe traf, wollte er fich entfernen, 
aber die Baronin, welche von einem Befuche 
heimfehrend in den Flur trat, forderte ihn auf, 
den Sohn bei ihren Töchtern zu erwarten. Er 
fand diefelben allein in dem Arbeitszimmer ihrer 
Mutter, und ſchon nad) den erften Minuten einer 
gleichgültigen Unterhaltung fragte ihn Cornelie 
plöglich, indem fie ihre dunklen Augen forfchend 
auf ihn richtete: »Warum find Sie fo traurig, 
Herr Brand?« Friedrich erſchrak vor der uner- 


warteten Zrage; er mußte vorausfegen, daß fie 
wobhlgemeint fei, aber ed wurde ihm fchwer, dar⸗ 


auf zu antworten. 
»Ich habe einen Abfchied beflanden!« fagte 


| 
i 


er ablehnend. Dennoch Flang feine Bewegung : 


113 


in den Worten durch, und Helene, ihn mitleidig 
anblidend, rief mit jener füßklagenden Stimme, 
die ihn am erften Abende in ihrem Gefange fo 
mächtig erfchüttert hatte: »Wenn ich Ihnen doch 
helfen koͤnnte!« 

»Sie wollen mir helfen?« wiederholte er er- 
röthend und fügte dann fehnell gefaßt hinzu: »Es 
fehlt mir Nichts!« 

»Aber Sie haben gewiß fchon viel gelitten!« 
fuhr Helene fort. 

»Moher glauben Sie das?« fragte er, indem 
feine Scheu, fich beobachtet, verrathen zu fehen, 
mit feiner Freude über Helenend Xheilnahme 
kämpfte. | | 

»Weil Sie eigentlich niemald ganz heiter find, 
und es ift doch fo fehön, fröhlich zu fein!« 

Da er fchwieg, entitand eine Eleine Paufe. 
Gornelie arbeitete ohne aufzublicken an ihrer fei- 
nen Stiderei. Ihr Geficht fah noch ernfter aus 
als gewöhnlich, und Helene, welche es empfand, 
daß Friedrich’ Auge in ihrer Seele zu lefen trach⸗ 
tete, fühlte fi) davon verwirrt. Von der Stille 


beängftigt, fchien es ihr eine Erleichterung zu 
Wandlungen T. 


114 


fprechen, aber ihre Gedanken waren fo ſchnell 
vorwärts und rüdmärts gegangen, daß fie den 
Faden der Unterhaltung nicht zu finden vermochte, 
bis Cornelie durch einige hingeworfene Fragen 
über Friedrich's Verhältniffe ein Gefpräch einlei- 
tete, in welchem der Zebtere bald die Rolle des 
Erzählerd übernahm; und wie ed in aufgeregten 
Zuftänden, die und unvorbereitet überrafchen, : zu 
gefchehen pflegt, hatte er gar bald zu feinem ei- 
genen Erftaunen ihnen fein ganzes Leben mitge- 
theilt. Was er Allen verborgen, was er felbft 
vor Erich zu enthillen Scheu getragen, die Ent⸗ 
behrungen und Schmerzen feiner Kindheit, feine 
Liebe für die verftorbene Freundin, die Sorge um 
ihr armes Kind, dad Alles theilte .er in flüchti- 
gen Worten den beiden Schmeftern mit. Er 
nannte feine Namen, er gab ihnen Feine beflimm- 
ten Thatfachen, er Plagte weder Menfchen noch Ä 
Schickſal an, denn er fühlte fich plöglich mit ih⸗ 
nen verföhnt. Er fah ruhig und liebevoll in die 
Vergangenheit zurüd, denn es fchien ihm, als 
fei er fortan allem Leid entronnen. Ploͤtzlich aber 
überfiel ihn ein Gefühl der Angft und der Be⸗ N 


| 


115 


ſchaͤmung. Es peinigte ihn, fo lange von fid 
geiprochen zu haben, er fland auf und empfah 
fih, weil er den Freund nicht länger mehr er 
warten Tönne. 

Die Schweftern waren betroffen, fie bater 
ihn zu bleiben, er lehnte ed mit einer gewiffer 
Heftigleit ab, vor der fie verftummten, und nach 
dem dieſe drei jungen Herzen fich in freudige: 
Erfchloffenheit gefunden hatten, trennten fie fich ir 
einer Weile, welche Keiner von ihnen fich zu er: 
klaͤren vermochte, welche Allen quälend war. 

Weder Helene noch Gornelie fprachen vor 
Sriebrich, fo lange fie den Abend im Kreife dei 
Familie verweilten. Erſt ald fie fich in ihrem 
Zimmer befanden, drüdte Cornelie den Wunfd 
aus, dem abreifenden Mädchen zu helfen, abeı 
Sriebrich hatte ihren Namen nicht genannt. 

»Ich habe den ganzen Abend nur an fie ge: 
dacht,« fagte Helene, »und möchte fie gern ſehen! 
Sch ftelle fie mir anders vor, als Kinder fonft 
zu fein pflegen«. 

»Meshalb das?« 

»Weil Friedrich anders ift, als andere Men- 


116 


fchen!« rief Helene. »Sieh!« fuhr fie dann fort, 
»ald er am erften Abende bei und davon ſprach, 
‘daß der Roman der Armen, der Nothleidenden 
noch nicht gefchrieben fei, und der Graf behaup- 
tete, in folchen Berhältniffen fei Feine Poeſie, 
feine Schönheit zu finden, da flimmte ich ihm 
aus voller Ueberzeugung bei, und jeßt — —« 

»Und jeßt?« fragte Gornelie. 

Helene antwortete nicht gleih. Erſt nad) ei- 
ner langen Paufe fagte fie: »Er felbft, Friebrich, 
muß der Dichter werden, der das Wolf fchildert 
in feiner Schönheit! Wer hat je mit diefer Ein- 
fachheit von feinem Leben, mit folcher Liebe von 
feinen Entbehrungen, mit folcher Schönheit von 
Schmerz und Leid zu uns gefprocdhen, als er? 
Es ift mir überhaupt, als hätte ich heute zum 
erften Mal erfahren, wie Menfchen zu einander 
reden follten, und was ed heißt mit einem Men- 
fchen fprechen !« 

»Helene!« rief Cornelie im Zone der höchften 
Beftürzung. | | 

»Was verwunderfi Du Dich?« entgegnete 
Helene. »Hat er Dich nicht ergriffen wie mich, 


117 


der Hinblick auf das Leben biefes reinen Her: 
zend, das tauſendfach mehr Glüd verdient ale 
wir, und Nichts erhalten hat als Leid und Sorge? 
Aber wie fchön, wie poetifch ift fein Leiden gegen 
das trodene Glüd, von dem die Andern wiſſen! 
In feiner Armuth ift er reicher ald wir Alle!« — 

Gornelie hatte mit flarrem Ernfte zu ihr hin⸗ 
übergeblidt, jetzt warf fie fich der Schwefter an 
den Hals und mweinte. 

»Woruͤber weinft Du?« fragte diefe. »Liebft 
Du ihn?« 

»Ich? Helene! ich?« 

»Nun warum weinſt Du denn?« 

»Ueber Dich!« — — entgegnete Comelie, 
»denn Du liebſt ihn!« 

Helene antwortete nicht, ſie ließ ſich in dem 
Seſſel am Kamine nieder und huͤllte ihr Geſicht 
in ihre Haͤnde. Cornelie ſtand ihr eine Weile 
gegenuͤber, als erwarte ſie, daß Jene ſprechen 
wuͤrde; da ſie aber ſchwieg und in ein ſtilles 
Sinnen verſank, ſagte Cornelie: »Laß uns die 
Kleine nicht vergeſſen uͤber ihn! Friedrich hat uns 
geſagt, die Fortreiſenden wohnten ſeinen Eltern 


118 


gegenüber, ed werde morgen dort eine Auction 
abgehalten, das Haus muß alfo mohl zu finden 
fein!« 

»Ja! wir mollen hin!« rief Helene, aber Cor⸗ 
nelie verneinte dad. »Wir nicht! Larffen wird 
hingehen, wenn mir ihn darum bitten, er hat und 
fonft ja fchon in folchen Dingen beigeftanden, ich 
will gleich an ihn fehreiben!« fagte fi... 

Helene konnte des Dankes Fein Ende finden. 
Sie kuͤßte Cornelie während dieſe fchrieb, man 
fchellte einem Diener, übergab ihm den Brief zu 
früher Beforgung am nächften Tage, und Cor: 
nelie fing zu überlegen an, was dem Kinbe 
dienlihb und für alle Fälle brauchbar fein 
koͤnnte. 

Ruhiger, als die nur mit dem Herzen lebende 
Helene, ſah Cornelie, mit Angſt der Schweſter 
ploͤtzlich auflodernde Liebe fuͤr Friedrich, und ſuchte 
ſie durch den Hinweis auf das arme Maͤdchen 
zu zerſtreuen. Als aber Helene ihr Lager geſucht 
hatte, da kniete Cornelie neben demſelben nieder, 
faßte die Haͤnde der Schweſter und ſagte, das 
Geſicht an ihre Wange geſchmiegt: »Sprich vor 


Bull - 


119 


iemand, vor Niemand, Helene! wie Du vor- 
n zu mir gefprochen haft, und bete um Selbft- 
erwindung, benn es wäre ein Unglüd, hättefl 
u fie nicht!« 


Siebentes Kapitel. 





Am andern Nachmittage ftand Larfjen in der 
Thür eines Shawlmagazins und betrachtete mit 
der ihm eigenthümlichen Genauigkeit ein großes, 
warmed Tuch, als Erich vorüberging und ihn 
erblickte. Lachend trat er hinzu, ihn mit biefem 
Einkaufe zu neden. | 


»Iſt's wieder einmal fo weit, Vater Larffen!« 


fragte er, »daß Du fentimental und fpenbabel 
wirft?« 


Larſſen mit komiſcher Würde, und erregte damit 
Erich's Heiterkeit in noch höherem Grabe. 


»Reine Sache der Wohlthaͤtigkeit,« entgegnete 


»Glaube Dir das nicht!« rief dieſer, »denn 


121 





es glaubt3 Dir Niemand! Du wirft ja auf Deine 
alten Zage nicht von Dir felbft abfallen!« 

»Auf mein Wort, Erich!« wiederholte Sener, 
„reine Sache der Wohlthätigkeit! Denkſt Du, 
ich fei der Sündhaften Einer und hätte noch 
Wohlgefallen am Weibe? Das ift fern von mir! 
Aber wie gefällt Dir das Zuch?« 

»&8 fommt darauf an, für wen es fein foll!« 

„Fuͤr eines der fehönften Gefchöpfe, die mir 
jemald vorgefommen find.« 

»Und an diefem fchönen Gefchöpfe haft Du 
fein Wohlgefallen mehr?« 

»Ich habe ed nur einen Augenblid gefehen und 
werde ed außer heute auch nicht wieberfehen!« 
entgegnete Larſſen, der ſich vor Erich in der Rolle 
des Wohlthaͤters gefiel. 

„Das klingt ja ſehr romantiſch!« rief Erich 
aus, »auf dieſem Felde hätte ich Dich am we⸗ 
nigften vermuthet!« | 

Larfien bezahlte während deſſen den befpro= 
chenen Einkauf und verließ mit Eric) das Ma- 
gazin, feinerfeitö ebenfo entfchloffen, den Anſtrich 
eined geheimnißvollen Abenteuerd aufrecht zu er- 

8* 


122 


halten, ald Erich den Schleier deffelben zu lüf- 
ten, um Larſſen mit feiner Heuchelet zu neden. 
Als fie die nächfte Straßenede erreicht hatten, 
wollte Larſſen fi) von Erich trennen, befann ſich 
dann aber plößlich eines Andern, um feine Role 
defto ficherer durchzuführen, und forderte ihn auf, 
ihn zu begleiten, »jeboch nur unter Einer Bebin- 
gung« wie er fagte. 
. „Und die wäre?« . 

»Daß Du mir dad unbedingtefle Schweigen 
gegen Sedermann verfprichft!« antwortete Larfien. 
»Die Sache ift dad Geheinmiß von Perfonen, 
deren Zutrauen ich beſitze. Es handelt fih um 
eine Familie, die man auskundfchaften, um ein 
Mädchen, das man unferftügen und für dad man 
Reiſeeffecten kaufen wollte, da es den Ort ver: 
laſſen muß. Ich habe das Alles beforgt und es 
auch übernommen, die Sachen heimlich abzulie⸗ 
fern. Verſprichſt Du mir, mich nichts Näheres 
zu fragen, Nichts weiter darüber zu reden, fo 
will ih Dir dad Mädchen zeigen.« 

Erich ließ fich das nicht zweimal fagen, und 
bald befanden die Beiden fih vor dem Haufe 


h 
} 


123 


des Unterofficiereö, in welchem bie Verſteigerung 
ded Hausrathes fich ihrem Ende naͤhte. Männer 
mit Zragen brachten einzelne verkaufte Stüde 
die Zreppe herab, ein paar Nachbarinnen befa- 
ben vor der Thür die erflandenen Toͤpfe und 
Eiſenwaaren. Larffen und Erich gingen hinauf, 
als ob fie einen Einkauf zu machen münfchten. 
Es waren noch ein paar Zrödlerinnen in dem 
Zimmer, mit denen der Unterofficier feine Ab: 
rechnung zu halten fehlen, der Schreiber des Auc- 
tionators faß, die Liften orbnend, an einem Ti⸗ 
fe mitten in dem Raume, und aus allen Eden 
trug man die gekauften Gegenftände davon, daß 
die Stube mit jedem Augenblicke leerer und trau: 
riger anzufehen wurde. Erich, ſolcher Eindrüde 
ungewohnt, konnte fich einer höchft wehmüthigen 
Empfindung nicht erwehren. »Und bier lebt Dein 
Schönes Wunder?« fragte er. 

Larfien antwortete nicht, fondern brüdte nur 
die Brille feft an die Augen, um in der begin- 
nenden Dunkelheit Regina zu fuchen, die er nicht 
entdeden Fonnte. Da er fie am Morgen in ber 
Küche gefunden hatte, wendete er fich dorthin 


124 


Erich folgte ihm, und als fie die Thuͤre berfelben 
öffneten, erblilten fie Regina, befchäftigt die Taſ⸗ 
fen und Töpfe zu reinigen, aus denen man bie 
Trödlerinnen nach altem Brauche mit Kaffee be- 
wirthet hatte, ihnen guten Muth und Luft zum 
Kaufen einzuflößen. 

Das fpärliche Licht einer Lampe und verglü- 
bender Kohlen fiel auf Regina's Züge. Sie fah 
empor, ald die Beiden eintraten, und Eric er- 
ftaunte vor dem mächtigen Augenaufichlag dieſes 
Kinded. Regina erkannte Larfien von feinem 
Befuhe am Morgen wieder, und da er ſich als 
einen Käufer dargeftellt, fragte fie ihn, ob er den 
Schrank erftanden, den er in der Fruͤhe befehen 
habe? 

»Ich bin zu fpät gefommen!« fagte er. »Er 
war fchon verfauft; hat man hohe Preife ge- 
zahlt?« | 

»Ich weiß ed nicht, der Water fhidte mid) 
hinaus !« 

»Weshalb that er das?« fragte Erich, deſſen 
Augen unverwandt auf ihren Zügen ruhten. 

Regina ftodte und fagte bann mit großer 


125 


Berlegenheit: »Weil ich weinte! — Es war fo 
fchredlih, wie fie‘ Alles wegtrugen, der Mutter 
Zifh und Bett — und Alles!« — 

Sie hatte die Worte leife gefprochen, dann 
wendete fie fich ab, ihre wieder hervorbrechenden 
Thraͤnen zu verbergen. Erich hätte mit ihr wei- 
nen Fünnen. »Wann fährft Du fort?« fragte er 
fie und faßte mitleidig ihre Eleine naſſe Hand, 
die fie an der Schürze trocknete. 

»Morgen Abend!« 

»Dazu fol ic Dir die Sachen geben!« fagte 
Larfien, legte den Shawl und noch ein anderes 
Paͤckchen mit warmen Kleidungsftüden auf den 
Heerd, winkte Erich, ihm zu folgen, und verließ 
die Küche. 

Erich aber blieb zurüd. Er mollte den Na- 
men des Mädchens wiffen, das ihm in feiner 
Aufgeregtheit wie eine verzauberte Prinzeffin vor- 
kam, und als die Kleine fich Regina nannte, war 
es ihm, als leuchte ein Kronenfchimmer um ihr 
dunkles Kinderhaupt. Er hatte die größte Luft, 
dem Mädchen Etwas zu fchenken, aber ihr Geld 
zu geben, war ihm unmöglich; Larffen rief ihm 


126 


zu fommen, er wollte dem Rufe folgen und wollte 
doch nicht gehen ohne Gabe. Plöglich griff er nach 
feiner Kravatte, zog eine Nabel mit reichgefaßter 
Perle daraus hervor, reichte fie dem Mäbchen 
bin, kuͤßte es auf die Stirne und eilte die Treppe 
hinunter. 

Regina blieb beſtuͤrzt am Herde ſtehen. Sie 
betrachtete, ohne es anzuruͤhren, das Packet, auf 
dem mit deutlicher Handſchrift die Worte: »Zur 
Reiſe!« ſtanden, ſie ſah den Shawl auf dem 
Heerde liegen, ſie hielt die Nadel in der Hand 
und wußte das Alles nicht zuſammen zu reimen, 
ſich nicht von der Ueberraſchung zu erholen, bis 
die Meiſterin hereintrat, Regina bei dem Reini- 
gen der Seräthichaften zu helfen. Ohne zu wif- 
fen, was fie that, ſteckte das Mädchen die Nadel 
in ihre Taſche. Selbſt als die Meifterin die un⸗ 
erwarteten Gaben gewahr wurde, als fie um den 
Geber, um den ganzen Hergang fragte, ald ber 
Vater hinzugerufen, ein förmliches Verhoͤr mit Regi- 
na angeftellt wurde, und fie, fo gut fie e8 im Stande 
war, von ben Ereigniffen erzählen mußte, von dem 
Herrn, der am Morgen den Schrank befehen, 


127 


von dem andern, der am Abende mit ihm 
nmen war, konnte fie fich Doch nicht überwinden, 
Rabel zu erwähnen. Es wurde ihr heiß, fo 
e es verfuchte. Einmal griff fie danach, fie 
igen, um fih Muth zu machen, aber bie 
d zitterte ihr. Sie konnte es nicht fagerg 
ern fie wollte, und ed kam ihr doch wie 
Sünde vor, daß fie dies Wichtigfle ver- 


eg. 


Achtes Kapitel, 


Regina hatte die -Waterftabt verlaffen, der 
alte Unteroffizier von der in Berlin neu errichte- 
ten Häuslichkeit gefchrieben und die Meifterin 
fich ſchnell gewöhnt, ihr Pflegefind ſelbſt an den 
Wafchtagen zu entbehren. Sie dachte der eben 
erft gefchiedenen Nachbarn, wie man an Dinge 
denkt, melche eine lange Vergangenheit von und 
trennt, mit Theilnahme zwar, aber ohne fie we⸗ 
fentlih zu vermiffen. Zägliche, angeftrengte Ar- 
beit ift ein Wunderbalfam gegen jene Zeiden der 
Sehnfucht, welche der Unbefchäftigte mit kraͤnkeln⸗ 
der Woluft in fih naͤhrt. Wie follte auch der 


FT Dt En DD ED ne an 


Arme leben koͤnnen, Fame die nothmwendige Arbeit 


Me 


WR 


129 


ihm nicht zu Hülfe, brächte fie nicht feinen Näch- 
ten Schlaf, feinen Tagen Vergefienheit, und mit 
der Vergeflenheit die Gefundheit der Seele wies 
der, denn unfruchtbare Sehnfucht ift eine Krank⸗ 
heit der menfchlichen Natur. Der gefunde Menſch 
firebt Eräftig zu erreichen, was er bedarf, und 
verzichtet ebenfo feft auf das Unerreichbare. Er 
will vor allen Dingen fich felbft ganz und unge- 
theilt befiten — und der Arbeiter muß das wol- 
len, bewußt oder unbewußt, weil er feiner felbft 
bedarf. 

Drüben in dem Haufe, das der Unteroffizier 
fo viele. Jahre inne gehabt, lebten neue Nachbarn 
und gaben Frau Brand Anlaß zu villfachem Be- 
trachten ihres &huns und Treibens. Der Mei: 
fter kümmerte ſich nicht darum, er war zufrieden, 
daß er Arbeit hatte, und noch zufriedener mit 
Friedrich; denn hatte der Water gefürchtet, daß 
er den Büchern untreu werden, daß er in ein 
wüftes Vergnügungsleben fich verfenten, daß er 
Zeit, Geld und Gefundheit daran feben werde, 
fo gewahrte er von alle dem das Gegentheil. 
Der junge Entrepreneur befchäftigte fich mit den 

"Bandlungen. I. _ 9 


130 


— 


Bällen nur fo viel, als feine Pflicht ed forderte, 
309 fich aber mehr und mehr von dem Umgange 


mit feinen Commilitonen zurüd und verlebte faft _ 


alle feine Mußeftunden mit Erich und dem Doctor, 
zu dem er feit jenem erflen Abende im Heiden⸗ 
brud’fchen Haufe in ein näheres Verhaͤltniß ge- 
treten war. | 

Beide Verbindungen gewannen bald einen 
entfchiedenen Einfluß auf ihn und feine Beſtre— 
bungen. Erfchloß ihm der Umgang mit Eridy 
und deſſen Familie den Blick für allgemeine Bil- 
dung, machte er ihn gerecht gegen dad Gute, 
welches die bevorzugten Stände in ihrer glüd- 


lichen Rube in fich zu entwideln vermocdhten, fo - 


erhielt der Doctor in ihm das Gefühl rege, daß 


die Möglichkeit ähnlicher Bildung für Alle zu er- ' 
leichtern, gerade die Aufgabe Derjenigen fei, weldhe 
aus dem Volke hervorgegangen wären, und wie 


Friedrich’5 war das des Doctord Fall. 


| 


As Jude geboren, hatte der Doctor aus ſei⸗ 
nen erften Lebensjahren die Erinnerung an eine \ 
druͤckende Armuth in feinem Gedächtniffe bewahrt, \ 
obfchon der Fleiß feiner Eltern es fpäter zu Ver» | 


L 


131 


mögen gebracht hatte, und dem Sohne alle Mittel 
zur Ausbildung feines Geiftes gegeben worden 
waren. Selbft mit jener eifernen Ausdauer, mit 
jener unermüdlich thätigen Geduld begabt, bie 
einen Dauptzug in dem Wefen de3 jüdifchen 
Volksſtammes bilden, hatteBernhard, der Sorge 
um das tägliche Brod enthoben, fih früh dem 
Leiden der Menfchen zugewendet, und leiblicher 
und geiftiger Noth zu feuern geftrebt, wo jie 
ibm begegnet waren. Er kannte die Erfte aus den 
Zagen feiner Kindheit, er Fannte die Andere durch 
die Unterbrüdung feines Volkes, durch die Krän- 
tungen und Behinderungen, welche er als 
Sohn diefes Volkes auf feinem Lebenswege erfab- 
von hatte. Kaum in das Mannesalter getreten, 
war er der unermüdlichfte Arzt der Armen, der 
taftlofe Arbeiter für die Emancipation der Juden, 
und durch Ueberzeugung und Erfahrung ein 
Menfchenfreund, ein freier Menſch gemorden. 
Ohne an fich und feinen perfünlichen Vortheil 
iu denken, gemeinnügig thätig, errang er Dadurch 
die größten Vortheile für fich ſelbſt. Er war 
gefucht als Arzt, geachtet als Menfch, und hatte 
y. 





— — —— — — — 


fuͤr ſeine Perſon von der Geſellſchaft die Eman⸗ 
cipation erlangt, welche der Staat damals den 
Juden noch verſagte. Vor Allem ſchaͤtzte man 
ihn im Heidenbruck'ſchen Hauſe, deſſen Arzt er 
war, und ſein Urtheil uͤbte einen weſentlichen 
Einfluß auf die Anſichten faſt aller Familienglie⸗ 
der aus. 

Es war ein paar Tage vor dem Weihnachts⸗ 
fefte, ald Erich und Friedrich eines Abends an 
die Thuͤre des Doctors Elopften, den fie, wie faft 
immer, einfam und mit feinen Arbeiten befchäf: . 
tigt fanden. Dennoch nöthigte er. fie angelegent⸗ 
lich zum Bleiben. Er fchien ungewöhnlich zur 
Mittheilung geneigt und fchloß feine Aufforderung, 
ihren Befuch zu verlängern, mit den Worten: 
»Drei machen ein Collegium, und Ihr Heiland 
bat ja auch erflärt, daß, wo Drei beifammen 
wären, er unter ihnen fei! So laffen Sie uns 
denn beifammen fein und plaudern, dad wird ein 
gottgefällig Unternehmen werden !« 

»Ich bewundere ed an Ihnen, Herr Doctor!« 
Außerte Sriedrih, während Bernhard feinen 
Gäften Cigarren anbot und Wein bringen ließ, 


133 


»daß Sie in jedem Augenblicke fo bereit find, 
Ihre Arbeit aufzugeben, wenn ein gefelliger An- 
ſpruch an Sie gemacht wird.« 


»Und iſt denn für Andere leben, ift denn über- 
haupt ald Menfc mit dem Menfchen fprechen, 
nicht auch eine fürderfame, mitliche Arbeit?« 
fragte Bernhard. 


»Fuͤr uns in dieſem Falle gewiß!« bemerkte 
Erich, dem folche Höflichkeit der Form durch feine 
Erziehung zur Natur geworden war. 


Der Doctor lächelte. »Eure Höflichkeit er- 
freut mich fehr, ich bin ein Menfch wie And’re 
mehr!« rief er, den Wein einfchenkend, und ber 
junge Edelmann felbft fühlte, daß die allgemeinen 
Redeformen, wie alles Allgemeine, im befonderen 
Falle Eomifch fein Eönnen. Auch fprach der Doc- 
tor diefe Bemerkung offen gegen ihn mit dem 
Zuſatze aus: er möge aus diefem kleinen Bei⸗ 
fpiele einen Schluß ziehen für die Unterredung, 
welche Bernhard neulich mit dem Baron über 
allgemeine Regeln, fefte Srundfäge und beftehende 
Ordnungen gehabt habe, und in welcher der 


134 


Baron dem Doctor den Vorwurf gemacht, ein 
Feind alles Beftehenden zu fein. 

»Das find Sie auch wirklich,«“ rief Erich, 
»aber die Aerzte find von jeher die fchlimmften 
Revolutionäre gewefen!« 


»Was nennen Sie revolutionär, lieber Erich? 
Das ift ein vieldeutiger Begriff!« 


»Ich nenne das Prinzip und den Menfchen 
revolutiondr, die fich dem Beftehenden feindlich 
entgegenftellen, wie Sie.« 


»Laflen wir das gelten, obfchon die Erklärung 
nicht die richtige ift, nur laſſen Sie mich diefelbe 
aus den Bereichen vervollftändigen, in denen ich 
mich am meiften heimifch weiß. Wir ziehen ja 
doch unfere Erkenntniß, unfere Bilder für diefel- 
ben am ficherften aus den Sphären, die und zu- 
nächft umgeben: der Landmann aus der allgemei- 
nen Natur, der Gelehrte aus dem fpeciellen Fache 
feines Wiſſens. Meine Erkenntniß, meine An- 
fhauungen der Weit und der Menfchen, der Ze- 
benöprinzipien und der aus ihnen folgenden Ge⸗ 
feße des Menfchenverbandes zur Herftellung eines 


135 


vernünftigen Staates, danke ich zumeift der 
Beobachtung des menfchlichen Organismus.« 
»Und hat diefe Sie revolutiondr gemacht, 
wie mein Freund ed nennt?« fragte Friedrich. 
»Ja!« entgegnete der Doctor. »Ich habe ein- 
fehben lernen, daß der menfchliche Organismus 
fein’ felbftändiges, um feiner felbft willen aus- 
Schließlich gefchaffenes Wefen, fondern ein heil 
des Weltalls ift, mit dem er in dem engften, 
fortdauernden und unauflöslichften Zufammenhange 
fteht. In der Natur ift Nichts beftehend und 
dauernd, als ihre nie endende Thaͤtigkeit in Auf- 
löfung und Neugeftaltung der vorhandenen Ele: 
mente. Ebenfo ift es im -menfchlichen Organis- 
mus und ed muß fo in ihm fein, denn etwas 
Unbewegliches koͤnnte ſich in der allgemeinen Be- 
wegung nicht felbftändig erhalten. Iſt das aber 
mit dem einzelnen Menfchen der Fall, fo muß es 
auch daflelbe fein mit der Gefammtheit der Men: 
(hen. Sie erzeugt ſich neu in fich felbft, fie er- 
zeugt neue Gedanken und Beduͤrfniſſe mit ihrer 
fi) umflimmenden Organifation, fie bedarf alfo 
neuer Befriedigungen für ihre neuen Bebürfniffe. 


136 


Da haben Sie den Weg, auf dem die Mediziner 
Männer der Bewegung und Ungläubige gegen 
das Beſtehende werbden.« 

»Damit erklären Sie,« fagte Friedrich, »die 
Revolutionen ald den nothwendigen und eigentlich 
natürlichen Zuftand der menfchlichen Gefellfchaft, 
und ftoßen alles Recht ded Beſtehenden um, das 
die Vorſehung unter und hat werden und ge⸗ 
deihen laflen!« 

»Die Borfehung?« fragte der Doctor, und 
Erih rief: »Sie freilich find ein Atheift und 
glauben nicht daran !« 

»„Nein!« antwortete der Doctor beftimmt, 
»aber lafien wir auch dad, da Sie Beide daran | 
glauben, und bleiben wir bei dem Kapitel von 
der Revolution.« 

“ Friedrich erfchrat, als er die Gleichgültigkeit 
gewahrte, mit welcher Bernhard über den Glau⸗ 
ben an eine Vorfehung, an einen perfönlichen 
Gott hinwegging, den er als eine Bedingniß ſei⸗ 
nes Lebens und Strebend empfand. Der Doctor 
ſchien ihm plöglich fremd, der Freund räthfelhaft, 
daß er jene Behauptung mit einem Lächeln hin- 





» 


nehmen konnte, und ganz verwundert rief er: 
„Wie ift Ihnen, Ihnen gerade die Art Ihres felbft- 
loſen Wirkens möglich, ohne den Glauben an Gott 
und feinen Beiftand? Wie können Sie Fuß 
faflen in der Welt, wenn Ihnen das Fundament 
des Glaubens an einen Allmächtigen entzogen ift, 
der fie erhält und leitet?« 

Der Doctor ſah ihm Mar und groß in’s 
Auge und fagte mit ruhiger Würde: »Und wenn 
ich ein fefteres Fundament ennte, einen flärferen 
Glauben befäße?« — Dann aber brach er plößlich 
ab, ließ auch Friedrich, mit der Derrfchaft, welche 
er über die jüngeren Männer ausübte, zu Feiner 
Entgegnung kommen, fondern nahm die frühere 
Unterhaltung wieder auf. 

»Sie meinten,« fprach er, »ich erkläre bie 
Revolution für den gefunden Zuftand des Staa- 
tes, darin irren Sie. So wenig ich den Blut- 
furz ald den gefunden Zuftand des Körpers an- 
fehe, der zuweilen eine heilfame, immer aber eine 
bedenkliche und gefährliche Krifis der fich felbft 
helfenden Natur ift, fo wenig halte ich die Re= 
volution für etwas Gefundes. Sie ift die Krifis 





138 


einer Krankheit, und muß natürlich entftehen oder 
auch Fünftlich herbeigeführt werden, wo bie feh- 
lende Chätigfeit des Organismus, wo Uebermaß 
oder Mangel, Stodung oder Erfchlaffung und 
Veberreizung verurfacht haben, und die fortfchrei- 
tende Zerſtoͤrung und Neubildung ded Organis⸗ 
mus hemmen. Unnatürliches Fefthalten des Be— 
ftehenden erzeugt Stockungen, bildet Krankheiten 
und Krifen, und weil ich diefe dem einzelnen 
Menfchen fo bedenklich halte, ald die Revolutio- 
nen der Menfchheit, kin ich ein Feind alles deffen 
geworden, wad die Bewegung, das Fortentwideln 
hindert. Um Revolutionen zu vermeiden, wünfche 
ich die Berflörung deffen, was fie erzeugen muß.« 
— Er zog einen langen Zug aus der Gigarre, 
füllte auf's Neue die Gläfer der beiden Freunde 
und fagte, nachdem er felbft getrunfen hatte: 
»Da haben Sie die Geftändniffe eines Arztes! 
machen Sie daraus, wad Sie künnen!« 

»Fideicommiſſe laſſen fich darauf freilich nicht 
gründen!« meinte Erich. 

»Wer fagt Ihnen denn, daß man fie grün= 
den foll?« 


x 





— — — — — — 


»Sie laſſen ſich auch nicht einmal erhalten!« 

»Nun wenn fie fi) vor ben Lehren der ge- 
funden Bernunft nicht erhalten laflen, fo geben 
Sie fie auf!« lachte der Doctor. »Der Vorfchlag 
mag aber freilih für den Erben von Wogau 
anderd klingen, ald für unfer Einen, Die wir 
ohne das beglüdende Schnedenhaus eines präch- 
tigen Majorated mit nadter, Fahler Haut auf 
die Welt gekommen find!« 

»Was bringt Sie darauf, Doctor?« fragte 
Erich, »mich heute fo plöglich ald Majoratöherrn 
zu behandeln?« 

»Weil mehr davon in Ihnen ftedt, als Sie 
glauben; Sie find durch und durch confervativ!« 

„Ich wünfche allerdings,«a entgegnete der junge 
Baron, »den Beſitz und die Vorzüge, welche mir 
als rechtliches Erbe zugefommen find, zu erhalten: 
aber ich wurde mich freuen, wenn alle Anderen 
gleiche Güter erreichen Fünnten. Sie wiffen, daß 
mir das deutſche Kaftenwefen als eine Thorheit 
und ein Unglüd erfcheint.« 

»Das heißt,« fagte der Doctor, »Sie würden 
Nichts dagegen haben, wenn Ihr Freund oder 





140 


ich, gelegentlich Majoratöherren werden Fönnten, 


wie Sie; aber Sie flanden doch Ihrem Bruder 
Georg nicht bei, als er das Cadettencorps zu 
verlafien und allenfalld lieber Zimmermann als 
Offizier zu werden forderte.« 

»Weil er mit den Begriffen feiner Erziehung 
ſich als Gewerbtreibender unglüdlich fühlen mußte, 
und weil er dadurd dem Kreife entzogen worden 


wäre, in: dem wir leben! Es wäre Wahnſinn 


gewefen, freiwillig fich feiner Rechte zu entäußern, 


alle Welt hätte ed getabelt!« 


»Ich und viele Andere nicht!« meinte der ! 


Doctor, »aber Sie fehen das allgemeine Urtheil 


nur in dem Kreife Ihrer Umgangsgenoſſen, darin 


befteht Ihre Unfreiheit, und doch haben Ste in 


Ihrer Familie auch ganz oppofitionelle Naturen, 


die innerhalb der ihnen vorgefchriebenen Bahn 
zu Feiner ihnen angemefjenen Entwidlung kom⸗ J— 


men werden.« 

»Deine jüngere Schweſter macht mir aller⸗ 
dings den Eindrud, als ob fie nicht ganz gti. 
lich wäre,« bemerkte $riedrich, der dem Geſoraͤche „I 
mit Spannung zugehört hatte. 


% 


“ 


141 


»Mein Gott!« meinte Erich, mit fichtlicher Un⸗ 
gebuld, »Gornelie ift zu ug, um nicht einzufehen, 
daß fie reizlos ift, und darüber fühlt jeves Maͤd⸗ 
hen fih unglüdlih. Das ift nicht die Schuld 
unferer Samilienverhältniffe oder unferer arifto- 
fratifchen Unfreibeit« · ° 

»Doch, Erich!« fagte der Doctor. »Fände 
Cornelie Gelegenheit ſich nüßlich zu machen, fo 
würbe fie ſich glüdlic, fühlen. Daß fie Nichts 
zu thum bat, Nichts thun fol, als liebenswuͤrdig 
fcheinen und ſich an gefelligen Genüffen betheili- 
gen, bie fie nicht als folche empfindet, das ift ihr 
Unglüd. Ihre Unzufriedenheit ift ihre befte Eigen- 
Ihaft.« 

»Aber Sie haben Unrecht, fie in den Anſich⸗ 
ten zu beftärfen, mit denen fie in unferer Familie 
nicht durchdringen kann. Sie foll und kann 
weder Gouvernante, noch soeur grise, noch eine 
bürgerliche Hausfrau werden.« — 

»Weshalb nicht?« fragte der Doctor. »Hat 
Ihre Tante Windham nicht daffelbe gefonnt?« 

»D! die Zeit der romantifchen Liebe und der 
Entführungen ift vorüber,« fagte Erich empfind- 


142 


= 


lich, »und meine Schweftern, welche Mängel fie 
fonft auch haben mögen, befiben das ftrenge fitt- 
liche Gefühl ihrer Mutter. Selbft Corneliens 
von Shnen fogenannte Oppofition ift fern von 
Möglichkeiten jener Art!« 

Damit ftand er auf und der Doctor wechfelte _ 
den Gegenftand der Unterhaltung. Nur als die. 
beiden jungen Männer ihn verließen, fagte er zu 
Erih, indem er ihm auf die Schultern Elopfte: 
»Machen Sie es fih Hear, Erih, daß Sie ein 
eingefleifchter Ariftofrat find, denn es ift weniger 
fchädlich für Sie und Andere, wenn Sie wiflen, 
daß Sie ed find!« Da man aber heiter mit ein- 
ander verkehrt hatte, nahm Erich die Bemerkung 
ruhig bin und man fchied freundlich und in befter 
Stimmung. 


Neuntes Kapitel. 


— — — 


Die Baronin hatte Friedrich eingeladen, den 
Shriftabend in ihrer Familie zuzubringen, wie 
Larffen und der Doctor ed feit Sahren thaten, und 
Friedrich fand diefe Beiden fehon mit Erich und 
den Kindern im Wohnzimmer verfammelt, ald er 
um die fiebente Stunde eintrat, während die bei: 
den Zochter des Haufes noch fehlten. Mit ge: 
wohnter Freimüthigkeit ging Richard ihm entge- 
gen, und nahm ihn, als fühle er, daß an die— 
km Abende den Kindern die Herrfchaft gehöre, 
für fich in Anſpruch. 


»Sind Sie neugierig auf Ihre Befcheerung?- 
Haste er. 








144 


»Ja, gewiß, aber ficher nicht fo fehr, als Du 
auf die Deine!« 

»Ich weiß Nichts von Allem, was ich bekom⸗ 
men werde,« fuhr Richard fort, »aber was Sie 
nicht befommen, weiß ich!« 

»Und was ift das?« 

»Das Gefchent, um welches die Coufinen 
fih heute Morgen geftritten haben!« 

»Sie haben fich gar nicht geftritten,« unter- 
brach ihn Augufte, die mit dem frühreifen Takte 
junger Mädchen eine Ungefchidtheit ihred Betterd 
zu ahnen und vermeiden zu wollen fchien. »Es 
ift nicht wahr, daß fie fich geftritten haben!« | 

Das konnte der Beine Engländer nicht auf 
fih figen laflen, daß man ihn einer Unmwahrheit 
zieh. Er wurde roth vor Zorn und fagte: »Du 
wirft doch nicht fagen, daß ich luͤge! Freilich ha⸗ 
ben fie fich geftritten um das Geſchenk, dad He⸗ 
lene ihm geben wollte, und ald Cormelie dage⸗ 
gen fprach, wurde Helene böfe, wollte dad ganze 
Etui vernichten und bat geweint, als Gornelie 
das nicht litt, und darauf — —« 

Ein Bli auf die fo eben eintretenden Schwer 


145 


ftern machte den Knaben verftummen, aber $rie: 
drich vermochte fie kaum zu begrüßen. Seine Ge: 
danken bewegten fich mie fchnelle, leuchtende und 
blendende Funken in feinem Inneren. Seit dem 
Abende, an dem Helene, ergriffen turd die Er: 
zählungen aus Friedrich's Leben, fich ihm zuge: 
wendet hatte, war e& ihm gewefen, als fei ein 
wunderbares Geftim aufgegangen über feinem 
Haupte, und wie der Erwahende am Morgen 
mit Entzüden durch den gefenkten Vorhang der 
gefchloffenen Augen die Sonne empfindet, wäh: 
rend er nicht wagt, fie ihrem vollen Strahl zu 
öffnen, fondern fie in wollüftigem Hintraͤumen 
auf fi wirken läßt, fo hatte Friedrich hingelebt 
feit Wochen, fo empfand er auch in diefer Stunde. 

Er fah Helene nicht an, er hätte fortgehen, den 
Abend in tiefer Einfamkeit zubringen, fich durch 
innere Erhebung heiligen mögen, denn es war 
feinem jungen Herzen, als werde fich ihm ein 
göttliched Wunder enthullen, als werbe ihm ein 
eigener, neuer Heiland geboren werden in diefer 
Weihnacht, und er fuhr erfchredt zufammen, als 


eine Glocke das Zeichen der Beſcheerung gab, die 
Wandlunaen 1. 10 


146 


Flügelthüren des großen Saales fich öffneten und 
der Lichtglanz der Kronen und des Weihnachts⸗ 
baumes ihm entgegenfunfelte. 

Für die Eltern und die Kinder, für die Freunde 
der Familie und für die Dienerfchaft des Haus 
ſes war mit großem Vorbedachte geforgt, und bie 
Befcheerung noch auf eine Anzahl huͤlfsbeduͤrfti⸗ 
ger Perfonen ausgedehnt, welche man feit Jah⸗ 
ren befchäftigte und unterflüßte und feit lange 
ald zu dem Haufe gehörend betrachtete. Mit der 
Genugthuung gütiger Herzen gingen der Baron 
und feine Frau von dem Einen zum Anderen, 
ihn zu feinem Aufbau hinzuführen, und nachdem 
die erſten Minuten des Anmeifend und Empfan- 
gend vorüber waren, Fam eine freie, heitere Be⸗ 
wegung in die Gefellfchafl. Die Eltern erwie⸗ 
derten bier die Umarmung ihrer Kinder, dort 
den Händedrud eined Freundes und nahmen 
freundlich den noch wärmeren Dank Derjenigen 
bin, denen ein wirkliches Lebensbedürfnig durch 
die erhaltenen Gaben befriedigt worden war. 
Der Reichthum erfchien hier in einem fchönen 
Bilde, da er der Liebe ald Mittel zu ihren Wer: 


a er — —— 


147 





ten diente, und der Weihnachtdabend als ein 
wahres Feft zur Erinnerung an ihren Verkuͤndi⸗ 
ger auf Erden. 

Jeder, der ed vermochte, hatte für den Ande⸗ 
ren geforgt. Die Gefchwifter hatten fich befchentt, 
der Doctor hatte ed an Pleinen, anmuthigen Ga: 
ben für die Damen nicht fehlen laffen, Larſſen un⸗ 
bemerkt Sträuße mit artigen Werfen für fie auf 
den Weihnachtötifch zu legen gewußt, der Gärt- 
ner Eunftreich gezogene Blumenarten und Früh: 
gemüfe geliefert, und auch die übrige Diener- 
fhaft und die Hausarmen, fo weit fie ed konn⸗ 
ten, durch eine Handarbeit ihre Anhänglichkeit zu 
bethätigen geftrebt. Die Baronin felbft hatte 
diefe Gegenfeitigkeit in ihrem Haufe eingeführt, 
um Allen neben den empfangenen Gaben die be— 
freiende Gemugthuung der Dankbarkeit zu gewah- 
ren. Alle Anwefenden waren heiter gehoben, 
heimifch in dieſem Kreife, nur Friedrich fühlte fich 
[0 gedemüthigt ‚und verlaffen, daß es ihm das 
Herz zufammenpreßte in bitterem Weh. 

Erich hatte ſich für ihn zeichnen laffen, die 
Eltern ihm ein Schreibzeug und eine illuftrirte 

10 * 


148 


Prachtausgabe der Bibel gefchenft, aber weder 
Erich's Herzlichkeit, noch die Güte feiner Eltern 
konnten die Zraurigfeit aus feiner Seele ban= 
nen. Er kam fich armer vor als jemals, weil 
er für Niemand eine Gabe hatte: »und fo fern 
ftebft du dieſen Menfchen und diefen Verhältnif- 
fen,« fagte er fih, »daß dir nicht einmal der 
Gedanke gekommen ift, ihnen eine Freude berei- 
ten zu koͤnnen, dich ihnen in diefem Punkte 
gleichberechtigt zu fühlen!« Er ſchalt fich felbft 
eine durch fein Leben erbrüdte Sklavennatur, die 
Dienerfchaft duͤnkte ihn freier und ihrer Herrfchaft 
ebenbürtiger ald er felbft, und für die geringfte Gabe, 
die er in dieſem Augenblide zu verfchenfen gehabt 
hätte, würde er Jahre feiner Zukunft geboten haben. 

Der Boden, auf dem er ftand, fehien ihm 
brennend unter feinen Füßen zu wanken, er nannte 


fib mit mwollüftiger Graufamkeit einen Eins 
dringling in dieſen Kreis, weil ed ihn fo fehr 
fhmerzte, Feine gemeinfame Vergangenheit mit 


Erich und den Seinen zu haben, ein Glüd, das 
alle hier Verfammelten befaßen, außer ihm. Wie 
der Wind eine von ihrem Stengel geriffene 





149 





Blüthe in die Luft trägt, hatte der Zufall ihn 
hierher gefchleudert, konnte der nächfte Zufall ihn 
vertreiben, und doch liebte er diefe Menfchen, die 
in der Bergeffenheit, welche der Freude eigen ift, 
nur mit fich felbft und ihrer Luſt befchaftigt waren. 

Mechanifch drehte er die Kupferftiche der Bi⸗ 
bel um, feine Berlaffenheit zu verbergen, aber er 
fahb die Bilder nicht. Wie der Verirrte ber 
fiheren Heimath gedenkt, fo dachte er an feine 
Eltern, an Regina, die jet nicht in folchen 
Prachtgemächern weilten, und die doch nicht fo 
ungluͤcklich waren, als er felbft, denn fie hatten 
feine verlorene Hoffnung zu beklagen. 

»Aber was habe ich denn gehofft?« fragte er 
fih und fuhr erfchredt zufammen, als Erich ſich 
wieder zu ihm wendete. 

»Der näcfte Weihnachtsabend wird uns 
faum beifammen treffen,« fagte der junge Ba— 
von, »und wer weiß, wann wir einen zmeis 
ten gemeinfchaftlich erleben! Es liegt etwas Dä- 
monifches darin, daß faft niemals diefelben Men- 
hen fich auf diefelbe Art und Weife, die ihnen 
äinft lieb geworden ift, wiederfinden koͤnnen. Es 


150 


ift unberechenbar, welche Wege mein Leben mid) 
nach dem Eramen führen wird, und kehre ich 
einft zuruͤck, fo fißeft Du hoffentlich auf Deiner 
Pfarre und ich komme zur Weihnachtögand zu 
Dir heraus !« 

Aber felbft diefe gutgemeinten Worte machten 
einen unangenehmen &indruf auf Friedrich. 
Diefe Landpfarre, auf die Sedermann ald auf 
feinen höchften Zweck hindeutete, erfchien ihm plöß- 
lich laͤhmend und verhaßt, wie die Ausficht auf 
ein unvermeidliches, fchweres Gefchid. Der ganze 
Abend verging ihm in Qual und Mißempfin- 
dungen, ed fam ihm vor, ald ob alle Anderen, 
fih alt und theilnahmlos gegen ihn bezeigten. 
Hellene hatte fich mit Ridyard in ein Eünftliches 
Zufammenfebfpiel vertieft, von dem fie kaum zu 
Friedrich auffah, als er fich ihr ein paar Mal 
zu nähern verfuchte, Corneliens Aufmerkfamteit 
war durch des Doctord Erzählungen gefeffelt, 
der, angeregt durch ein englifched Kupferwerk Ä 
mit Anfichten von Amerika, das ihm der Baron 
verehrt, ſich in Schilderung amerikanifcher Zus 
fände und Sitten erging, während Larſſen, von 





151 


den aufgeftellten Süßigkeiten nafchenb, ſich bald 
wm biefer bald zu jener Unterhaltung wendete, 
und nach Friedrich's Anfichten ihm überall ſtoͤ— 
rend in ben Weg trat. 

Wenig gewohnt, feine Gefühle und Eintrüde zu 
verbergenfonnte, feine Mißſtimmung Niemand ent- 
gehen. Sie übte auf den Freund und deſſen Eltern eine 
unangenehme Rüdwirkung, die fid bewußt waren, 
dem jungen Manne mit Theilnahme und Freundſchaft 
die Befcheerungen des Abends vorbereitet zu ha= 
ben, und feine Niebergefchlagenheit ald eine Art 
von Undank empfanben. Die Frage feines Freun- 
des, was ihm fehle, machte den Zuftand nur 
noch fchlimmer, fo daß er ed wie eine Befreiung 
anſah, ald mit dem eilften Glodenfchlage der 
Doctor ſich erhob und man ſich trennte. Schon 

fie derfelbe von Friebe; 





152 


ten Süßigkeiten. Man fchludt es mit fanft- 
müthigen, wohlgefälligen Erinnerungen an feine 
eigene Kinderzeit, an fein Vaterhaus in fich 
hinein, und findet fchlieglih, daß man ſich mit 
Ruͤhrung und Eonfect ven Magen verdorben hat.« 

Friedrich antwortete nicht. Er hatte Beine . 
Erinnerungen mit dem heutigen Abende zu vers 
gleichen gehabt, er hatte auf ihn gehofft, wie 
auf ein unbekanntes Phänomen der Freude, und 
ein ungefannter Schmerz, für den er felbft den 
Namen nicht gefunden, war mit erbrüdender 
Schwere auf ihn herabgefunfen. 

Larſſen, der die Gewohnheit hatte, im Allein- 
fein mit fich felbft zu fprechen, vermißte ed aus 
diefem Grunde nicht leicht, wenn ihm in der Une 
terredung mit Anderen Feine Entgegnung wurde, 
fondern ergänzte fich diefelbe nach feiner eigenen 
Anficht, und fuhr dann nach einer Weile zu re 
den fort: »Der Wein war heute au für bie 
Frauen und Kinder berechnet, fhwädlic füßes 
Zeug, wobei man fih nad einem Glafe Bier 
nder nach einer Bowle fehnt. Komm! laß und 
in den Loͤwen gehen, wo die Commune ihren 


153 


— — — — 


Weihnachten hat, damit man nicht vor Faſten 
zu einem Kaßenjammer kommt !« 

„Es ift zu fpät!« antwortete Friedrich ableh— 
nend. 

„Mein, alter Zunge! es ift zu früh fo fpieß- 
bürgerlich fchlafen zu’ gehen, wenn man ver- 
fimmt ift, wie Du. Ueberlaß das den Leuten, 
denen Morgend immer eine angenehme Nachricht 
fiher ift. .Unfer Eins muß fehen, wie er jeden 
Abend den Mißmuth und Xerger des Tages los 
wird, denn der nächfte Tag bringt neuen, ver: 
laß Dich darauf! Sei Bein Thor und gehe fo 
miferabel zu Bett; komm mit herein!« 

Friedrich fühlte fi) fo dumpf und ſchwung⸗ 
los, daß er fich überreden ließ. Er hoffte, die 
Luft der Andern folle ihn zerftreuen. Und luſtig 
genug ging ed in dem Saale her, in den fie 
traten und in dem diejenigen Mitglieder Der 
Commune ſich den Weihnachtsbaum bereitet hat 
ten, welche, ohne Kamilienverbindung in der Stadt, 
den Abend doch nicht einfam verleben wollten. 

Unter einem großen Zannenbaum, an dem 
noch bie und da ein Lichtftümpfchen brannte, hier 


154 


eine zurüdgelaffene Citrone, dort eine Traubro: 
fine hing, flanden in wuͤſtem Durcheinander leere 
Bouteillen und Gläfer umber, während auf 


dem Tiſche in einem großen Keffel über einer 


Spirituöflamme neue Punfchvorräthe gebraut 
wurden, bie ein langer, bartiger Student, als 
Weihnachtsmann phantaftifch herausgepußt, in 
die großen Gläfer füllte, welche mit bewunderns⸗ 


werther Schnelligkeit geleert wurden. Ein ges 


mifchter Geruch von Arrak, Eitronen und Wein 
machte fich felbft durch die Tabakswolken und 
den Dampf der Spiritusflamme bemerflih, und 


lautes Lachen empfing die Kommenden, ald Larfe 


fen mit einem: 
»Du beiliger Chrift, ich bin Dein Gaft, 
Kredenz mir, wad Du gebrauet haft!« 


k 


in dad Zimmer trat und dem Weihnachtömanne \ 
das erfte befte Glas zu füllen reichte, das ihm ‘ 
in die Hände gefommen war. Er fchlürfte den ' 
heißen Trank fo fchnell als möglich hinunter, * 
ließ fein Glas gleich ein paar Mal hintereinans ’ 
der wieder voll gießen und rief, nachdem er das 3 


dritte geleert: »Gottlob! nun wird mir wieder; 





155 


wohl, nun find alle gebildeten Erinnerungen, 
aller Familienfegen mweggefpült und man ift wie: 
der ein Menſch geworden! Seht nur zu, daß 
Ihr dem Brand auf die Beine helft, denn der 
ift auch hoͤlliſch herunter!« 

Ganz gegen feine fonftige Art hatte Friedrich 
mit der bewußten Abficht, fich zu übertäuben und 
fi in die Stimmung feiner Umgebung zu ver: 
ſetzen, Larſſens Beifpiel nachgeahmt und fühlte 
mit Luft, wie dad heiße Getränk fein Blut er- 
regte, feine Pulfe fchneller Plopfen machte. 

Larſſen fah es mit Freude. »Heute fange ich 
an zu glauben, daß aus Dir doch noch ein or: 
dentlicher Paftor werden wird,« rief er, »und es 
thut uͤberhaupt meinem Herzen wohl, daß bie 
Mehrzahl der hier verfammelten lieben Jugend 
aus Zheologen befteht. Da hat man doch Hoff: 
nung, daß Gottes Wort mit Verſtand gepredigt, 
und den armen Bauern, die fich die Woche über 
die Knochen lahm gearbeitet, nicht am Sonntag 
Buße und Kafteiung des Fleifches gepredigt 
werden wird. Auf luftige Sonntage, auf menfc- 
lihes Gepredige!« 


156 


Die Theologen fließen an, und Einer von 
ihnen, der für den wildeften Gefellen der Univer- 
fität gehalten wurde, erhob fich zu einer Probe: 
predigt, in der tolle Blasphemieen und wuͤſte 
Einfälle einander jagten und ein unmäßiges La— 
chen der Uebrigen erregten. Auch Friedrich, ob- 
ſchon folcher Parodie deflen, was er heilig hielt, 
im Inneren gänzlich abgeneigt, hatte fich des La⸗ 
hend nicht erwehren koͤnnen; nur als Iener geen⸗ 
det hatte, fagte er ihm: »Nimm Dich in Acht! 
Du wirft ein Pietift werden!« 

Ein neuer Ausbruch von Lachen erfolgte die⸗ 
fer Behauptung. »Eher ein Scharfrichter!« ſchrie 
der Redner, und Larſſen fagte: »Was ift ein 
Scharfrichter anderes, als ei Mann, der fcharf 
richtet? Scharfrichterei in weltlichen Dingen ift 
Pietismus, lieber Junge! Aber Brand ift bes 
trunfen, endlich einmal betrunfen, denn er redet 
in Zungen, in ven Zungen des heiligen Wein⸗ 
geiftes — er prophezeit!« j 

»Nein!« rief Friedrich, »ich bin nicht betruns 
fen! Muß man betrunfen fein, um zu wiſſen,“ 
daß Spott über folche Dinge fich in fein Gegens 


157 


l verwandeln muß? Seht und hört Ihr denn 
t das fireng Dogmatifche in diefem Spöt- 
der dad Dogma verhöhnt, weil feine 

schtfchaft unter daffelbe ihn beängftigt? Ihr 
det es erleben, daß er und verfegert, wenn 

nicht an die Mirakel glauben, — Sr wer: 
ed erleben! — « 

»Ein Mirakel! ein Mirakfel!« rief es von 
er anderen Seite, »Brand redet in Zungen. 
» prophezeit! Wir wollen ihn unter die Bei- 
ı Propheten aufnehmen!« 

»Und Larffen unter die Großen!« 

»Ja, unter die großen!« rief Larfien. »Mehr 
nf ber, damit ich voll werde des Geiftes 
d Raͤthſel loͤſe und Wunder wirke wie ein 
ophet, wie ein olympiſcher Gott, wie ein 
hrſagender Apollo!« 

»Ein Apollo!« wiederholte der Chorus, und 
rien, der bereits weit über fein ohnehin reich: 
es Maaß getrunken hatte, fprang auf, riß den 
yerrod® vom Leibe, die Cravatte vom Halle, 
ıch zwei Zannenzmweige vom Weihnachtöbaume 
d bog fie zum Kranze zufammen, den er fich 


158 


auf dad Haar drüdte Dann flieg er auf. 
den Tiſch, feßte fi) auf den Stuhl, den früs 
ber der Weihnachtsmann vingenommen, fo 
dag er den rauchenden Keffel vor fich hatte, 
und rief: »Kommet zu mir Shr Alle, Denen 
der Genuß der Gegenwart ein unverflandenes 
Problem und die Zukunft ein dunkles Geheim: 
niß ift, daß ih Euch die Gegenwart erheitere 
‚und die Zukunft verfünde, denn ich fage Euch, | 
wenn Ihr die Gegenwart nicht zu genießen vers Ä 
fteht, fo ift Eure Zukunft für Euch verloren! Und | | 
ed find Viele unter Euch, deren urgermanifche. 
Beſtialitaͤt nicht Stand halten wird vor der Ver⸗ 
fuͤhrung ehrbarer Philiſterei und vielverſprechen⸗ 
der Transſcendenz! Ich aber werde ſtehen, wenn 
Ihr Alle gefallen ſeid, mein Haupt bekraͤnzt wie 
in dieſer Stunde, und ein Apollo werde ich vow 
der Vergangenheit erzählen, von allen entſchwun⸗ 
denen Semeftern, von allen braven Burſchen— 
die ein Paftor als Charon über den Acheron bei 
Brautftandes in den Styr. der Polizeiche führte. 
in dem fie untergingen in Chrbarkeit und Ver 
gefienheit. Und ich werde emiges Leben un— 


u 


159 


Sugend dem verfünden, der mit mir blei- 
ewiger Student, nie endende Sympofien 
nach Art der göttlichen Hellenen !« 
ne Spradye wurde undeutlich, er wieder: 
rwirrt das Wort Hellenen mebrmalß, aber 
ochte Feine Fortfeßung zu finden. »Die 
n Hellenen!« rief er immer und immer 
bis fein Auge auf Friedrich fiel und er, 
tex.Kraft zufammenraffend, in die Worte 
h: »Da fist der Paris, der um die fchöne 
freit!« | 
? von einem Dolchſtoße getroffen, zudte 
h zufammen, fprang empor und verließ 
‚mach. 


Zehntes Kapitel. 


Als verfolge ihn ein böfer Geift, fo raftlos 
eilte Friedrich durch die Straßen. Ein dichter 
Schnee, vom feuchten Winde getrieben, wirbelte 
in der Luft und flog kalt gegen dad Geficht des 
Sünglings, er bemerkte es nicht. Athemlos er: 
reichte er feine Wohnung, und erft ald ihn die 
Einfamteit feined Pleinen Stuͤbchens umfing, rief 
er fo gepreßt, al ringe fich der Ton gewaltfam aus 
den innerften Tiefen feiner Bruft hervor, den 
Namen, der feit Wochen allein in ihm gelebt, 
den er nicht auszufprechen gewagt hatte vor fih 
felbft, den Namen der Geliebten: »Helene!« 

Und immer leifer, immer inniger wieberhalte | 


161 


re den theuren Namen, bis heiße Thränen aus 
inen Augen flürzten, denn das Bewußtwerden 
er Liebe. war dem Juͤnglinge ein Schmerz, er 
tzitterte unter biefer gewaltfamen Umgeftaltung 
eines Weſens. Dann fehlug aber eine helle 
freude in feinem Herzen empor. Ja! das war 
ie Weihnacht, die er erwartet! Ihr Wunder hatte 
ih an ihm erfüllt, in niebriger Umgebung, die 
Richtö ahnte von der Herrlichkeit, war ihm der 
Stern erfchienen, dem er fortan folgen mußte 
ur und für. 

Legt plöglich wußte er Alles, was ihn be= 
vegt, erfreut, gepeinigt, jetzt verfiand er fich 
elbft. 

Als der Tag anbrach, wurde er ruhiger. Er 
rat an's Fenſter und lehnte die brennende Stirne 
mn die Scheiben. Der Plargewordene Himmel 
eganın fich röthlich golden zu färben. Durch⸗ 
euchteter Rauch wirbelte aus den Eſſen Eerzen- 
rade in die Winterluft empor, der Schnee auf 
en Dächern funkelte in der auffteigenden Sonne. 
sm Nachbaröhaufe öffnete man die Laden, e& 


yohnte ein Gerber darin, ein Freund feines Va— 
WBandlungen 1. 11 


162 


terö, der den Kopf herauöftedte, dad Wetter zu 
prüfen, und Friedrich freundlich zunidte, da er 
ihn gewahrte. Das gefchah an jedem Tage, heute 
aber wunderte der Süngling fich darüber, eben 
weil ed das Alltägliche war, und das Alltägliche rief 
ihn in die Wirklichkeit zurüd. Er fah die Kluft, 
die ihn von Helene trennte, er mußte fich ihrem 
Bruder, dem Freunde anvertrauen und willen, 
was Diefer Davon denfe? 

Es war noch früh, ald er das Heidenbrud’- 
fche Haus erreihte. Die Dienerfchaft ging in 
leifer Gefchäftigkeit umher, die Vorkehrungen für 
die Bedürfniffe ded Tages zu treffen; Erich felbft 
faß behaglich bei feinem Frühftüd. 

»Du kommſt mir fehr erwünfcht,« fagte er; 
»ich wollte eben dem Diener ein Billet für Dich 
zur Beforgung geben, denn wir fahren Mittags 
Ale zu meinem Onkel. Der Graf ift zurüd, 
wird ein paar Tage in Steinfelde bleiben, und 
da gehen wir Alle auch hinaud.« 

»Melcher Graf?« fragte Friedrich. 

»Der Graf St. Brezan!« 

»Und feinetwegen brecht Ihr Alle auf?« 


163 


»Es ward verabredet fchon ald er Damals hier 
war!« fagte Erich gleihmüthig, während er fich 
erhoben hatte und vor dem Spiegel mit der fei- 
nen Parifer Bürfte feinem blonden Haare den 
legten Strid) gab. »Meine Eltern halten ihn 
fehr hoch, und ſolch' junge Excellenz, an allen 
europäifchen Höfen heimifch, gefällt ja den Frauen 
ein für allemal. Dazu macht er Helenen aud) 
den Hof!« 

Friedrich antwortete Nichte. Er preßte Die 
Hand krampfhaft um die Lehne feines Stuhles. 

Er hatte dem Freunde jebt Nichts mehr zu 
ſagen. Er verftand nicht, was jener mit ihm 
wegen bed erften Balles fprach, der am Sylve⸗ 
ſterabende ftattfinden follte, und brach plöglich, 
trotz Erich's Bitte zu verweilen, mitten in der 
Unterredbung auf, von marternder Eiferfucht ge: 
trieben. 

Unthätig aus Hoffnungslofigkeit, von der 
Macht feiner Liebe zu neuem Hoffen und verdop- 
pelter Arbeit angefpornt, voll Sehnfucht nad) 
dem Anblid der Geliebten und doc bange vor 
dem Begegnen mit ihr, befand er ſich in einem 


164 


fieberhaften Zuftande, ald der Sylveſterabend an= 
brach und die Stunde herantam, in der er fidh 
für den Ball zu Eleiden hatte. 

Seine Eltern waren gefommen, ihn in feiner 
Herrlichkeit zu fehen. Während der Vater auf 
einem Stuble in der Dfenede Pla genommen, 
betrachtete die Mutter mit Wohlgefallen die ein- 
zelnen Gegenftände des Galla-Anzuged, und wurde 
es nicht muͤde, das feine Zuch des blauen Frads, 
ber weißen Gafimir- Escarpins, die Enifternde 
Seide der Strümpfe mit taftender Hand zu be- 
rühren und fich über die gute Wäfche der Cra⸗ 
vatte und: der Wefte auszulaſſen. Liebevoll fah 
fie zu, wie der Sohn das dunkle, glänzende 
Haar über die Stirn ordnete, wie er bie einzels 
nen Kleidungsftüde anlegte, überall wollte fie 
ibm helfen. Die Liebe des Weibes hat folchen 
Genuß an ihrer Dienftbarkeit und die Mutterliebe 
vor Allem fühlte ſich beglüdt, dem erwachfenen 
Kinde einmal nicht entbehrlich zu fein. 

Obſchon ganz erfüllt von dem nahen Wieder: 
fehen der Geliebten, das er, nach einem Briefe 
Erich's, auf dem Balle zu erwarten hatte, und 


165 


beunruhigt durch den Gedanken, ob der Graf 
noch anweſend fei und die Familie begleiten 
werde, ließ der Juͤngling doch die Mutter mit 
Hingebung gewähren, wenn fie bald dieſes, bald 
jenes an feiner Kleidung zu verbeflern wuͤnſchte 

Als er fertig war, den Degen angeftedt hatte 
und nun die breite, weißfeidene Schärpe mit den 
fchweren Silberfranzen, welche die Entrepreneure 
trugen, über die Schultern hing, daß die Enden 
lang an ber linfen Hüfte herunterfloffen, da flog 
ein Lächeln über feine Züge. Er freute fich fei- 
ner eigenen Wohlgeftalt, und fich diefes Gefühles 
als einer Eitelkeit fehämend, umarmte er bie 
Mutter. 

»Sieht er nicht wie ein Prinz aus, Vater ?« 
fragte fie den Meifter und reichte Friedrich den 
Slaquehut hin. 

„Wir hätten auch anders auögefehen, hätten 
wir’ gehabt wie er,« entgegnete der Meifter, 
»aber wer Tag aus Tag ein an der Hobelbant 
fieht oder am Wafchtrog, der behält einen glat- 
ten Rüden und Eriegt Schwielen an den Han: 
den. Gut für ihn, daß der Junge gefunde Glie- 


166 


der hat!« Mit diefen Falten Worten gab er dem 
Sohne ald Zeichen der Zärtlichkeit einen derben 
Schlag auf die Schulter und fagte, fich neben 
ihn vor den Spiegel ftellend: »Ich bin doch 
noch größer ald er, und fo breitfchultrig wie ich 
wird er auch nicht, er bleibt fchmächtig!« 

»Er ſchlaͤgt in unfere Familie, die find Alle 
mager, aber ed fehlt doc, Keinem was, mir hat 
auch Nichts gefehlt all mein Lebetag!« meinte 


die Mutter, glüdlich, fi) den Sohn, wenn auch | 


durch eine Unvollflommenheit noch mehr angeeig- 
net zu finden, »und,« fügte fie hinzu, »ich möchte 


ihn wohl im Saale fehen und wiffen, mit wen | 


er zuerſt tanzt!« 

»Er Fann ſich's ja nicht ausfuchen,« fagte Der 
Meifter, ver muß mit der Vornehmſten tanzen.« 
»Mer wird das fein?« fragte die Mutter. 

»Die Baronin von Heidenbrud,« entgegnete 
Friedrich. 

»Die alte Frau kann .doch nicht tanzen ?« 

»Nur eine Polonaife zur Eröffnung des Balles, 
dann kommt der Walzer!« 

»Mit wen tanzeft Du den?« 


. 
u 


167° 





»Mit Heidenbruf’d Schwefter!« 

»Alſo wieder mit der Vornehmſten,« rief der 
Bater, »und dann mit der Reichften, und wenn 
fie alt und fchief und krumm wären, fo geht's in 
der Welt! Ich hab’ Dir's ja gefagt! Und das 
rechnen fie fih zur Ehre an!«“ 


»Iſt Die Schwefter des jungen Barons fo 
haͤßlich?« fragte die Mutter. 


„Helene häßlich?« rief Friedrich mit einem 
folhen Zone des Entzüdens, daß der Vater ihn 
fcharf mit feinen grauen Augen anfah und eine 
Trage auf den Lippen hatte, ald ein Wagen vor 
die Thür rollte und Friedrich fich abmwendete, um 
dem Blid des Vaterd auszumweichen. Gleich dar 
auf trat Erich's Diener in großer Livree herein, 
zu melden, daß der Baron Herrn Brand er: 
warte. Die Mutter blidte wohlgefällig zum 
Vater herüber, Frierrih gab den Eltern die 
Hand und eilte hinaus. Die Mutter wollte ihn 
begleiten, der Alte hielt fie zurüd. 

»Er hat jaeinen Diener !« fagte er fo laut, daß fein 
Sohn ed noch hören konnte, und unter dem Eindrud 


168 





diefer fpottenden Worte erreichte Friedrich das 
Rathhaus, in dem der Ball gefeiert wurbe. 

Der Lichtglanz des Saales, die gefchmiüdten 
Frauen, die eigene Feſtkleidung hoben feine Stim— 
mung, ed war ihm froh und feierlich zu Muthe, 
er fühlte die Luft deö Gebietens, Alles was ihn 
gehemmt, gebrüdt in diefer Zeit, war von ihm 
genommen und mit freudiger: Spannung hingen 
feine Blide an der Eingangöthüre, jeder Bewer 
gung in den Vorzimmern folgend, die ihm das 
Kommen der Geliebten zu verkünden fchien. 
Mehrmals hatte er fie zu erfpahen geglaubt, und 
immer war fie es noch nicht gewefen. Jetzt plöß- 
lich fah er den Kopf des Barons die Umftehen- 
den überragen, fein Herz wallte auf, feine Augen 
leuchteten, im naͤchſten Augenblide war: er an 
Helenens Seite, ihr den Arm zum Eintritt in 
den Saal zu bieten. 

Schöner war fie nie gewefen, ald in dem 
weißen Seidenfleide, deſſen matter Glanz die 
Srifche ihrer Farben hervorhob, ald mit der voll: 
erblühten Rofe in den Loden, liebreizender war 
fie ihm nie erfchienen, als jest, da fie mit den 


169 


Worten: »Wie lange habe ich Sie nicht gefehen!« 
die fchönen Augen zu ihm aufhob. 

»Ja lange, lange nicht!« rief Friedrich — 
»aber Sie find ja wieder hier!« 

»Ich bleibe auch hier!« bekräftigte Helene. 
Friedrich athmete auf. Welche Seeligkeit lag für 
ihn in diefen Worten! Und wie nun die Trompeten 
fchmetterten durch den Saal, wie er die Geliebte 
in feinen Armen hielt, abgetrennt von der Menge 
um fie ber, fein ganz allein in dieſem Augen- 
blide, da war er vor überfluthender Wonne fei- 
nes Wortes mächtig. Sie Fannte und fie theilte 
feine Liebe, denn fie hatte feine Eiferfucht befänf: 
tigt. »Gut wie der Allgütige!« rief er entzüudt, 
und ald Helene bei den Worten verwundert zu 
ihm emporſah, da traf fie aus feinen Augen ein 
jo voller Strahl der Liebe, daß fie zitternd Die 
Augen fenfte, und fih Schuß fuchend feſter an 
den Arm des Sünglings hing, vor deffen Macht 
über fie ihr Herz erbebte. 

Sn immer fteigender Freude fehwand den 
Liebenden der Abend dahin, auch Eornelie fchien 
eine Andere und heiterer zu fein, als fonft. Sie 

11 * 


170 


trug ihr Haupt frei empor und Friedrich fiel es 
auf, mit welcher Luft fie tanzte. Sie hatte mehr- 
mald gegen ihn auögefprochen, daß der Tanz 
ihr keine Freude made und daß fie ihn vermei- 
den würde, hätte man ihr nicht verboten, fich 
davon auszufchließen. Er erinnerte fie an ihre 
frühere Behauptung und fragte, wodurch dieſe 
Veränderung in ihr bewirkt worden fei. 

»Nun,« entgegnete fie ihm, »da Ste mid) fo 
ehrlich fragen, will ich Ihnen ebenfo ehrlich ant⸗ 
worten. Sch habe in Steinfelde die Bekannt⸗ 
fchaft eines Mannes gemacht, der mir eine an- 
dere Anficht über die meiften Dinge beigebracht 
hat, die mir zuwider waren, weil fie mir fo leer 
und oberflächlich fehienen !« 

»Und wie ift ihm das gelungen?« 

»&r hat mir bewiefen, man thue Xeußer- 
lichkeiten zu viel Ehre an, wenn man fie mit 
Abneigung betrachte, und es fei ebenfo thöricht, 
ſich gegen fie zu fträuben, als fie mit Vorliebe 
zu fuhen. Man müffe ſich gewöhnen, fie mit 
Sleichgültigkeit zu behandeln und feine Seele ge- 
gen ihren Einfluß ftählen, wie man feinen Kör- 


171 


per abhärte gegen die Einwirkungen eines Wit- 
trungäwechfeldö, denen man fich nicht entziehen 
fönne.« 

»Und darum gewährt Ihnen der Tanz mehr 
Sreude ald biöher?« 

»Ich habe nicht mehr das Mißgefühl, wel: 
hes ich fonft dabei empfand. Ihnen darf ich 
a8 fagen, denke ich, da ich ed Ihnen gegenüber 
yeniger hegte, ald im XAllgemeinen.« 

„Aber worin beftand denn dieſes Mißgefühl?« 
richte Friedrich weiter. 

»In dem Bemwußtfein meiner Häßlichkeit! 
(ber auch diefe habe ich als etwas zu Wichti- 
ed angefehen!« antwortete Gornelie Mt einer 
eftigen Selbftüberwindung, die ihr Geficht mit 
unfler Röthe überzog. 

Friedrich betrachtete fie mit Verwunderung, 
er gewaltfame Freimuth Eleidete fie vortrefflich, 
3 war ald hätte man einen Bann von ihr 
enommen, fo ſtolz und ficher blidte fie um⸗ 
er. 

»Und wer ift der Mann, der diefe Aenderung 
hrer Anfichten bewirfte?« fragte Friedrich. 


172 


»Es ift ein Herr von Pleffen, Sie werben 
ihn kennen lernen, da er uns befuchen wird, fo- 
bald er in die Stadt zurüdkehrt.« 

»Wer wird und befuchen?« fragte ihr Bru— 
der, der diefe lebten Worte gehört hatte, da bie 
Paare nach beendetem Tanze nahe aneinander 
vorübergingen. 

»Herr von Hleſſen!« antwortete fie mit einem. 
Zone der Vertheidigung, ald wolle fie einen An- 
gegriffenen aufrecht erhalten. Indeß Zriedrich 
achtete nicht weiter darauf, denn er wurde mit 
Schreden gewahr, daß die Baronin fich erhob, 
daß die Töchter nach ihren Mantillen griffen, 
lange ehe der Gotillon begann. 

»Die Deinen gehen fort,“ rief er beftürzt 
feinem Freunde entgegen, »und Deine ältefte 
Schmefter hat mir den Cotillon verfprochen !« 

»Sie ift immer diefelbe!« lachte Erich, waͤh⸗ 
rend fie fich zu den Damen verfügten, und ge— 
gen Helene gewendet fragte er: »Haft Du vergef- 
fen, daß die Eltern niemald bis zum Cotillon auf 
dem Balle bleiben, Helene? Wie Fonnteft Du 
Dich dazu verfagen?« 


173 


»Ich hoffte, die Mutter würde eine Aus- 
nahme machen !« 

»Und weshalb das?« 

»Weil ich es wünfchtel« antwortete fie mit 
einer folchen Anmuth, daß Erich, beftochen von 
ihrem Liebreiz, felbft einen Verſuch machte, Die 
Eltern zu längerem Verweilen zu beftimmen. 
Da es ihm nicht gelang, fagte er fcherzend: »Du 
fiehft nun, Friedrich, was man von den Verfpre: 
hungen diefes leichtfinnigen Mädchens zu erwar: 
ten hat!« aber diefe arglofen Worte machten 
einen peinigenden Eindrud auf den Freund und 
auf die Schwefter. Er begehrte einen Wider: 
ſpruch von ihr zu hören, Helene ihm feinen 
Zweifel gegen fich zu laffen, und alö er ihr in 
den Wagen half, ald ihre Hand in der feinen 
ruhte, fagte fie leife, kaum hörbar felbft für das 
Ohr des Liebenden: »Ich bin nicht leichtiinnig !« 

Dann entfhwand fie feinem Auge, der Wa— 
gen rollte davon und der Süngling blickte ihr 
nach, eine ungeahnte Seeligkeit im Herzen. 


Elftes Kapitel. 





Während dies neue, flille Liebesleben das Das 
fein des Juͤnglings verfchönte und Helene fich 
ohne vorwärts zu bliden in dem Zauber der Ges 
genwart wiegte, fah Friedrich fich zu einer erhoͤh⸗ 
ten Schätigkeit gezwungen, da fein Vater ſchwer 
erkrankt war und jest die Sorge für den Unter- 
halt der Eltern ihm allein oblag. Aber die Ju⸗ 
gend beſitzt eine Schnellfraft, welche alle Ans 
ſtrengungen fpäterer Jahre übertrifft. Obſchon 
des Erwerbes wegen genoͤthigt, die Zahl der Un⸗ 
terrichtsſtunden, welche er ertheilte, faſt zu ver⸗ 
doppeln, ſetzte er die Vorbereitungen fuͤr ſein 
Examen fort und arbeitete mit hoͤchſtem Eifer an 


175 


der Loͤſung einer Preisaufgabe, die begonnen zu 
haben, er felbft dem Freunde verheimlichte. 

Von Jugend auf gewöhnt, den Unterfchied 
der Stände und der. Lebendverhältniffe ehrend 
anzuerkennen, war er ſich der. Kluft bewußt, 
welche ihn von der Geliebten trennte, er fagte 
fih, daß e8 Thorheit fei an ihren Beſitz zu den⸗ 
fen, Thorheit ihr von einer hoffnungslofen Liebe 
zu fprechen, ein Unrecht fie in ein Verhältniß zu 
verloden, das ihre Eltern niemals billigen, das 
felbft Erich, trog feiner Treue für den Freund, 
zum Gegner haben würde, und doch blidte er 
firebend und hoffend in die Zukunft, doch trach- 
tete er ſich auszuzeichnen, feine Laufbahn fo fchnell 
ald möglich zu vollenden, um Helenens willen. 

Die Abende, welche er meift im Kreife ihrer 
Eltern zubrachte, waren fein Lohn für die Mühe 
des Tages und gewannen an Bedeutung und 
Anregung, feit Herr von Pleflen ein Gaft des 
Haufed geworden war. Ohne Vermögen, hatte 
feine Familie ihn für das Militair beflimmt, aber 
er hatte diefen Beruf verlaffen und fich dem Stu: 
dium der Theologie zugemendet, da feine fhwache 


176 


Gefundheit ihm zeitig den Glauben an einen 
frühen Zod, und damit die Neigung zu ernften 
Betrachtungen über dad Wefen und die Zukunft 
des Menfchen gegeben hatte. 

Es war noch im Laufe des Winters, als 
Friedrich ihn zum erſten Male fah, da er an einem 
Sonntage früher ald gewöhnlich dad Heidenbrud- 
fhe Haus beſuchte. Er fand ihn mit Gornelie 
allein, in einem nachdenklichen Schweigen, das 
nur die Folge eined tiefgehenden Gefpräches fein 
konnte. Als die Männer einander vorgeftellt 
wurden, bot Pleflen dem Ankommenden die Hand 
und fagte: »Mich duͤnkt, wir find uns Feine Frem⸗ 
den mehr, und wären wir ed, fo müßte der ge- 
meinfame Beruf und dad uns ebenfo gemeinfame 
Streben nach Selbflveredlung uns doch bald vers 
binden !« 

Es lagen ein milder Ernft und eine gewin- 
nende Freundlichkeit in den Worten, die einen 
fehr angenehmen Eindrud auf Friedrich machten, 
und ſchon nad wenig Augenbliden fand er fich 
in eine Unterhaltung verwidelt, die ihn ſpan⸗ 
nend feffelte, 


177 


1 »Ich habe einige Jahre von unſerer Vaterſtadt 
sp entfernt gelebt,« ſagte Herr von Pleſſen, »und 
bin uͤberraſcht geweſen, unter unſeren Mitbuͤrgern 
bei meiner Ruͤckkehr einen Luxus und eine Ver⸗ 
gnügungsfucht herrfchend zu finden, melde ich 
in derfelben fonft nicht beobachtet. E8 ift jekt 
bier, wie in fo vielen großen Städten, man 
lebt in oberflächigen Genuͤſſen das Dafein hin, 
als ob es allein darauf ankaͤme, fih am Tage 
zu übertäuben, um die Nacht ermüdet zu ver- 
Schlafen. Sened Ringen nad) fittlicher Entwick⸗ 
lung, nach einem höheren, geiftigen Ziele, von 
dem man im Baterlande zu Anfang dieſes und 
zu Ende des vorigen Jahrhunderts fo tief erfüllt 
war, daß es fich noch heute in der Literatur je= 
ner Epoche deutlich ausfpricht, davon ift Feine 
Mede mehr, Der Sinn für ein höheres Leben 
ift in Deutfchland faft nirgend mehr vorhanden.« 
»Und ift er Ihnen im Auslande lebhafter er: 
fchienen ?« fragte Zriebrich. 
»Sa! viel lebhafter. England ift entfchieden 
idealiſtiſch, d. h.religiös, man forgt für feine Seele, 


man iſt fich ihres Zuſammenhanges mit ihrem 
Wandlungen. I. 12 


170 


trug ihr Haupt frei empor und Friedrich fiel es 
auf, mit welcher Luft fie tanzte. Sie hatte mehr- 
mald gegen ihn auögefprochen, daß der Tanz 
ihr Feine Freude mache und daß fie ihn vermei- 
den würde, hätte man ihr nicht verboten, fich 
davon auszufchließen. Er erinnerte fie an ihre 
frühere Behauptung und fragte, wodurch diefe 
Beränderung in ihr bewirkt worden fei. 

»Nun,« entgegnete fie ihm, »da Sie mich fo 
ehrlich fragen, will ich Ihnen ebenfo ehrlich ant-= 
worten. Ich habe in Steinfelde die Bekannt- 
fhaft eines Mannes gemacht, der mir eine an⸗ 
dere Anficht über die meiften Dinge beigebracht 
bat, die mir zuwider waren, weil fie mir fo leer 
und oberflächlich fchienen !« 

»Und wie ift ihm das gelungen?« 

»Er hat mir bewiefen, man thue Aeußer⸗ 
lichkeiten zu viel Ehre an, wenn man fie mit 
Abneigung betrachte, und es fei ebenfo thöricht, 
fich gegen fie zu flräuben, ald fie mit Vorliebe 
zu ſuchen. Man müffe fi) gewöhnen, fie mit 
Sleichgültigkeit zu behandeln und feine Seele ge- 
gen ihren Einfluß ftählen, wie man feinen Kör- 


179 


nachft im Auge hat, aber ift dies errungen, fo 
wird man, wenn ich mich nicht ganz in dem 
Charakter jenes Volkes täufche, fich von der frei- 
gewordenen Erde zum Himmel wenden, und aus 
der göttlichen Gnade die Kraft gewinnen, bie 
irdifhen Dinge durch Liebe und Frieden zur Hei⸗ 
ligung zu bringen.« 

»Und. erwarten Sie diefen religiöfen Auf: 
ſchwung von den Proteflanten oder von den Ka⸗ 
tholiten ?« fragte Friedrich. 

Pleſſen blidte ihn eine Weile prüfend an und 
entgegnete dann nach einem Eurzen Nachdenken: 
»Ich weiß nicht, in wie fern ich Damit gegen Shre 
Ueberzeugungen verftoße, wenn ich Ihnen be= 
Eenne, daß ich die religiöfe Erhebung der Zukunft 
zunächft von dem Katholiciömus erwarte.« 

»Bom Katholicismus?« rief Gornelie betroffen, 
»und Sie find ein flrenger Proteflant !« 

Ohne darauf beflimmt zu antworten, fagte 
Pleſſen: »Der Proteftantismus, aus dem unfere 
neue Philofophie hervorgegangen ift, hat gerade 
durch dieſe lebtere die Menfchen flumpf und 


einfeitig gemacht, und da die Deutichen fich vor: 
12* 


172 


»&8 ift ein Herr von Plefien, Sie werden 
ihn Eennen lernen, da er uns befuchen wird, fo- 
bald er in die Stadt zurüdkehrt.« 

»Wer wird und befuchen?« fragte ihr Bru- 
der, der diefe letzten Worte gehört hatte, da Die 
Paare nach beendetem Tanze nahe aneinander 
vorübergingen. 

»Herr von Hleſſen!« antwortete fie mit einem. 
Zone der Vertheidigung, ald wolle fie einen An- 
gegriffenen aufrecht erhalten. Indeß Friedrich 
achtete nicht weiter darauf, denn er wurde mit 
Schrecken gewahr, daß die Baronin fich erhob, 
daß die Töchter nach ihren Mantillen griffen, 
lange ® der Gotillon begann. 

»Die Deinen gehen fort,« rief er beſtuͤrzt 
feinem Freunde entgegen, »und Deine ältefte 
Schweſter hat mir den Eotillon verfprochen !« 

»Sie ift immer diefelbe!« lachte Erich, wäh: 
rend fie fich zu den Damen verfügten, und ge- 
gen Helene gewendet fragte er: »Haſt Du vergef- 
fen, daß die Eltern niemald bis zum Cotillon auf 
dem Balle bleiben, Helene? Wie konnteſt Du 
Dich dazu verſagen?« 


181 


nflitutionen und Schranken, deren der Menfch 
icht wohl entrathen kann.« 

»Und welche find da8?« forfchte Cornelie. 

»Bor allen Dingen die tägliche Andacht und 
er Befuch der Kirche. Es ift unfchägbar, daß 
er Menfch in den geheiligten, edel fchönen Raͤu⸗ 
ıen einer Kirche täglich, und wäre ed auch nur 
ir wenige Minuten, abgetrennt wird von dem 
rftreuenden Tagewerk, von dem Drängen und 
Yaften des Alltagslebens, daß feine Seele durch 
Bere Nöthigung gewöhnt wird, ihrer felbft all- 
‚glich zu gedenken und fich ihres erhabenen Urs 
rungs zu erinnern. Bweitend aber halte ich 
ich eine Autorität in Glaubendfachen für ein 
luͤck, weil fie, dem Menfchengeifte und feinem 
uchtlofen Forſchen Schranken feßt.« 

Friedrich, obfchon felbft von Herzen gläubig, 
flritt diefe Anficht. Er meinte, dem Gläubigen 
nne die Forſchung nur Beftärkung feined Glau⸗ 
nd gewähren; jedoch Herr von Pleffen ließ fich 
durch nicht irren, und fo ernfthaft Iener auch 
8 Recht der unbefchränkten Forſchung zu ver⸗ 
ten wußte, blieb fein Gegner dabei, jedes For⸗ 


182 


hen fruchtlos und gefährlich zu nennen, das fich 
auf dad eigentliche Weſen des Menfchen richte, 
weil die Grenzen deflelben, Anfang und Ende, 
eben undurchdringliche Geheimniffe bleiben wuͤr⸗ 
den, und man leicht auf Irrwege gerathe, wenn 
man fich von der einzig ficheren Straße ded Glau⸗ 
bens und der Offenbarung entferne. 

»MWirthun befler,« meinte er, »wenn wir unfer 
Merden und Dafein als eine Gnade annehmen, 
unfer Ende vertrauend in die Hand bed Allgütis 
gen legen, und und innerhalb der geſteckten Schran⸗ 
fen erziehen für ein höheres Schauen, dad und 
einft ficher vergönnt fein wird, wenn wir bie 
Zeit unferd Erdenwallend benußten, fo weit es 
in unferen Kräften fteht, der ‚niederbrüdenden 
Noth des außeren Lebens zu wehren, damit geis 
flige ‚Erhebung und dadurch wahre Heiligung 
möglich werde für alle unfere Mitmenfchen.« 

Der Eintritt des Barond unterbrady die Un: 
terredung und ſtets fein Ziel im Auge, wendete 
Herr von Pleſſen fie geichicdt auf die Lage der 
ländlichen Zagelöhner, über die der Baron bie 
befte Auskunft zu geben wußte, und die kennen 


183 


zu lernen für die beiden jungen Theologen gleich 
bedeutend war. 

Herr von Pleffen hatte fich über diefe Ver: 
hältniffe in England und Amerifa genau zu un- 
terrichten geftrebt, und bald hatte dad Gefpräch, 
nachdem der Doctor und Erich dazu gekommen 
waren, eine ganz praftifche Richtung genommen, 
bei welcher der Doctor feine Erfahrungen unter 
den niederen Ständen, Erich feine fameraliftifchen 
Studien, die Baronin ihre Bemerkungen über 
das Familienleben der Gutsinſaſſen und die Zu: 
ftände der dienenden Klaffe gleichmäßig zu ver: 
wehrten und fürderlih zu machen im Stande 
waren, während alle Anwefenden mit der Auf: 
klaͤrung neuen Anreiz zum Helfen und neuen 
Muth für günftige Erfolge gewinnen mußten. 

Mochten nun dabei auch die Anfichten des 
Barond, der fich es nicht nehmen laffen wollte, 
dad Gute, welches er zu fürdern bereit war, als 
einen Act der freien Gnade anzufehen, weit ab- 
liegen von des Doctord Ueberzeugung, daß der 
Arme Hülfe zu fordern berechtigt, und daß fie zu 
gewähren nicht Gnade fondern Pflicht fei, fo wußte 


184 


— — — — 


Pleſſen durch geſchickte Uebergaͤnge ausgleichend 
und vermittelnd zu wirken; und als man ſich 
ſpaͤt am Abende trennte, ſchied Friedrich mit einem 
Gefühle der Theilnahme und Verehrung. von dem 
neuen Bekannten, obfchon Vieles in feinen An- 
fihten ihm fremd und und unannehmbar bünfte, 
und er fih zu feiner eigenen Verwunderung 
des Gedankens nicht enthalten konnte, daß es 
Noth fei, fih gegen deſſen Einfluß zu ver⸗ 
wahren. 

Herr von Pleffen mochte dreißig Sahre alt 
fein. Klein von Geftalt, mit unbedeutenden Ge⸗ 
fichtözügen, forderte nur fein Auge Aufmerkſam⸗ 
feit durch den Blick, der die Menfchen feſt hal⸗ 
ten zu wollen fchien mit feinem fanften Ausdrud. 
Eben fo eigenthuͤmlich war feine Stimme, die 
ſchwach und Planglos, ſich durch eine gewiſſe In⸗ 
nigfeit Eingang in die Herzen zu bereiten wußte. 
Man konnte ihm begegnen ohne ihn zu beachten, 
aber einmal aufmerkffam auf ihn geworden, ge- 
wöhnte man fich an ihn wie an ein mildes Licht, 
wie an eine weiche Luft, die und gefangen neh— 
men, weil fie und zum Bedürfniß werden. 


185 


Auch waͤhrte es nicht lange, bis er den Frauen des 
Hauſes ein unentbehrlicher Berather wurde, denn 
es war mit ihm eine neue Richtung in ihre Be—⸗ 
firebungen gefommen, ein gewiffer Ernft, der fich 
nach allen Seiten hin bemerklich machte. Was 
Mutter und Züchter biöher ald Sache der bloßen 
Unterhaltung behandelt: Literatur, Mufit und 
Malerei, wurden mit größerer Gruͤndlichkeit be- 
trieben, ald Künfte, deren Ausübung die Seele 
vor dem Verſinken in dad Alltägliche bewahrt; 
die Fürforge für Nothleidende, der man fich im 
Herzensdrange unbefangen hingegeben, wurde zu 
einem wirklichen Gefchäfte gemacht, und die ganze 
Gefelligkeit nicht.mehr ald Mittel zur Zerftreuung, 
fondern mit dem Gedanken angefehen, daß durch 
diefelbe ein geifliger Fortſchritt gefördert und. 
Theilnahme an den "Heberzeugungen erregt mer: 
den müffe, von deren Wahrheit man fich mehr 
und mehr durchdrungen fühlte. 

Eornelie fand auf diefe Weife die Thätigkeit, 
nach der fie fich gefehnt hatte, und auch Helene 
gewann täglich neue Theilnahme für Pleffen, feit 
er einft in ihrer Gegenwart mit Erhebung über 


186 


den Beruf des Geifllichen auf dem Lande und 
über die Nothwendigkeit gefprochen hatte, daß ein 
folcher fich durch die Wahl einer gleichdenfenden 
und gleichgebildeten Gattin zum Vorbilde und 
zum Berather der Gemeinde mache in leiblichen 
und geiftigen Dingen. Da er nun obenein die 
höchfte Achtung vor dem Familienleben hegte, da 
er firenge Unterwerfung des Einzelnen unter die 
gemeinfamen Intereffen als eines feiner Grund: 
gefeße hinftellte, und allem Gemaltfamen ſich 
entfchieden abgeneigt erwies, fo hatte er aud 
den Baron und Erich für fich gewonnen, die fich, 
Seder auf feine Weife, die Theorien Plefjen’s 
nüglich glauben Eonnten. Nur der Doctor ver⸗ 
bielt fich gleichgültig, ja faft nichtachtend gegen 
ihn, obfchon er die durch jenen angeregten Ver: 
änderungen in dem Treiben der Frauen billigte, 
und ald Friedrich ihn einft befragte, was er von 
Pleſſen denke, hatte er lächelnd erwiedert: »Wenn 
ich die Möglichkeit fehe, auf einem guten Boden 
ein folides Haus zu bauen, fo kann es mir gleich 
gelten, wenn die Ziegel zu demfelben von einem 
Menfchen herbeigetragen werden, der auf ſchwa⸗ 


187 


hen Züffen ftehbt. Der Bau fommt vorwärts, 
und fällt der Ziegelträger vom Gerüfte, fo mag 
er felbft zufehen, was aus ihm wird! Die Frauen, 
namentlich Cornelie, entwideln fi durch Pleſſen. 
Was fie aus ihm, was er dabei felbft aus fich 
machen wirb, dad muß man abmwarten.« 

So war eine längere Zeit entfchwunden, 
Friedrich hatte feine Preisarbeit eingereicht und 
der Zag der Entfcheidung war gekommen. Die 
große alatemifche Aula war mehr als fonft bei 
ähnlichen Feften von einer zahlreichen Zuhörer: 
haft erfüllt. Im großen Halbfreife, dem hohen 
Katheber zunächft, von welchem herab der Pro: 
feffor der Beredſamkeit die Namen der Sieger 
verkünden folte, faßen die würdigen Lehrer aller 
vier Sacultäten, zugleich mit den höchften Behoͤr⸗ 
den der Provinz und der Stadt. Hinter ihnen, 
deren Sitze durch Schranken von dem übrigen 
Raume getrennt wurden, flanden und faßen in 
buntem Gemifche die Studenten, fo wie eine Ans 
zahl von Einwohnern, welche neben der Luft an 
all dergleihen Schauftellungen auch die Nevgier 
oder die Theilnahme herbeigezogen hatte. 


188 


Unter den Studenten befand fich auch Fried⸗ 
rich. Unfern des Kinganges, hinter eine der 
großen Säulen verftedt, die die Woͤlbung des 
Saaled trugen, ſchien er gefliffentlich die Nähe 
feiner Befannten zu meiden, welche an dem ents 
gegengefeßten Theile des Saales zufammenges 
drüdt fanden. Sein Herz klopfte hörbar, als 
jebt der Prorector in feterlicher Amtötracht den 
Katheder beftieg, um zunächft in wohlgeſetzter latei⸗ 
nifcher Rede die Wichtigkeit und den Nußen dieſer 
von der Munificenz des Herrfcherd begründeten 
Preisbewerbungen darzuftelen, und fodann den 
herfömmlichen Ausdruck tieffter Verehrung und 
Dankbarkeit für fo große Wohlthat in Phrafen 
auszufprechen, welche freilich mehr an das kaiſer⸗ 
liche als an das freie republifanifche Rom erin⸗ 
nerten. 

Allein Friedrich hörte nichts von all den ſuper⸗ 
lativifchen Erhabenheiten, in welchen ber gelehrte 
Redner ebenfowohl feine gebiegene Kenntniß Cice⸗ 
ronifcher Katinität, al8 feine unbegrenzte Ergeben= 
heit und Liebe für das angeſtammte Fürften- 
haus darzuthun firebte. Es braufte ihm vor den 


189 


Ohren und flimmerte ihm vor den Augen, ald 
jeßt der Sprechende, auf die Preisbewerbung dies 
fe8 Jahres überlenkend, den Eifer lobte, mit wel: 
chem ſich die »Sommilitonen« an derſelben bethei= 
ligt; und fein Herz bebte, ald zum Beweiſe die- 
ſes Eifers die Anzahl der für jede Preisaufgabe 
eingereichten Bewerbungen aufgezählt wurde, — 
eine Anzahl, welche die früherer Jahre bei wei⸗ 
tem übertraf. Für die Preiöfrage, welche Fried- 
rich zu beantworten verfucht hatte, waren noch 
fünf andere Arbeiten eingereicht worden! Dem 
Sunglinge ſank der Muth. Fühlte er fich gleich 
manchem Tüchtigen feiner Genofjen nicht uneben- 
bürtig, fo gab ed doch wieder Stunden, und die, 
welche er jet erlebte, war eine der härteften, in 
denen er an feinem ganzen Wiffen und Kön- 
nen nicht nur zweifelte, fondern auch verzweifelte. 
Jetzt erfchien ed ihm gewiß, daß alle feine Arbeit, 
daß die Anflrengungen und Nachtwachen eines 
Jahres vergeblich gemwefen fein würden, und er 
fegnete die Feſtigkeit, mit welcher er feinen Ent- 
ihluß,fih an die Bearbeitung jener Preidaufgabe 
zu machen, allen feinen Freunden verheimlicht 


190 


"hatte. Schon fand er im Begriffe fich zu 'entfers 
nen, bevor die verhängnißvolle Entfcheidung aus⸗ 
gefprochen würde, um nicht in Gefahr zu kom⸗ 
men, fich unabfichtlich durch feine Bewegung zu 
verratben. Da plöglich trafen fein Ohr die Worte 
des Redners: »Von allen eingereichten Arbeiten find 
indeffen nur zwei, wenn auch im verfchiedenen 
Grade, ded Gegenflandes würdig befunden, aber 
durch einen höchft wunderbaren Zufall führen die 
verfiegelten Zettel, welche die Namen der Verfaſ⸗ 
fer enthalten, ein und daffelbe Motto!« Der Rede 
ner recitirte ed. Es war ein Vers ded Dichters 
Sophokles in der Urfprache, deflen Sinn lautete: 


»Ginfach ift von Natur ber Wahrheit Spruch!« 


Wie von einem eleftrifchen Schlage durch: 
zuct, fuhr Sriedrich zufammen. Died war fein 
Motto, dad er aus feinem Lieblingsdichter ge- 
wählt hatte. Aber war er jet wirklich der Sie⸗ 
ger? Um keinen Preis mochte er die fo wunders 
bar verzögerte Entfcheidung abwarten. Ein Tuch 
vor das Geficht haltend, drängte er fich durch die 
ihn umgebende Menge der Thür zu, indeß noch 


191 


hatte er fie nicht erreicht, als der Klang feines 
Namend aus dem Munde des Redners fein Ohr 
traf, der ihn unter den fchmetternd einfallenden 
Fanfaren ald den Sieger im Preiskampfe auörief. 

Er fah ed nicht mehr, wie alle Blide fich 
nach ihm wendeten, er achtete nicht auf den Zus 
ruf feiner Bekannten, und hatte bereitö fchnellen 
Schrittes den Univerfitatshof durchmeffen, ehe 
Erich durch die Menge den Weg zur Ausgangs⸗ 
thüre finden konnte. — 

Sreudeberaufcht eilte er durch die Straßen, 
ohne fich zu fragen, wohin er gehe? Erft vor 
dem Haufe des Barons fand er plöglich- ftil, 
als fei er betroffen, fich bier zu finden. Er 
wollte ummwenden , aber er vermochte es nicht, er 
mußte Helene fehen. 

Zum erften Male fand er fie allein. Sie faß 
arbeitend an ihrer Staffelei, ald er das Zimmer 
betrat, und ihr erſter Blick verrieth ihr feine Er⸗ 
regung, theilte fie ihr mit. 

„Was ift Ihnen begegnet? Was iſt gefches 
hen?« fragte fie. 

Da brach ed wie ein lang verborgened Feuer 


192 


in ihm hervor, und fih ihr mit beiden Armen 
um den Naden werfend, rief er faft athemlos: 
»Ich liebe Dich fo fehr!« 

Helene war feines Wortes, Feines Gedan⸗ 
kens maͤchtig, ſie hatte ſich an ſeine Bruſt ge⸗ 
lehnt und die Augen geſchloſſen. So: hielten ſie 
fich ſprachlos umfangen, dann drüdte er fie noch 
einmal feft an fein Herz und trat zurüd, wäh 

rend Helene fich wie betäubt auf den Sefjel an 
ihrer Staffelei niederließg und die Hand des Ge⸗ 
liebten in der ihren hielt, als bedürfe fie diefer 
Stüte. In ihr Anfchauen verfunfen ftand der 
Süngling neben ihr. Ä 

»Wann haben wir uns denn zuleßt gefehen ?« 
fragte fie endlich, weil ihr neues Empfinden fie 
ihrer ganzen Vergangenheit entrückte. 

Ohne ihre Frage zu beantworten, fagte Fried⸗ 
rih: »Sie follten eö nie. erfahren, niemald8 — 
aber —« Er hielt inne, denn er hatte vorgehabt, 
ihr von feinem Siege zu erzählen, nun da er ed 
auöfprechen wollte, kam ihm das Errungene fo 
nichtig vor gegen die Gunft ihrer Liebe, daß es 
ihn befchämte, und fich zu ihr nieverbeugend fagte 


193 


er mit bebender Stimme: »ich verdiene Sie nicht, 
ih bin fo wenig !« 

Seine Augen füllten fih mit Thränen, die 
Geliebte fah ed und ihr Haupt an feinen Arm 
lehnend, hauchte fie leife: »mein Alles!« drüdte 
feine Hände und verließ fchnell, wie über fich 
felbft erfchroden, dad Gemach. 

Wonnefchauernd in dem Bemußtfein von He⸗ 
lenens Liebe eilte der Gluͤckliche in die Wohnung 
feiner Eltern, um ihnen Sreude zu bringen, die 
fie fehr beburften. 


Wandlungen I. 13 


Zwölftes Kapitel. 


In der Werkftatt war Alles Ieer, Hobel und 
Sägen hingen an der Wand, die Werkzeuge ruh⸗ 
ten ungebraucht im Kaften. Die Thuͤre nach der 
Stube war geöffnet, um mehr Luft darin zu has 
ben, denn der Meifter lag noch immer an der 
Gicht darnieder, die eine Erkältung beim Abladen 
von Brettern ihm zugezogen. Sie hatte fein 
Leben in Gefahr gebracht, weil fie fih auf den. 
Kopf geworfen. Jetzt war er lange ſchon wieder 
bei Bewußtfein, aber der Krankheitsftoff gährte 
noch im Körper und hatte die Hände zufammen- 
gezogen, daß der raftlos thätige, ganz auf fich 


195 


und feine Kraft geftellte Mann, nicht fähig war 
fich felbft zu helfen, nicht Speife, nicht Trank al: 
lein an feine Lippen führen konnte. 

Der Doctor hatte ihn mit treuer Sorgfalt 
gepflegt, hatte unentgeltlich Arzenei für ihn ges 
fhafft und wuͤrde mehr Hülfe zu bieten verfucht 
haben, hätte er nicht gefehen, wie ängftlich der 
Sohn die obwaltende Noth zu lindern, die Un- 
‚ulänglichfeit feiner Mittel zu verbergen ftrebte 

Als Friedrich in die Stube trat, war es ſtill 
darin. Die Mutter faß, Kartoffeln zur Abend: 
fuppe fchälend, an dem großen XZifche zwifchen 
den Fenftern, der Bater ſchlief. Die Gardine 
von weiß und blauer Leinwand war über das 
Bett zufammengefchlagen, daß man den Kranken 
nicht fehen konnte, aber man hörte feine Athem⸗ 
züge durch die Stille, neben dem gleichmäßigen 
Ziden der Uhr, die hier feit langen Wochen nur 
Schmerzensftunden abzuzählen gedient hatte. Die 
Mutter winkte ihm leife aufzutreten, und reichte 
ihm Die von der Arbeit gefchwärzte, an ber 
Schürze gereinigte Hand entgegen. 

„Wie geht e6?« fragte Friedrich. 

13 * 


196 


Die Mutter zudte mit den Schultern und 
feufzte: »Wie fol ed gehen? er hat feine Ruhe, 
nicht Tag nicht Nacht, grade Nacht's ift es am 
fchlimmften, und ich kann auch bald nicht wei⸗ 
ter!« 

»Warum laſſen Sie mich denn Nachts nicht 
biöweilen bei ihm? Ich habe Sie fo oft darum 
gebeten !« 

»Sollſt Du auch Frank werben und das Elend 
erfi ganz vollkommen?« wendete die Mutter ein. 

»Ich habe manche Nacht durcharbeitet und 
ed hat mir nicht gefchadet, dad Eönnte ich hier 
ebenfalls !« 

“Arbeiten? wenn ein Menfch fi) vor Schmer» 
zen windet wie ein Wurm! Das Stöhnen reißt 
Einem ja durch's ganze Herz!« 

»Und habe ich denn nicht manche Nacht tan⸗ 
zend und in Gefellfchaft verlebt, Mutter, die Sie 
mir flatt Ihrer zu wachen nicht erlaubten ?« 

»Das war auch gut, das wollte ich grade, . 
Fritz! Es arbeitet ſich fchleht, wenn man an 
Nichts zu denken hat, als an Elend und an 
Sorgen. Unfer Herrgott fohidt dem Menfchen 


: 197 


auch im Winter zuweilen Sonnenfchein, weil er 

am beften weiß, daß man’d in ewigem Regen 

und Schnee nicht lange aushält. Ich fchlafe doch 

nicht, wenn Du hier fißeft bei dem Alten und id) 

mir denfe, morgen muß der Fritz früh an bie 

Arbeit und darf nicht einniden wie du, wenn 
ı bu einmal nicht weiter kannſt. Es ift genug, 
daß Du und Brot ſchaffſt!« 

Mährend dieſes Gefpräches hatte fie ihre Ar« 
beit beendet, padte die Kartoffelfhaanlen in die 
Schürze zufammen und fland auf, um nad) der 
Küche zu gehen. Da bielt der Sohn fie feft und 
fagte: "Heute bringe ich etwas Neues und etwas 
fehr Gutes, Mutter !« 

»Etwas fehr Gutes!« wiederholten fie und 
der Vater zu gleicher Zeit, der erwacht war und 
die lebten Worte vernommen hatte. 

Friedrich war an’d Bett getreten und hatte 
die Vorhänge zurüdgefchlagen. Der Alte lag 
bleih und abgemattet da, feine dunkelgrauen 
Augen fahen unheimlich groß aus den eingefalle- 
nen Höhlen unter den bufchigen Brauen her- 

Ä vor, und der lange nicht gefchorene, ſchwarz⸗ 


198 


graue Bart machte das Geſi cht noch blaͤſer und 
magerer erſcheinen. 

»Mach’ mich geſund, das iſt das Allerbeſte I« 
fagte er. 

»Es wird Ihnen Geſundheit fchaffen, Bater!« 
antwortete der junge Mann, »ich habe eine Preid- 
aufgabe gelöft und befomme morgen hundert 
zwanzig Thaler dafür. Damit koͤnnen Sie ſich 
ruhig pflegen, bis Sie gefund find, Vater !« 

»Hundert zwanzig Thaler!« rief die Mutter, 
„hundert zwanzig Thaler!« — und brach dann in 
Thränen aus, während fie die Schüffel aus der 
Hand ftellte und fich niederfeßte, als Eönne fie 
fih nicht aufrecht halten; der Vater aber lag ftill Ä 
und regungslos, fo daß Friedrich darüber erfchrat 
und fi) mit der Frage zu ihm niederbengte: | 
»Fehlt Ihnen Etwas, Vater daß Sie gar Nichts Ä 
fagen ?« 

»Ich glaub's noch nicht !« murmelte der Alte, und 
fchwere Zropfen begannen aus feinen Augen nies : i 
der zu fallen. Dann ſchwieg er eine kleine Weile, |, 
bis er mit Heftigkeit die Worte herausftieß : »Nun 
brauche ich nicht in's Hofpital, nun brauchft Du \ 


199 


nicht. zu betteln für Deinen alten, kranken Ba- 
ter!« — Er hob die gelähmten Hände zum Ge- 
fiht empor und weinte bitterlich. Friedrich hatte 
fih zu ihm gefeßt, und auch feine Thränen floſ⸗ 
fen, während er des Vaters Haupt unterflügte 
und ihm die Augen trodnete. 

»Laß nur, Fritz! laß's gut fein!« fagte der Va⸗ 
ter, »es iſt mir wohl, daß mir's vom Herzen kommt, 
ich habe nicht geweint mein Lebetag, daß ich es 
denken kann. Aber es hat mir das Herz abge⸗ 
freſſen Tag und Nacht, wenn ich mir ſagte, wie 
lange wird er es noch machen, er iſt auch nicht 
der Staͤrkſte. Und im Schlafe habe ich Dich ſchon 
geſehen leibhaftig vor dem Bezirksvorſteher um 
Armengeld betteln, und bitten um einen Platz im 
Krankenhauſe, und ich wußte, das war mein Tod, 
wenn mein eigen Fleiſch und Blut ſollt', betteln 
gehen fuͤr mich. Schon die freie Medizin war mir 
wie Gift und jeder Tropfen davon bittere 
Galle !« 

Er fprach dad Alles gegen feine Gewohnheit 
mit großer Leidenfchaftlichkeit, und meinte dann 
wieder, aber leifer und ruhiger ald zuvor. Der 


200 


tief erfchütterte Sohn hatte feinen Arm fanft um 
des Vaters Hals gelegt. 
»Sie ſollen Niemand brauchen als mich, kei⸗ 


nen Menfchen auf der Welt, Vater!« beruhigte er, 


»fo lange ich leben und arbeiten fann! Niemand 
als mich!« 

»Ja! Niemand ald Dich !« wiederholte der Alte, 
„Niemand ald Di! — Laß mic, elend liegen 
bei Wafler und Brod, aber gieb Du mir’, von 
Dir ſoll's mich nicht drüden, von Dir hab’ ich's 
verdient mit meinem Schweiß und Blut — 
und Du giebft mir’d ja auch gern!« 

»Das weiß Gott im Himmel!« rief Friedrich 
mit folcher Liebe, daß der Vater feinen Kopf an 
die Bruft des Sohnes lehnte, wie dad Kind ſich 
vertrauendvol an den Mutterbufen birgt, feine 
Zuflucht in aller Lebensnoth. 

Das ganze fchweigende Leiden ded Mannes 
hatte fi in dieſen Ausbruͤchen lang verhaltener 


Sorge Luft gemacht. Nun fanker erleichtert, aber 


auch erfchöpft zurüd in feine Kiffen, und e& vers 


ging eine Weile, ehe er die Kraft zum Sprechen | 


wieder gewann. 


201 


Friedrich verehrte den Vater in diefer Stunde 
mehr als je, deutlicher als je trat ihm die Wuͤr⸗ 
digkeit diefer Natur entgegen, die dad Leben fo 
belaftet hatte, daß die Beweiſe der Liebe fich 
nur felten fichtbar aus ihr hervor zu ringen ver- 
mochten, und in dem Bemwußtfein, wie nahe er 
dem Vaterherzen ſtehe, fand er reichen Lohn für 
feine Anflrengung und feine Opfer. 

Als die erfte Aufregung vorüber mar, fagte 
die Mutter: »damit haben wir Jahr und Tag zu 
leben !« 

»Momit?« fragte der Kranke. 

„Mit dem Gelde, das der Fritz bekommt!« 

»Das iſt ſein Geld und ſoll's auch bleiben!« 
ſagte der Meiſter beſtimmt. 

»Gott weiß, wie gern ich ed ihm ließe, daß 
er fih auch ruhen und was zu Gute thun fünnte, 
denn er hat's auch nöthig,« meinte die Mutter, 
»aber jeßt, wo Du fo frank bift — — « 

„Denkſt Du,« fiel ihr Sener in's Wort, »daß 
ich hier ewig feft liegen werte? daß ich einen 
Menihen um fein fauer Ermorbened bringen 
fol! Mir wird befier werden, nun ich weiß, daß 


202 


der Frig von Niemand was für mich zu fordern 
braucht. Er fol mir helfen bis ich auf den Bei- 
nen bin, und fol behalten, was ihm übrig bleibt. 
Das hätt’ ich ihm gethan, das fol er mir thun, 
und nicht mehr nicht minder !« 

Mit tiefem Dante gegen Gott verließ Friedrich 
am Abende dad Baterhaus. Er mußte die Sei- 
nen vor Noth gefichert, und er war ed, der den 
Eltern den Schlaf der Nächte wiedergab. »Gott 
wird Dir's lohnen!« hatte die Mutter gefagt, als 
er fie beim Fortgehen im Flur gebeten, nicht auf 
des Vaters Worte zu achten, fondern die ganze 
Summe als ihr Eigenthum anzufehen, da es ihm 
nach dem Eramen noch leichter fein werde, für 
fich zu forgen. 

Sein Glaube an feine Kraft und feine Zu⸗ 
kunft waren mächtig gewachſen an dem Tage, 
und bie günftigen Folgen feined Sieged in der 
Preisbewerbung ließen nicht lange auf fi) wars 
ten. Schon am Abende des Concurrenztages . 
hatte Herr von Pleffen im Haufe des Barond 
berichtet, ‘daß, wie er gehört, Friedrich's Ars : 
beit Auffehen gemacht habe unter den Profefe ! 


203 


foren, und daß man ihm eine Bedeutung in ber 
gelehrten Weltvoraus verfünde, wenn er fich ent: 
fließen follte, die Univerfitätscarriere einzufchla= 
gen. Diefer Gedanke fand in Erich lebhafte Zus 
fimmung. Er war zweiMal in feined Freundes 
Wohnung vorgefprochen, ohne ihn zu finden, und 
hatte mit feiner gewohnten werfthätigen $reund- 
haft auf Mittel und Wege gefonnen, wie er ed 
ihm möglich machen könne, fich der afademifchen 
Laufbahn zu widmen, die fpater ald ein Pfarr- 
amt Ausficht auf Erwerb verfprach. 

Ald Friedrich am folgenden Morgen feinen 
Freund beſuchte, rief ihm diefer feinen Gluͤck⸗ 
wunfch entgegen, und fagte dann im Zone liebe= 
vollen Vorwurfs: »Du bift ein fonderbarer Menfch 
und haft fonderbare Begriffe von der Freundfchaft. 
Deine eigentlihe Befchäftigung hältft Du vor 
mir geheim, Deine folgereichften Vorſaͤtze fafleft 
Du für Dich felbft, als ob es eine Freundſchaft 
geben Eönnte ohne Vertrauen. Warum haft Du 
mir ein Geheimniß gemacht aud Deiner Preiöbe: 
werbung ?« 

„Ich wollte Dir's nicht auferlegen, mich über 


204 


dad mögliche Mißlingen zu tröften, und mir die 
Demüthigung erfparen, Dir einzugeflehen, daß _ 
ich nach einem mir unerreichbaren Biele geftrebt 
hätte.« 

»Und diefe fogenannte Demüthigung hätteft 
Du mir wirklich nicht vertraut!« 

»„Gewiß nicht! es wäre mir leichter gemorden, 
fie ftil zu tragen, ald mid) vor Dir, gerade vor 
Dir, befhämt zu zeigen !« fagte Friedrich. 

Erich blickte ihn liebevoll an und ſprach nach 
einer Paufe mit freundlicher Befangenheit: »Du 
haft mir aber noch mehr verfchwiegen und Etwas, 
worauf ich noch ein größeres Anrecht hätte !« 

Friedrich's ganzes Blut frömte nach feinem 
Herzen und mit unficherer Stimme fragte er: \ 
„Woher weißt Du das ?« 

»Bom Doctor und von Pleflen!« - 

»Vom Doctor? von. Pleffen ?« wiederholte | 


\ 


der Beftürzte, ald ob. er den Sinn der Worte - 
nicht verftehe. 
»Du haft Noth gelitten mit den Deinen und 
haft e8 mir verborgen !« beklagte fich der Freund. 
Friedrich war unfähig zu antworten, der Um⸗ * 


205 


ſchwung feiner Empfindungen war zu plößlich, 
er hatte an ein andered Geheimniß gedacht. 

»Warum nahmft Du mir das Recht, Dir zu 
helfen, warum. gönnteft Du den Meinen nicht, 
Dir für Deinen Vater die ihm nö:hige Erqui⸗ 
dung anzubieten ?« 

„Du kennſt meinen Baternicht!« rief Kriedrich, 
nachdem er fich gefaßt hatte. »Was ich von Dir 
mit Freude angenommen hätte, würde ihm Bit: 
terniß gewefen fein. Ich hatte kein echt, mir 
eine Erleichterung zu ſchaffen, die fein fchweres 
Leid noch ſchwerer gemacht hätte.« 

„Wie viel einfacher empfinden wir doch, als 
Du und als die Deinen !« wendete Heidenbrud ein. 
Hätten wir einem unter und Leidenden Huülfe 
zu fchaffen gewußt durch Dich oder dur die 
Deinen, mit welch offenem Vertrauen hätten wir 
fie begehrt, auch wenn ed Euch fchwerer gewors 
dm wäre ald uns, Deinem Vater größere Pflege 
m bereiten. Wir haben doch mehr Glauben an 
die Menfchen.« 

»Meiler Euch durch feine Härte zerftört ward!« 
Wndete Sener ein. »Glaubſt Du, dag mir das 
















206 


Zutrauen zu Dir und zu der Deinen Güte man⸗ 
gelt? Ich wäre nicht würdig Dein Freund zu 
fein und unter den Deinen zu leben, fühlte ich 
nicht, was ich Euch ſchon jegt verdanke, dad 
Zutrauen zu der höheren Menfchenliebe, die alle 
Lebens- und Standedunterfchiede audgleicht, Die 
mir den Muth giebt, das höchfte Gut für mid 
erreichbar zu glauben, und —« Er hielt inne 
und fügte dann bittend hinzu: »Tadle meinen Va⸗ 
ter nicht, weil ihm die Gelegenheit fehlte, dies 
Bertrauen zu den Menfchen zu gewinnen !« 

Der junge Baron fah ihn verwundert an. 
Er begriff weder die plößliche Erregtheit, noch 
das ebenfo plögliche Abbrechen feines Freundes, der 
nach einer Kleinen Paufe die Frage hinwarf: 
»Was wußte Herr von Pleffen von meined Va⸗ 
ters Krankheit?« 

»Du kennſt die Art feiner Armenpflege, die 
er immer weiter ausdehnt, beſonders wo es gilt, 
ſchweigender Noth zu helfen. Er ſucht von den 
Armenvorſtehern, den Apothekern die Namen der⸗ 
jenigen zu erfahren, die freie Medizin erhalten 
und dorthin Huͤlfe und Rath zu bringen. So 





207 


hörte er von der Bedraͤngniß Deines Vaters 
und forderte die Meinen auf, ihm beizuftehen!« 

„Sieb das nicht zu!« rief Friedrich mit fcheuer 
Heftigkeit. ‚Mein Vater ift verforgt, die Summe, 
welche ich erhalten, deckt feine Bedürfniffe für 
lange Beit, taftet fein Ehrgefühl nicht an !« 

»Du ſiehſt, ich fragte Dich, ob Du es woll⸗ 
teſt ?« begütigte der Freund. 

»Ich verabfcheue Died Spioniren der Wohl- 
thätigkeit, wie dieſer Herr von Pleffen es bes 
treibt !« fuhr Friedrich fort. »Kein Haus ift ficher 
. vor diefer Menfchenliebe, nicht das meiner El⸗ 
tern, nicht das Eure. Es ift eine herrfchfüchtige 
Liebe, und ich mag die Meinen nicht beherricht 
ſehen, fei e& von wem es wolle!« 

»Alfo mißtrauft Du Pleſſen?« forfchte Erich. 

Nein, dad nicht! Ich halte ihn für felbftlos 
1 und es ift ihm Ernft mit Allem was er thut, 
1 aberich ſcheue den Einfluß, den er, vielleicht ohne 
1 ihn zu erftreben, überall gewinnt.« 

Erich hörte nachdenklich zu und fagte dann: 
1 Das ift genau die Anficht, welche der Vater und 
auch ich von feinem Wefen hegen, und grade 


208 


deshalb wirft Du den Vorſchlag begreifen, ben 
ih Dir zu machen habe. Wir bebürfen eines 
Erziehers für Richard, mwenn ich nach beendetem 
Eramen meine Reife antrete, und meine Mutter 
ift geneigt, Herrn von Pleffen zur Annahme dies 
ſes Amtes zu überreden, der Vater aber wünfcht 
feine dauernde Anmefenheit in unferem Haufe nicht, 
und auch mir wäre fie zuwider. Koͤnnteſt Du 
Dich entfchliegen ded Knaben Gouverneur zu 
werden ?« 

»In Eurem Haufe?« fragte Friedrich, wäh- 
rend fein Herz hoch auffchwoll vor freudiger Ue⸗ 
berrafchung. 

»Ja! aber ed würde Deine Zeit nicht zu fehr 
befchränfen, da Richard nach wie vor das Gym⸗ 
nafium befuchen fol. Du gemönneft die Mögs 
lichkeit, Dich als Docent zu habilitiren, mein Bar 
ter wüßte den Knaben wohl verforgt und Alle 
würden fich freuen, Dich zum Hausgenoffen zu 
befommen!« Dabei blidte er erwartungdvoll in 
dad Angeficht des Freundes und fehien einen Aus⸗ 
ruf der Zuflimmung zu erwarten. Aber der hochs 
erröthende Friedrich blieb ernfthaft und flumm. 


209 


»Goͤnne mir Zeit zur Ueberlegung!« bat er 
endlich. 

»Zur Ueberlegung?« fragte Erich, dem es wehe 
that, fich in der Freude getäufcht zu haben, vie 
er dem Freunde zu bereiten gehofft hatte, und ber 
ed doch nicht aufgeben wollte, für ihn auf dieſe 
Art zu forgen. »Was bedarf's der Ueberlegung 
noch in diefem Falle! Iſt es nicht den Meinen 
eben fo förderlich als Dir?« 

»Dringe nicht in mich ,« bat Friedrich noch⸗ 
mals, »ich muß erft einig werden mit mir, ob ich's 
kann !« 

»O! Ueberwindung muß ed Dich nicht Toften!« 
rief Heidenbrud mit einem Anflug von Empfind- 
lichkeit. »Es muß Dir kein Zwang fein mit den 
Meinigen zu leben“ 

„Erich, Du bift mir böfe!« fagte Friedrich. 

»Nein! aber ich verftehe Dich nicht!« 

»So glaube an mich!« antwortete er, drüdte 
ihm die Hand und ging von dannen. 


TBandlungen. I. {4 


Dreizehntes Hapitel. 


Es währte geraume Zeit, ehe Friedrich einen 
feften Entichluß zu gewinnen vermochte. Schonlange 
hatteer gewünfcht, fich für den afademifchen Lehrſtuhl 
auszubilden, um in der Stadt zu leben und fich 
weitere Lebenskreiſe zu eröffnen, ald die Laufbahn 
eined Geiftlichen ihm für Die erfte Zeit verbieß. 
Seit er Helenend Liebe ficher war, fah er bie 
fohnelle Erlangung einer Profefjur ald das ein⸗ 
zige Mittel an, dad ihm bie Geliebte gewinnen 
fonnte, und immer wieder drängte fich ihm der 
Glaube auf, Helene habe dem Bruder ihre 
Liebe vertraut und diefer wolle dem Freunde 
felbft die Wege für die Zukunft bahnen. Aber 
die Anfichten, welche er oftmald® im Haufe 
des Barons über ftandesmäßige Ehen, von Erich 
über heimliche Sugendrerlobungen hatte ausſpre⸗ 


211 


den hören, ftraften jene Vorausſetzungen Luͤge, 
und er dachte zu ehrenhaft, um Diejenigen zu taͤu⸗ 
(hen, die ihm fo zuverſichtlich vertrauten. Indeß 
fo oft er ſich's auch wiederholte, daß ihm bier 
Entfagung Pflicht fei, mußte er immer die 
Augen zurüdwenden auf das Glüd, in Helenens 
Nähe zu leben, auf das er zu verzichten hatte, 
und mehrmald dachte er daran, dem Freunde fein 
Herz zu offenbaren, ihm die Entfcheidung zu 
überlaffen; denn es ift leichter fich in einen frem- 
den Willen zu fügen, ald den eigenen vernünftig 
zu beherrfchen. ® 

Mit fchwerem Herzen und fichtlicher Befan- 
genheit erflärte er endlich dem Freunde, daß er 
zwar daran denke, neben dem Eramen für das 
Dredigeramt auch dad philofophifche Doctorera= 
men zu machen und nicht auf das Land zu gehen, 
fondern in der Stadt zu bleiben, um fich gleich 
zeitig zum Prediger und zum Docenten auszubil- 
den, daß es ihm aber nicht möglich fei, die Stelle 
in feinem Baterhaufe anzunehmen. 

Semehr nun der Baron und Eric) ed wohl 
gemeint mit ihrem Anerbieten, je lebhafter Hele⸗ 


204 


dad mögliche Mißlingen zu tröften, und mir die 
Demüthigung erfparen, Dir einzugeftehen, daß 
ich nach einem mir unerreichbaren Biele geftrebt 
hätte.« 

„Und dieſe fogenannte Demuͤthigung hätteft 
Du mir wirklich nicht vertraut !« 

»„Gewiß nicht! es wäre mir leichter geworden, 
fie fil zu tragen, ald mid) vor Dir, gerade vor 
Dir, befchämt zu zeigen!« fagte Friedrich. 

Erich blickte ihn liebevoll an und ſprach nad 
einer Paufe mit freundlicher Befangenheit: »Du 
haft mir aber noch mehr verfchwiegen und Etwas, 
worauf ich noch ein größeres Anrecht hätte !« 

Friedrich's ganzes Blut firömte nad) feinem 
Herzen und mit unficherer Stimme fragte er: 
„Woher weißt Du das ?« 

»Vom Doctor und von Pleffen!« 

»Vom Doctor? von. Pleffen?« wiederholte 
der Beftürzte, ald ob. er den Sinn der Worte 
nicht verftehe. 

»Du haft Noth gelitten mit den Deinen und 
haft es mir verborgen !« beklagte fich der Freund. 

Friedrich war unfähig zu antworten, der Um⸗ 


201 


Friedrich verehrte den Vater in diefer Stunde 
mehr als je, deutlicher als je trat ihm die Würs 
digkeit diefer Natur entgegen, die dad Leben fo 
belaftet hatte, daß die Beweiſe der Liebe fich 
nur felten fichtbar aus ihr hervor zu ringen ver- 
mochten , und in dem Bemußtfein, wie nahe er 
dem Vaterherzen ſtehe, fand er reichen Lohn für 
feine Anftrengung und feine Opfer. 

Als die erſte Aufregung vorüber war, fagte 
die Mutter: »damit haben wir Jahr und Tag zu 
leben !« 

»MWomit ?« fragte der Kranke. 

„Mit dem Gelde, das der Frib befommt!. 

»Das ift fein Geld und fol’8 auch bleiben !« 
fagte der Meifter beftimmt. 

»Gott weiß, wie gern ich es ihm ließe, daß 
er fih auch ruhen und was zu Gute thun fünnte, 
denn er hat's auch nöthig,« meinte die Mutter, 
»aber jest, wo Du fo frank bift — — « 

»Denkſt Du,« fiel ihr Sener in’d Wort, »daß 
ich bier ewig feft liegen werte? daß ich einen 
Menihen um fein fauer Erworbenes bringen 
fol! Mir wird beffer werden, nun ich weiß, daß 


206 


Butrauen zu Dir und zu der Deinen Güte man⸗ 
gelt? Ich wäre nicht würdig Dein Freund zu 
fein und unter den Deinen zu leben, fühlte ich 
nicht, was ih Euch fchon jetzt verdanfe, das 
Zutrauen zu der höheren Menfchenliebe, die alle 
Lebend= und Standedunterfchiede audgleicht, Die 
mir den Muth giebt, das höchfte Gut für mich 
erreichbar zu glauben, und —« Er hielt inne 
und fügte dann bittend hinzu: »Tadle meinen Va⸗ 
ter nicht, weil ihm die Gelegenheit fehlte, dies 
Bertrauen zu den Menfchen zu gewinnen !« 

Der junge Baron fah ihn verwundert an. 
Er begriff weder die plögliche Erregtheit, noch 
das ebenfo plößliche Abbrechen feines Freundes, der 
nad) einer kleinen Paufe die Frage hinwarf: 
»Was wußte Herr von Pleflen von meined Bas 
terd Krankheit?« 

»Du kennſt die Art feiner Xrmenpflege, bie 
er immer weiter ausdehnt, befonders wo es gilt, 
fchweigender Noth zu helfen. Er fucht von den 
Armenvorftehern, den Apothefern die Namen ders ° 
jenigen zu erfahren, die freie Mebizin erhalten \ 
und dorthin Hülfe und Rath zu bringen. Se ! 

Al 


Ä 


215 


Geliebten zum Vorwurfe, der, niebergeworfen 
durch den Glauben, fie habe die Größe des Opfers 
nicht begriffen, durch das er ihrer werth zu fein 
getrachtet,, fie Liebe ihn alfo nicht, es nicht er- 
tragen konnte, fie gleichgültig mit Anderen ver- 
kehren zu fehen, während er fo tief behübt war. 
Ihr Bild verzerrte ſich ihm, er hätte fie töbten 
innen, um fie nicht mehr lächeln zu fehen, und 
mit einer Werzweiflung, in ver fi Haß und 
Liebe einten, verließ er plößlich die Geſellſchaft. 
Helene ſah ed mit fchmerzlihem Trotze, fie 
war zufrieben, fich nicht gebemüthigt zu haben. 
Aber als die Säfte fich entfernt hatten, als fie 
fi) allein mit Gornelie in ihrem Zimmer fand, 
da Famen dad Bewußtſein ihres Unrechtd und 
die Reue über fie. Sie feste fich nieder an 
Friedrich zu fchreiben, fie forderte feine Verge- 
bung. Das Peine Blatt war gefaltet und ver- 
fiegelt, da trieb ihr der Gedanke an den Diener, 
den fie zum Ueberbringer und alfo zum Vertrau⸗ 
ten ihres Geheimniffes machen mußte, die Roͤthe 
der Scham in die Wangen. Sie zerriß den Brief, 
ſich tröftend mit der Hoffnung, der Geliebte werde 


216 


fie nicht entbehren koͤnnen, er werbe wiederkom⸗ 
men und fie ihm ihre Schuld geftehen, feine Ber: 
zeihung erlangen. 

Aber Friedrih blieb aus, er erwartete ein 
Zeichen von Helene, der ed leicht fein mußte, 
ihm eine Einladung zu erwirken, und Beide hat: 
ten begonnen, den bitteren Zorn der Liebe gegen 
einander zu empfinden, als Helene eines Abends 
in dad Zimmer ihres Vaters befchieden wurde. 

Die Eltern faßen auf dem Sophe, die Mut: 
ter war in fichtlicher Bewegung, der Vater hatte 
ſchweigend dad Haupt auf ben Arm geflügt, 
Erich fland in der Fenfterbräftung. Eine dumpfe 
Angſt uͤberkam fie als fie eintrat, fie fühlte, dieſe 
Zufammentunft gelte ihr. Man hatte ihre Liebe 
für Friedrich entvedt, man fah fie ald ein Un: 
recht an, man wollte fie zur Rechenfchaft ziehen, 
und willen⸗ und urtheilslos wie fie war fühlte 
Helene ſich ſchuldig, weil fie dafür gehalten zu 
werden glaubte, 

Mit bebender Stimme fragte fie, was ihr 
Bater befehle? | | 

»Ich habe mit Dir eine ernfle Angelegenheit : 


217 


zu berathen!« antwortete er, »nimm Dir einen 
Stuhl hier neben mir!« 

Die Tochter gehorchte, aber der milde Ton 
ihres Waters fchnitt ihr in das Herz. Sie hatte 
den beften der Väter gekraͤnkt, fie wagte nicht 
die Augen aufzufchlagen, als fie fich niedergelaf- 
fen hatte. Da ergriff der Baron ihre Hand, 
reichte ihr einen Brief hin und fagte: »Lies die— 
ſen Brief, ih habe ihn vor einer Stunde für 
Dich erhalten.« 

Sie nahm ihn mit zitternder Band, fie ver- 
mochte ihn nicht zu entfalten, denn fie Tannte 
feinen Inhalt, obſchon das Gouvert Feine Auf- 
[hrift zeigte. Friedrich hatte, der Qual ein Ende 
zu machen, den Eltern Alles geftanden, um ihre 
Hand geworben, und es war feine Hoffnung für 
fie da. Starr und ſchweigend blickte fie zur Erde 
nieder, bis die Mutter fich erhob, dad Haupt 
der Zochter an ihren Buſen drüdte und fie bat, 
fih zu beruhigen. 

Da brach Helene in Thränen aus und: »Ver- 
gebt mir, vergebt mir!« war Alles, was fie 
fagen konnte. 

14* 


218 


Alle Anwelenden waren betroffen, der Vater 
drückte ihre Hand und fagte ermuthigend: »Wie 
folte man es nicht entichuldigen, Daß dieſe 
Stunde Dich erfchüttert, aber Du mußtefl darauf 
gefaßt fein, und Du Fannft nicht ſchwanken, denke 
ich, welchen Entfhluß Du zu faflen haft, da Du 
unfere Anfichten und Wuͤnſche kennſt. Sol ich 
die Antwort für Dich übernehmen, meine liebe 
Tochter ?« 

»Ja!« antwortete fie kaum hörbar. 

»Wird Dir der Entichluß fo fchwer ?« forfchte 
die Mutter. 

»Ja!« wiederholte die Tochter und wunderte 
fih, daß fie den Muth hatte es zu bekennen. 

»Und doc wirft Du ihn fegnen!« beruhigte 
der Bater, »der Graf ift —« 

»Der Graf?« fragte Helene. 

»Er wird Dir Erfab werden für ung Ale. Ä 
fuhr der Bater fort. Ä | 

»Der Graf? — Erfab?« fprad fie in einem 
Tone nach, als ob ihre Gedanken ſich verwirrten. . 

»Seine Liebe für Dich, feine Welterfahrung —« \ 

»D!« rief Helene, dem Vater in Die Rebe * 


219 





lend und in Leidenfchaft ausbrechend, »mwas mar: 
terft Du mich mit Worten, die ich nicht verftehe, 
wad wilft Du mit dem Grafen jest in biefer 
Stunde, lieber Bater?« Ihre Augen funkelten, 
ihre Glieder bebten, die Eltern und Erich fahen 
einander betroffen an. 

„Was bedeutet das?« fragte der Baron feine 

Gattin. 

Sie wußte Feine Auskunft zu geben und bat, 
fie mit der Tochter allein zu laffen. Als man ihr 
gehorfamt hatte, feßte fie fich nieder, nahm Helene 
in den Arm, Öffnete den Brief, der noch ungelefen 
auf dem Xifche lag und bat fie: »Lied den 
Brief, mein Kind! Die Worte ded Grafen, dem 
Du Dich verlobt, werden Dich am leichteften be- 
tuhigen.« 

»Sh mich verlobt? Ich? dem Grafen 
St. Brezan?« rief Helene auffpringend und ber 
eintretenden Gornelie entgegeneilend, deren Hände 
fie mit folcher Gewalt ergriff, daß diefe davor 
zufammenfchraf. 

»Sprich mit mir Gornelie!« flehte fie, »fage 
mir, daß ich träume, wede mich, wede mid, 





Dreizehntes Kapitel. 


Es waͤhrte geraume Zeit, ehe Sriebrich einen 
feften Entichluß zu gewinnen vermochte. Schonlange 
hatte er gemünfcht, ſich für denafademifchen Lehrſtuhl 
auszubilden, um in der Stadt zu leben und fich 
weitere Lebenskreiſe zu eröffnen, ald die Laufbahn 
eines Geiftlichen ihm für die erfle Zeit verhieß. 
Seit er Helenend Liebe ficher war, fah er die 
fchnelle Erlangung einer Profeflur ald das eins 
zige Mittel an, dad ihm die Geliebte gewinnen 
Eonnte, und immer wieder drängte fich ihm ber 
Glaube auf, Helene habe dem Bruder ihre 
Liebe vertraut und diefer wolle dem Freunde 
felbft die Wege für die Zukunft bahnen. Aber 
die Anfichten, welche er oftmald im Haufe 
des Barons über ftandesmäßige Ehen, von Erich 
über heimliche Sugendrerlobungen hatte ausſpre⸗ 


221 


»Ich glaube Dir, daß Du fo fühlft,« fagte 
die Baronin, »und ich beklage Dich deshalb, 
aber Du haft ficher nicht auf eine Ehe mit dem 
jungen Brand gehofft, er felbft kann nicht daran 
gedacht haben, Dich Deiner Familie, Deinem 
Stande, Deinen Berhältniffen zu entreißen, um 
Dich Leuten, wie feinen Eltern, zuzuführen und 
Dir ein forgen= und arbeitsvolles Leben aufzu⸗ 
. bürden, für das alle Kräfte und Gewohnheiten 
Dir fehlen.« 

Helene hätte Einwendungen machen, fich und 
Friedrich und ihre Hoffnungen vertheidigen mögen, 
aber der anerzogene Gehorfam fchloß ihr den 
Mund. Sie warf fi ihr Schweigen ald eine 
Feigheit, eine Schwäche vor, und doch fehlte ihr 
die Möglichkeit, der Mutter offen zu wider 
fprechen. 

Auf die Gewohnheit‘ diefer ihrer Ueberordnung 
flügte die Baronin ſich eben fo fehr als auf ihr 
gutes Recht. Sie ſetzte der Zochter auseinander, 
wie ja Friedrich felbft ihr durch fein Fortbleiben 
aus dem Haufe den Weg vorgezeichnet, den fie 
zu gehen hätte. Sie lobte ihn, daß er feinen 


212 


nend Phantaſie fich, alle Schranken überflügelnd, 
dies Beifammenfein mit dem Geliebten audgemalt, 
um fo größer war aller Ueberrafchung bei Frieb- 
rich's Weigerung. Helene und ihr Bruder fühl: 
ten fich gegen ihn verftimmt, ihre Eitern beſchul⸗ 
digten ihn eine falfchen Stolzed und ließen ibn 
dad Mißgefühl entgelten, Verſchmaͤhung ftatt des 
erwarteten Dankes erfahren zu haben, denn bie 
Vorkehrungen für Richard waren der Art getrofs 
fen worden, daß er nur wenig Stunden der Auf: 
ficht feines Erziehers anheimgefallen und dieſem 
der größte Weil feiner Zeit zu freier Selbftbe- 
ſtimmung geblieben fein würde. 

Dadurch warb dad Werhältniß des jungen 
Manned zu dem ihm fo theuren Menfchenfreife 
plöslich ganz verwandelt. Man tadelte ihn all: 
gemein, fogarder Doctor wollte Die Gründe nicht gel⸗ 
ten laſſen, mit denen Friedrich ihm das Ablehnen je⸗ 
ned Amtes erflärte, und befonderd war ed Helene, 
die ihm ihre Enttäufchung nicht vergeben zu koͤn⸗ 
nen fchien. Verkannt und gebrüdt, wie er fich 
nun im Heidenbrud’fchen Haufe fühlte, verlor er 
bie Unbefangenbeit, daſſelbe, wie er fonft gethan, un- 


223 


Brand? Wird ed Dich nie gereuen, Dein an 
iveale Genuͤſſe gewöhntes Dafein gegen ein 2e- 
ben vol Mühe und grober Arbeit einzutaufchen? 
Slaubft Du, daß Dich die Liebe entfchädigen koͤnne 
für Alles was Du opferft?« 

Helene antwortete nicht. Ihr Verftand be- 
griff Die Richtigkeit der Einwendungen, ihr Herz 
vermochte fie nicht anzuerkennen, auch drängte 
die Mutter fie nicht zur Entfcheidung. Sie bot 
ihe Zeit an, fich zu faflen, nachzudenken, und 
übernahm es, den Vater über diefen Aufichub zu 
berubigen, da der Graf felbft ‘Helene ermahnt 
hatte, fich in Ruhe zu prüfen, ehe fie fich ent- 
Ihließe, dem älteren Manne ihre Hand zu reichen, 
und zärtlich die Tochter umarmend, verließ bie 
Baronin das Gemach mit dem ausdrüdlichen Be⸗ 
fehle, dem Water und dem Bruder die Herzens: 
verirrung Helenens zu verbergen. 


214 


beängftigt und verwirrt. Endlich fragte der Juͤng⸗ 
ling: »Zürnen Sie mir auch?« 

»Mie kann man Iemand zürnen, weil.er feis 
ner Neigung Folge leiftet?« entgegnete fie mit 
jener Unmwahrheit, die den Frauen unter dem 
Namen des weiblichen Stolzes als Zugend aner- 

“zogen wird. Rur die höchfte Liebe befreit das 

Weib von diefem Auswuchd unferer falfchen Sitt⸗ 
lichkeitöbegriffe. Der Mann Tann im Kampfe 
lächeln, wenn er den Feind verwundet, das Weib 
thut e8 dem Geliebten gegenüber und findet eine 
Luft daran, ſich und ihn zu einer Graufamteit 
empor zu flachen, von der fie Beide leiden. 

„Meiner Neigung ?« wiederholte er und blickte 
fie an, als müffe er fich überzeugen, ob fie es 
fei, die fo zu ihm geredet. 

»Oder Ihrer kalten Vernunft!« verbeflerte 
Helene, und wendete ſich von ihm zu einer Gruppe 
anderer Perſonen. Sie bemerkte Friedrich's Er⸗ 
bleichen, auch ihr klopfte das Herz krampfhaft 
und ſie litt von ihrer eigenen Haͤrte, aber grade 
dieſes Leiden beſtaͤrkte ſie in ihrer Selbſtverblen⸗ 
dung, denn ſie machte es nicht ſich, ſondern dem 


215 


Geliebten zum Vorwurfe, der, niedergemworfen 
durch den Glauben, fie habe die Größe des Opfers 
nicht begriffen, durch das er ihrer werth zu fein 
getrachtet,, fie liebe ihn alfo nicht, es nicht er- 
tragen konnte, fie gleichgültig mit Anderen ver- 
tehren zu fehen, während er fo tief behübt war. 
Ihr Bild verzerrte ſich ihm, er hätte fie toͤdten 
innen, um fie nicht mehr lächeln zu fehen, und 
mit einer Verzweiflung, in der fi) Haß und 
Liebe einten, verließ er plöglich die Gefellfchaft. 
Helene fah ed mit fchmerzlichem Trotze, fie 
war zufrieden, fich nicht gedemüthigt zu haben. 
Aber als die Gäfte fich entfernt hatten, als fie 
fi) allein mit Gornelie in ihrem Zimmer fand, 
da Famen dad Bemwußtfein ihred Unrechtd und 
die Reue über fie. Sie fegte ſich nieder an 
Friedrich zu fchreiben, fie forderte feine Verge⸗ 
bung. Das Eleine Blatt war gefaltet und ver- 
fiegelt, da trieb ihr der Gedanke an den Diener, 
den fie zum Ueberbringer und alfo zum Vertrau⸗ 
ten ihres Geheimniffes machen mußte, die Röthe 
der Scham in die Wangen. Sie zerriß den Brief, 
fich tröftend mit der Hoffnung, der Geliebte werde 


216 


fie nicht entbehren können, er werde wiederkom⸗ 
men und fie ihm ihre Schuld geftehen, feine Ber: 
zeihung erlangen. 

Aber Friedrich blieb aus, er erwartete ein 
Zeichen von Helene, ber es leicht fein mußte, 
ihm eine Einladung zu erwirfen, und Beide hat⸗ 
ten begonnen, den bitteren Zorn der Liebe gegen 
einander zu empfinden, als Helene eines Abends 
in dad Zimmer ihres Vaters befchieden wurde. 

Die Eltern faßen auf dem Sopha, die Mut: 
ter war in füchtlicher Bewegung, der Vater hatte 
fhweigend das Haupt auf ben Arm geftuͤtzt, 
Erich ftand in der Fenfterbrüftung. Eine dumpfe 
Angft uͤberkam fie als fie eintrat, fie fühlte, dieſe 
Zufammentunft gelte ihr. Man hatte ihre Liebe 
für Friedrich entdedt, man ſah fie ald ein Un: 
recht an, man wollte fie zur Rechenfchaft ziehen, 
und willene und urtheildlos wie fie war fühlte 
Helene ſich fchuldig, weil fie dafür gehalten zu 
werden glaubte. 

Mit bebender Stimme fragte fie, was ihr 
Vater befehle? 

»Ich habe mit Dir eine ernfle Angelegenheit 


f 
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227 


„Die Sräuleind waren auch da, die Eine 
malte und ich glaube die Andere lad. Die Alte 
aber fagte, als fie fertig war und ich aufftehen 
wollte, ich follte nur fißen bleiben, fie hätte von 
meiner Krankheitgehört. Ich fagte: man ſieht's mir 
auch wohl noch an! — Ja! meinte fie, und wenn 
ih gewußt hätte, daß Sie noch fo ſchwach find, 
fo hätte ich gewartet. Kann man Ihnen denn 
mit gar Nichts helfen? Da habe ich gedankt 
und habe gefagt: mein Sohn hat’s mir an gar 
Nichts fehlen Taffen, und Sie werden ja gehört 


‚haben, daß er den Preis befommen hat. — Ihr 


Sohn? fragte Die eine Tochter, ald wenn fie 
mich nicht Tennte.« 

»Welche Zochter fragte das?« rief Friedrich. 

„Die an der Staffelei! — Ja, fagte ich, er 
geht ja hier. ein und aus! und die Alte fagte: 
es iſt der Meifter Brand, der Vater von dem 
jungen Brand !« 

»Und was that fie darauf?« fragte der Juͤng⸗ 
ling ungeduldig. 


»Sie fagte mir, fie wolle neue Schränke ge- 
15* 


216 


fie nicht entbehren können, er werbe wiederkom⸗ 
men und fie ihm ihre Schuld geftehen, feine Ver⸗ 
zeihung erlangen. 

Aber Friedrich blieb aus, er erwartete ein 
Zeichen von Helene, der es leicht fein mußte, 
ihm eine Einladung zu erwirfen, und Beide hat: 
ten begonnen, den bitteren Zorn der Liebe gegen 
einander zu empfinden, als Helene eines Abends 
in dad Zimmer ihres Water befchieden wurde. 

Die Eltern faßen auf dem Sopha, die Mut: 
ter war in fichtlicher Bewegung, der Vater "hatte 
fchweigend das Haupt auf ben Arm geflügt, 
Erich ftand in der Fenfterbrüftung. Eine dumpfe 
Angft uͤberkam fie als fie eintrat, fie fühlte, dieſe 
Zufammentunft gelte ihr. Man hatte ihre Liebe 
für Friedrich entdedt, man fah fie als ein Un: 
recht an, man wollte fie zur Rechenfchaft ziehen, 
und willen und urtheilslos wie fie war fühlte 
Helene fich fehuldig, weil fie dafür gehalten zu 
werben glaubte. 

Mit bebender Stimme fragte fie, was ihr 
Vater befehle? 

»Ich habe mit Dir eine ernfte Angelegenheit 


229 


»Die Alte fagte: das ift fehr brav von 
Ihnen, und Ihr Sohn macht Ihnen alle Ehre, 
Sie werden einmal eine rechte Stüße an ihm 
a haben, und was wir zu ſeinem Fortkommen thun 
= hoͤnnen, dad ſoll gewiß geſchehen! — Ich hatt's 

Ihon auf der Zunge zu fagen, Du würbeft Dir 
wohl felber helfen, aber ich dachte, wozu? und 
fügte: wenn fie einmal eine Pfarre auf ihren 
Gütern hätten, fo wuͤrden fie wohl nicht Viele 
kriegen, bie ed befler machten als Du, und dann 
koͤnnten wir zu Dir ziehen, ich Tönnte draußen 
arbeiten und ed wäre und dann Allen geholfen. 
Sie hörten mir fo zu, daß ed mir, ich weiß nicht 
Wie, vom Herzen ging, und fie waren ordentlich 
gerührt davon. Die an ber Staffelei fing mitten 
Drin zu weinen an und ging hinaus!« 

Friedrich hörte Nichtd weiter, nicht wie der 
Water die Maße genommen, nicht wie die Ba— 
“eonin befohlen, ihm ein gutes Frühftücd! zu geben, 
Denn alle feine Gedanken meilten bei Helene. 
Er mußte wiffen, weshalb fie geweint, weshalb 
fie das Zimmer verlaffen und nicht mit feinem 
Water gefprochen hatte? 






218 


Alle Anwefenden waren betroffen, der Water 
drücdte ihre Hand und fagte ermuthigend: »Wie 
folte man es nicht entichuldigen, daß dieſe 
Stunde Dich erfchüttert, aber Du mußteft darauf 
gefaßt fein, und Du kannſt nicht ſchwanken, denfe 
ich, welchen Entfchluß Du zu faſſen haft, da Du 
unfere Anfichten und Wuͤnſche kennſt. Sol ich 
die Antwort für Dich übernehmen, meine liebe 
Tochter ?« 

»Ja!« antwortete fie Faum hörbar. 

»Wird Dir der Entfchluß fo ſchwer?« forfchte 
die Mutter. 

»Ja!« wiederholte die Zochter und mwunderte 
fih, daß fie den Muth hatte es zu bekennen. 

»Und doch wirft Du ihn fegnen!« beruhigte 
der Water, »der Graf ift —« 

»Der Graf?« fragte Helene. 

»&r wird Dir Erfab werben für uns Ale. 
fuhr der Vater fort. 

»Der Graf? — Erfaß?« ſprach fie in einem 
Tone nach, als ob ihre Gedanken ſich verwirrten. 

»Seine Liebe für Dich, feine Welterfahrung —« 

»O!« rief Helene, dem Vater in die Rebe fal- 


231 






‚ tiner Beziehung zu fich dachte. Zu diefem Manne, 

zu einer ihm ähnlichen Frau in kindlichem Ver⸗ 
hältmiffe zu ftehen, ihn Vater zu nennen, Fam 
ihr unmöglich vor. Sie beflagte und bewun⸗ 
derte den Geliebten, ohne daß es fie milder gegen 
feinen Vater flimmte, und diefer Zwieſpalt ihres 
Empfindend ward zulegt fo qualvoll, daß fie, 
wie der Meifter berichtet, in Zhränen das Zim⸗ 
mer verlaflen hatte. 

Aber die Einfamkeit ihres Gemaches minderte 
das Leiden nicht. Sie zürnte ihrer Mutter, daß 
fie den Bater des Geliebten benutzt habe, fie von 
Diefem zu entfernen, fie nannte ed graufam und 
berzlos, und doch erfchrad fie vor dem Gedanken, 
daß diefer alte Mann ihr hätte begegnen konnen, 
wenn er bereitd Rechte an fie geltend zu machen 
gehabt hätte. Sie Eonnte mit folhen Menfchen 
richt leben. Wie hatte Friedrich ihr, der edel 
Sewöhnten, folch felbftfüchtige Zumuthung zu 
machen wagen dürfen? »Aber hat er nicht in 
ihrer Mitte gelebt? hat er fich nicht fchön und 
hoch entwidelt neben diefen Eltern? und follte 
id das nicht auch vermögen?« fragte fie fich, 


Dreizehntes Kapitel. 


Es währte geraume Zeit, ehe Friedrich einen 
feften Entichluß zu gewinnen vermochte. Schonlange 
hatte er gemünfcht, fich für denafademifchen Lehrſtuhl 
auszubilden, um in der Stadt zu leben und fich 
weitere Lebenskreiſe zu eröffnen, als die Laufbahn 
eines Geiftlichen ihm für die erfte Zeit verhieß. 
Seit er Helenend Liebe ficher war, fah er die 
fchnelle Erlangung einer Profeflur als das eins 
zige Mittel an, das ihm die Geliebte gewinnen 
Eonnte, und immer wieder drängte fich ihm der 
Glaube auf, Helene habe dem Bruder ihre 
Liebe vertraut und diefer wolle dem Freunde 
felbft die Wege für die Zukunft bahnen. Aber 
die Anfichten, welche er oftmald im Haufe 
des Barons über ftandesmäßige Ehen, von Eric) 
über heimliche Jugendrerlobungen hatte außfpre- 





233 


ihre Hand und fprah: »Wenn der Himmel 
einem Sünglinge :wie diefem Friedrich wohl will, 
fo fendet er ihm früh ein Ideal, ihn vor dem 
Niebrigen zu hüten, ihn zu dem Höchften hinzu- 
führen — und wehe ihm, wenn er's herabzieht 
in die Niedrigkeit der Erde. Bewahre ihn vor 
diefem Elend meine Tochter!« 

»D! daß ich's koͤnnte! daß ich ihn gluͤcklich 
machen koͤnnte!« rief Helene. 

»Du Pannft es, und Du folft es thun, mein 
Kind! Nimm ihm die Möglichkeit, Did) und 
Dein Leben durch niedrige Altäglichkeit zu pro: 
faniren. Bleibe ihm unerreichbar ald Bild der 
reinften, höchften Weiblichkeit, und er wird fein 
Jugendideal treuer, anbetender lieben durch fein 
ganzes Leben, ald eine durch ihn aus ihrer Sphäre 
herabgezogene und in feinem Haufe unglüdfelige 
Frau. Entfage ihm, um Di ihm zu erhalten!« 

Und wortlos auf das Knie ſinkend vor der 
Mutter, reichte Helene ihr die beiden Hände hin 
zum feierlichen Werfprechen des Gehorfams, das 
fie mit ihren Thraͤnen befiegelte. 

Die Baronin gönnte ihr Zeit zur Sammlung, 


234 


dann überließ fie fich der Freude, fie mit ficherer 
Hand vor einem Schritte bewahrt zu haben, 
den fie der Tochter fo verberblich glaubte. Sie 
eilte, dem Baron Helenens Einwilligung zu melden; 
die Nachricht der Verlobung brachte dad ganze 
Haus in freudige Bewegung. Der Vater, die 
Geſchwiſter, Die Dienerfchaft, bei welcher der frei- 
gebige Graf in gutem Gedenken lebte, drängten fich 
glüdwünfchend heran, nur Cornelie fah forgen- 
vol auf diefe Zeichen der Zufriedenheit und drüdte 
leife der Schweiter Hand, die, wie von einem 
Traume befangen, Alles um fich her gefchehen 
ließ und fich faft willenlos in Alles fügte, was 
man von ihr begehrte. 

Während fie dem Grafen fchrieb, fie fei bereit 
ihm zu gehören, und Erich auf des Vaters Wunfch 
die Verlobung der Schwefter dem Onkel meldete, 
trat Friedrich in fein Zimmer, befangen durch die 
innerliche, wenn auch nicht ausgefprochene Ver⸗ 
ſtimmung zwifchen den beiden Freunden, aufge- 
regt durch den Gedanken, die Geliebte wiederzu- 
fehen. Aber Erich bemerkte davon in feiner 
Freude Nichts, und dem Kommenden die Hand 


235 





zum Gruße bietend, fagte er mit SHerzlichkeit: 
»Du- kommſt zu guter Stunde!“ 

»Iſt Dir ein Gluͤck begegnet?« fragte Friedrich. 
»Du leuchteft vor Zufriedenheit !« 

»Ja! Helene bat fich mit dem Grafen St. 
Brezan verlobt!« 

»Nein! nein!« rief Friedrich und hielt ſich er⸗ 
bleichend an dem Tiſche, neben dem er ſtand. 

»Um Gotteswillen! was haſt Du?« fragte 
ſein Freund und blickte ihn angſtvoll an. 

»Sage nein! ſage nein!« wiederholte der Be- 
bende und preßte feine Hände gegen feine Stirn. 

Erich ſchwieg. Es war eine Weile ganz ftill 
in dem Gemache, dann ergriff er Friedrich’ Hand, 
und fagte leife: »Armer Sreund !« 

Er erhielt Feine Antwort. Friedrich hatte fich 
niedergefegt und barg fein Antlik mit den Hän- 
den. Erich fland rathlos neben ihm. Jetzt ward 
ihm das Verhalten feiner Schwefter Elar. Er beflagte 
fie, er beklagte den Freund, aber ohne den Ge: 
danken, dag ihr Schiefal anders zu geſtalten ge- 
weſen wäre, ja er fühlte, daß nur auf diefe Weife 
Beide ihm erhalten worden wären, und in dem 


236 


Glauben, dem Freunde damit Troft zu geben, 
rief er fich felber tröftend: »Sind wir einander 
doch geblieben!« 


»Was ift mir das?« brach Friedrich in der 
Gewalt des erften Schmerzed heftig aus; dann 
ſich befinnend, fland er auf und bat: »Vergieb! 
ich wußte nicht, was ich fagte, mich ängftigen 
diefe Waͤnde!« 


Er fchritt der Thüre zu, Heidenbrud wollte 
ihn begleiten, Friedrich bat, ihn allein zu laffen. 
Helenens Bruder follte ed nicht fehen, wie feine 
Seele zerriflen war. 


Er glaubte ſich Ealtherzig von ihr getäufcht. 
Schon an dem Abende, da fie feine liebevolle 
Annäherung fo fpöttifch abgewiefen, wähnte er 
den Verrath von ihr befchlofien, und er hatte 
fie fo fehr geliebt. Er vermochte die ‚Größe - 
feines Schmerzes felbft Baum zu erfaflen, ed war 
ihm, als müfje fie ihn vernichten. 

Ald er an des Doctors Wohnung vorüberfam, 
trieb es ihn hinaufzugehen und ihm SHelenens 
Verlobung zu erzählen. Er wollte die wollüftige 


237 


Dual genießen, fein bitterfles Weh mit Palter 
Lippe auszufprechen, aber ald er nach dem &lin- 
gelzuge griff, ſchauderte er davor zurüd, denn er 
kam fich gefpenftifch, wie fein höhnender Doppel: 
gänger vor, in dem Gedanken an dies felbftquä- 
lerifche Geluͤſten. Und doch wollte er Jemand 
fprechen, um nicht fich felbft anheimzufallen. Erhätte . 
zu feinem Vater gehen mögen, zu blutöverwand- 
ten Menfchen, die ihn lieben mußten, ihnen fein 
Leid zu klagen, aber er hörte ja auch jest ſchon 
immerfort ded Vaters tadelndes: »Warum ver: 
trauteft Du den Vornehmen?« 

Er ging vor's Thor hinaus und kam erft in 
der Dunkelheit in feine Wohnung, in der ihn ein 
Billet feines Freundes erwartete. Es lautete: 
»Du wollteft heute Helenens Bruder nicht mehr 
fehben, ich verftehe dein Empfinden, aber glaube 
mir, daß Helene leidet wie Du ſelbſt. Ich ver: 
fprach ihr, es Dir zu fagen, zum Troſte für das 
unerläßiiche Opfer, das fie bringen mußte. Sie 
wünfcht aufs Land zu gehen, wir fahren: morgen 
früh hinaus. Es ift auch Dir das Befte. Sm: 
wenig Tagen kehre ich zuruͤck; gönne mir und 


238 


Dir, gönne meiner Schwefter dann die Beruhi- 
gung, daß ich bei Dir bin!« — 

Wie erlöft athmete ver Juͤngling auf. Er warf 
fi) auf dem Stuhle vor dem Tiſche nieder, und 
den Kopf auf die untergebreiteten. Arme flüßend, 
. weinte er feine heißen Thraͤnen einfam aus. 
Endlich gewann der tröftende Gedanke, daß Delene 
ſchuldlos fei, daß er fie wieder lieben koͤnne, die 
Oberhand in ihm. Er vergaß feines Schmerzes, um 
des ihren zu gedenken, ihr Schidfal, ihre Zufunft 
befchäftigten ihn allein, und mit einem heißen 
Gebete um Frieden für fie, fchlief er von Kummer 
ermübdet ein, als ſchon das erſte Tagesgrauen 
durch die Scheiben flimmerte. 

Eine tiefe Lähmung überfam ihm beim Er- 
wachen, denn es duͤnkte ihn, als habe er jetzt 
Nichts mehr zu thun auf diefer Welt, da er das 
Ziel feines Streben verloren hatte. Mechanifch 
räumte er die auögebreiteten Bücher und Papiere 
wieder zufammen und feßte ſich müßig träumend 
an das Fenſter. Aus diefer fchmerzlichen Stumpf: 
beit fchredite ihn Larſſens Beſuch empor. 

»Ich hatte die Ferien vergeflen,« fagte er, 


239 


»und bin in des Schultrappe Gewohnheit um 
fieben Uhr aufgeflanden. Komm ic Dir zufrüh?« 
Friedrich verneinte ed und nöthigte ihn, fich 
niederzulaflen und fich eine Pfeife anzuzünden. 
Er that es, aber ohne die ihm fonft eigene 
Sorgfalt und Behaglichkeit. Während er den 
Tabak herbeiholte und die Pfeife ftopfte, fah er 
immer verftohlen zu dem Sünglinge hinüber und 
meinte endlich, in abgebrochenen Sägen fprechenp: 
»Man muß fich nicht fo in fich felbft verſenken 
— man muß fi nicht dem Feinde übergeben — 
der Schmerz ift unfer Todtfeind.« — Dazwifchen 
zündete er paffend feine Pfeife an, ging rauchend 
im Bimmer auf und nieder und fagte endlich, in⸗ 
dem er vor dem zerftreut Zuhörenden ftehen blieb: 
»Ich Fam nur zu fehen, was Du machteft!« 
»Das ift fehr gut von Dir!« antwortete die- 
fer, ohne weitere Erklärung. | 
»Fertige mich nicht mit dieſer dankbaren 
Dhrafe ded Don Garlos ab,« Tächelte Larffen, 
»denn ich bin Fein fonderbarer Schwärmer wie 
der Pofa, und mit Dir geht ed auch noch nicht 
zu Ende. Heute wirft Du mich nicht los!« 


240 


»Ich werde Dir Fein angenehmer Gefellfchaf: 
ter fein!« wendete Friedrich ein. 

»&in um fo beflerer hoffe ih Dir zu werden. 
Laß und hinaus gehen vor das Thor!« 

»Du wilft fpagieren gehen?« fragte der An⸗ 
dere verwundert, Denn ed vergingen ganze Som⸗ 
mer, ohne daß Larffen daran dachte, die Stadt 
und ihre Öffentlichen Gärten zu verlaffen. 

»Ich werbe did und appetitlod und muß da⸗ 
ran denken, mirBewegung zu verfchaffen. Kleide 
Di an und laß uns gehen!« wiederholte Larfien, 
mit felbftifchen Gründen eine Xheilnahme verber- 
gend, die Friedrich trotz ihrer eigenthümlichen 
Ausdrudsweife wohlthat. Auch hatten fie kaum 
das Freie erreicht, ald er die Erquidung zu füh- 
len begann, welche für jedes perfünliche Leid aus 
dem Anblid der Natur erwaͤchſt. Sein dumpfer 
Schmerz löfte fich in Traurigkeit, in Wehmuth 
auf, und Larſſen bewachte liebevoll die Stimmung 
des Sünglings, bemüht, ſich jedem Wechſel derfel: 
ben fchweigend oder fprechend. anzupaflen, ohne 
den Grund von Friedrich's Kummer mit Worten 
zu berühren. Ä 


241 


So modten fie eine Stunde gegangen fein, 
ald Larffen erflärte, nun der Ruhe zu bedürfen. 
Eine Beine Schenke am Wege bot Gelegenheit 
dazu, und als fie im Schatten der dicht umrank- 
ten Kürbislaube Platz genommen hatten, als Die 
Wirthin in ihren rothen Händen, die ftrogend 
ans den weißen Hemdeärmeln hervorfahen, ſchaͤu⸗ 
mended Bier und Brod und Schinken herzuge- 
tragen und. Alled vor den Gaͤſten mwohlgeordnet 
hatte, blickte Larfien mit ungeheucheltem Entzüden 
in die großen Gläfer und fagte, als käme ihm 
aus dem Gebrodel des Schaumes Einficht und 
Verſtand: »Mer fich felbft. wiederfinden will, 
muß nicht bei fich zu Haufe bleiben, die eigene 
Wohnung macht. befchränft, wie alles Sonder: 
wefen, denn der Geift erzeugt ſich nur in der 
Maſſe. Wer wie die Alten ſtets in großer Ge: 
meinfchaft mit anderen Menfchen lebt, fei es auf 
dem Forum oder in der Kneipe, bewahrt fich vor 
jener Einfeitigfeit deö Geifted und des Herzens, 
aus der aller Partifularismus die ganze krank⸗ 
hafte Gefühlörichtung unferer Zeit erwächft. Die 
Alten Fannten auch unfere Liebeöleiden nicht und 

Bandlungen. 1. 16 


242 





dad Mittelalter that nur liebeleidensfelig, im 
Grunde war ed doch gefund. Es fommt auch 
Nichts heraus bei der alleinzigen Liebe! « 

»Das mag wohl fein!« gegenredete Friedrich, 
»aber — —« 

»Aber Du begreifft ed heute nicht! Das 
kann auch Niemand von Dir fordern !« — Er fchnitt 
dabei das Brod in dünne Scheiben, ftrich Butter 
darauf, belegte es mit Schinken und nöthigte 
feinen Genoffen zuzulangen. »Du fiehft aus, 
als hätteft Du nicht gefruͤhſtuͤkkt, und Nüchtern- 
heit macht muthlos!« meinte er. Dann, während 
er jelbft wader zugriff, fagte er: »So oft id 
von Liebesleiden höre, kommt mir immer ein 
Vers aud einem Stammbuche ded fechzehnten 
Sahrhunderts in den Sinn, der Elar und gefund 
ift, wie guter Wein. Er heißt: 

»Ich laſſe alle Jungfraun raufchen, 

Haben ſie zu wechſeln, hab' ich zu tauſchen, 

Scheint ihnen die Sonne, weht mir der Wind! 

Mandy andere Mutter hat auch ein liebes Kindl« | 

Larfien lachte laut bei diefen Worten, indeß 
Friedrich unangenehm davon berührt ward, und | 


243 


einen Mißgriff fühlend, wollte Iener einlenken, 
13 ein Poflborn fich hören ließ, und um die 
ſcke der Straße der Poſtwagen hervorkam. Das 
nthob ihn der Mühe, eine andere Unterhaltung 
u beginnen, er ſtand auf, die Paffagiere zu be- 
rachten. Kaum aber war er an den die Schenfe 
ımgebenden Zaun getreten, ald eine Stimme aus 
em Bagen dem Poftillon ein »Halt! Halt!« 
urief.” Der Schlag warb aufgeriffen und mit 
inem Sprunge hatte ein junger Offizier den 
Boden erreicht, Ber fich Larfien um den Hals 
varf. 

»Mie zum Teufel kommſt Du vor's Thor!« 
ragte er diefen, der ihn herzlich umarmte. 

»Ich habe eine Morgenpromenade gemacht!« 

Der Offizier lachte laut auf. »Die erfte in 
Deinem Leben!« rief er, »da muß ich dabei fein. 
Sahr zu Schwager, ich bleibe hier!« - 

„Aber Ihre Sachen, Herr Lieutenant?« wen 
ete der Conducteur ein. 

»Die Eönnen in der Poft bleiben, ich‘ komme 
sach !« antwortete der junge Mann, fchüttelte ven 


Staub von feinen Kleidern, redte die fibend- 
16* 


244 


mübden Glieder und fragte fi) umfchauend, wäh- 
rend die Poft davon fuhr: »aber bift Du wirf: 
lich ganz allein hier, Larſſen?« 

»Nein! nicht ganz allein, fo kann ich nicht 
entarten. Sch frühftüde hier mit meinem und 
Deined Bruderd Freunde, mit Brand!« 

»„So laßt mich den Dritten fein!« bat ber 
Offizier, begrüßte Friedrich, dem er fich ald Georg 
Heidenbrud vorftellte, forderte ein Fruͤhſtuͤck und 
feßte fich zu den Anderen nieder, nachdem er bie 
fteife Militairkravatte abgenommen und die Uni⸗ 
form ausgezogen hatte, unter der er feine Wefte 
trug. »Das ift zwar nicht reglementömäßig, aber 
um fo angenehmer,« meinte er, »und nun erzählt 
mir, was machen fie zu Haufe?« 

»Sie find heute früh aufs Land gegangen!« 
berichtete Larſſen. 

»Und mas giebt’3 Neues fonft?« 

»Erwartefi Du Etwas?« fragte Larffen. 

»Nun, um die Sache kurz zu maden, denn 
Brand wird ja auch darum wiſſen, wie ſteht es 
mit Helene? 

»Sie ift Braut feit geftern!« antwortete Larſſen. 


245 


»Und was denkt Ihr von dem St. Brezan?« 
jefchte Georg weiter. „Erich hat mir fehon im 
Binter in feinem biplomatifch verblümten Stylus 
ber ihn und über die Pläne und Wuͤnſche der Fa⸗ 
ilie gefchrieben, da ich aber in die Familienpläne 
ie eingeweiht zu werden pflege, und die Familien⸗ 
yünfche inftinctiv und grundfäglich faft niemals 
heile, fo weiß ich von der Sache Nichte. Wie 
It ift St. Brezan?« | 

»Im beften Alter!« fagte Larſſen. 

»Das heißt, im beften Alter fich zur Ruhe zu 
Ken! Man Fennt diefe beften Alter, die anfan- 
en, wenn die guten Tage vorüber find!« höhnte 
er Lieutenant, während feine Züge ernfthaft 
yurben, und mit bitterem Ausdruck fügte er hin- 
u: »alfo eine flandesmäßig oͤkonomiſche Verkup⸗ 
elung! — dazu war Helene im Grunde doch zu 
ut!« Ä 

Sriedrich Eonnte diefe Unterhaltung nicht laͤn⸗ 
er ertragen, er fland auf und ging davon. 
Beorg fah ihm eine Weile nach, blidte dann 
:arfien an und fragte endlich: »Hat Helene ihn 
uch geliebt?« | | 


26 


— — — — — 


»Ja!« lautete die Antwort und dann ſchwie⸗ 
gen Beide, bis fein ehemaliger Lehrer den Lieu- 
tenant darauf aufmerffam machte, daß es Zeit 
fei in die Stadt zu geben, weil er fonft das 
väterliche Gut nicht mehr erreichen koͤnne. 

„Um fo befjer!« meinte diefer, »ich bin nicht 
begierig, Helene fo verkauft zu fehen und bin 
froh, einmal nicht an die Signaltrommel gebun= 
den zu fein. Sch habe fechd Wochen Urlaub, ebe 
ich bei den Cüraffiren eintrete.« 

»So bleibft Du nun zu Daufe?« 

»Der Alte will es fo. Er denkt, doppelter 
Vorſpann reißt nicht! An der Kette des Familien 
lebend und an der Leine des Dienftes haben fie 
mich ficher !« 

Es lag eben fo viel jugendlicher Uebermuth 
ald Spott in feinen Worten, und Friedrich, der 
inzwifchen ſich wieder zu ihnen gefunden hatte, 
betrachtete ihn mit wachfendem Intereſſe. 

Kleiner und flämmiger ald der hochſchlanke 
Erich, hatte er Corneliend dunkle Farben, die ihm 
ein über feine Sahre männliche Anfehen gaben. 
Sein ſchwarzes Haar legte ſich trotz des militaͤ⸗ 


247 


riſchen Zufchnitts in vollen Locken um die breite 
Stirne, die ftarfen Lippen verdedte ein dicker, 

' Schwarzer Schnurrbart, aus bem die Zähne blen⸗ 
dend weiß hervorfahen, und obfchon die Formen 
feines Gefichtes weder edel noch regelmäßig waren, 

' fand Friedrich ihn faft fchöner, ald den eleganten 

| Erich, wie er fo da faß mit der offenen, hochge- 
wölbten Bruft und den dunkelblau leuchtenden 
Augen unter den Eräftigen Brauen. 

Freimüthig bis zum Leichtfinn, fragte er nach 
all den kleinen  Familienvorgängen, welche der 
Hausfreund meift erräth, die man ihm aber doc 
nicht Preis gegeben wähnt, und Friedrich ward 
dabei gewahr, wie wenig er felbft in die näheren 
Verhaͤltniſſe des Haufes eingeweiht gemwefen war. 
Theils hatte feine Liebe ihn gleichgültig gemacht 
gegen Alles, was nicht Helene betraf, theils lag 
es in Erich's Weife, die Familienangelegenheiten 
auch vor dem Freunde als ein Myfterium zu be⸗ 
handeln, und es überrafchte ihn daher, daß Georg 
die Bande, welche ihn den Seinigen verfnüpften, 
als einen ſchweren Drud zu fühlen fehien. 

»Ich glaube,« fagte er zu Sriedrih, »Sie ges 


248 


hören auch zu den glüdlichen Unglüdlichen, bie 
nicht von Familie find. Danken Sie Gott dafür, 
denn die Familie von Familie ift des Teufels 
Erfindung, und um fo fchlimmer, je befler die 
einzelnen Mitglieder find, je mehr fie fich unter: 
einander lieben!« | 

»Haben Sie davon gelitten?« fragte Iener. 

»Wenn mein Brüder Ihnen verfchwieg, daß 
ich der ungerathbene Sohn des Haufes bin, fo ift 
das nur ein Act feiner gewohnten Didcretion ge⸗ 
ween!« lachte Georg, fügte aber gleich hinzu: 
‚ser iſt übrigens das Mufter eines verfländigen 
Bruders, und ohne ihn wäre ich vielleicht laͤngſt 
in Algier, im Caukaſus oder in irgend einem 
Hinterwalde von Amerifa, wo ich denn freilich 
auch befjer hingepaßt haben würde, ald in unfere 
ganze zahme Gefittung. Haben Sie nie Sehn: 
fucht gehabt, Herr Brand, nach Urzuftänden voll 
täglichen Kampfes um dad tägliche Leben?« 
»Mich duͤnkt,« antwortete ber Gefragte, »man 
müffe erft allen Ueberfluß des Lebens befeflen 
haben, um folchen Wunfch zu hegen!« 

»Ganz und gar nicht! Man braucht nur feder⸗ 


249 


träftig und gebrüdt worden zu fein, um den 

Drud unerträglich zu finden und .auffchnellen zu 

wollen. Tyrannei macht fehnfüchtig nach Freiheit, 

Disciplin nad Imanglofigkeit, auch wenn man 

nicht blafirt ift, wofür Sie mich zu halten fcheinen.« 
- »Da8 habe ich nicht gefagt!« | 

„Aber Sie haben ed gedacht! Indeß be= 
ruhigen Sie fih, im Gabettenhaufe wird man 
nicht blafirt. Es macht den Einen zum Sklaven, 
den Andern zum Empörer, blafiren Tann die 
Knechtſchaft nicht!« 

Er tran? bei diefen Worten fein Glas haftig 
aus, ald wolle er den Groll herunterfpülen und 
fagte, als er ed dann nieberfeßte: »Ich glaube, 
eö ift die verdammte Heirath, die mir die Galle 
aufregt und mir die eigene Bamilienftlaverei 
wieder fo vor’3 Auge rüdt, denn ich war vorher 
ganz heiter in dem Gedanken ſechs Wochen Urlaub 
zu haben und fo lange des verbammten Dienftes 
quitt zu fein!« | 

»Und was zwingt Sie im Dienft zu bleiben? « 
fragte Friedrich. 

»Das kann Ihnen Larffen fagen! — Ich bin 


250 


der jüngere Sohn und habe außerdem Nichts ge= 
lernt. Ich galt für unbezähmbar, für träge. —« 

»Du warft es auch!« fiel Larſſen ein. 

»Ich mar ed für Dich und für die Meinen, 
weil Ihr Nichts mit mir anzufangen wußtet. 
Sch follte bei den Büchern fißen, mein Blut litt 
‚mich nicht am Schreibtifche, ich fühlte mich matt 
und flumpf und fchläfrig in der Enge bei der 
todten Lernerei. Es langmweilte mich, von Gefah: 
ren und Heldenthaten, von großen Unternehmun- 
gen, von verdienftlihen Werken zu hören, ich 
hätte ald Troßbube, als Kaufburfche dienen mö- 
gen, wo fie verrichtet wurden. Mein Berftand 
widerftrebte den abſurden Anftandöregeln, ich 
lernte ed nicht, mich einzupaffen in die verfchiede- 
nen Fächer Eurer Gefelligkeit, und der Zwang⸗ 
ftall des Gadettenhaufes, in den ich dann geſteckt 
ward, hat mid) aud) Nichts gelehrt, ald Fnirfchend 
in die Kette zu beißen — bis fie endlich einmal 
brechen wird.« 

Er war aufgeftanden nnd ging heftig auf und 
nieder, bis er vor Friedrich ftehen blieb, feine 
Hand ergriff und fie fchüttelnd ausrief: »Aber 


251 


verlaffen Sie ſich darauf, ich revangire mich, 
und auch ‚Helene wird ſich revangiren!« Dabei 
flog ein Zug von grimmem Spotte über fein 
Geſicht, der. Friedrich unheimlich berührte. 

Larfien feinerfeitö, fonft ſtets geneigt, derartige 
Bemerkungen aufzunehmen und fortzufpinnen, 
fah in diefem Falle die Richtung, weldye das Ge- 
fpräch genommen hatte, offenbar nicht gern, weil 
er Georg gegenüber es nicht vergeffen konnte, 
daß er einft für ihn verantwortlich geweſen fei, 
und er drängte zum Aufbruch, damit Georg das 
väterlihe Gut noch am Abende erreichen Eonnte. 

In der Stadt angefommen, fand der Lieute- 
nant aber einen Brief des Bruders vor, der ihn 
bat dort zu bleiben, weil er felbjt genöthigt fei, 
fhon am nädftfolgenden Tage feines Examens 
wegen zur Stadt zurüdzufehren, und eine große 
Freude haben würde, wollte Georg während def- 
felben bei ihm bleiben. Sobald es beendet wäre, 
wollten fie dann gemeinfam zu den Eltern hin- 
ausgehen, welche mit diefem Vorfchlage ganz ein- 
verftanden wären. 

Georg Fnitterte das Blatt achtlos zuſam⸗ 


252 


men und meinte: »Gie haben Furt, meine 
gottlofe Ehrlichkeit Fönnte dad Eid von Helenens 
tugenbhaften Entfchließungen zerfchmelzent Sch 
hätte wohl hinausgemocht, aber im Grunde bin 
ich bier freier ald dort. Auf Morgen alfo!« 


Bierzehntes Kapitel. 


Erich's Eramen war fchon feit ein paar Wo⸗ 
yen vorüber und noch lebten die Brüder in ber 
Stadt beilammen, ohne daß von einem Befuche 
ei den Eltern die Rede geweſen wäre, und Frieb- 
ich, welcher während diefer Zeit ebenfalls feine 
Jrüfungen beftanden hatte, freute fich ihres Ver⸗ 
yeilend, denn die Nähe feined Freundes that 
ym wohl. 

Obgleich Erich weit davon entfernt war, die 
iebe feiner Schwefter für einen mittellofen Bür- 
erlichen als zuläffig zu betrachten, fühlte er jet, 
a er von diefer Neigung für die Zukunft He⸗ 
mens Nichts mehr fürchtete, ein lebhaftes Mit- 


254 


leid mit ihr und mit dem Freunde. Er ward es 
nicht müde, ihm von der Schwefter zu fprechen, 
die einfache Gefchichte diefer Liebe immer und 
immer wieder anzuhören, bis Friedrich, zu ges 
fund, um fich abfichtlich feinem Schmerze zu über- 
laſſen, aufs Neue zu feinen Arbeiten zurüdzus 
fehren und an allgemeinen Intereffen Theil zu 
nehmen fähig ward. 

Die Abwefenheit der Heidenbrud’jchen Familie, 
welche die jungen Männer zu einem Gafthaus- 
leben nöthigte, trug das Ihrige dazu bei, auch 
Friedrich zu zerftreuen, denn wohin man Fam, 
waren die politifchen Gefpräche fo lebhaft, daf 
man theilnahmlofer als Friedrich hätte fein muf 
fen, ſollte man das eigene Weh nicht vergeffe 
über den Vorgängen in Franfreih, die tägli 
eine ernftere Geftalt annehmen und eine grr 
Krifis ald wahrfcheinlich berechnen ließen. 

So fehr man auch im eigenen Lande gewe 
war, fich den väterlichen Abfolutismus des ı 
fen Königs Friedrich Wilhelm’ ded Dr 
gefallen zu laffen, fo geduldig die Mehrzah 
Menfchen für die hie und da erkannten Mäng 


255 


| preußifchen Zuſtaͤnde, von ber Einficht des Koͤ⸗ 
nigd und feiner Minifter eine Aenderung erwar: 
tete, und obfchon nur einige Wenige daran dadıten, 
daß fie fo „gut wie Engländer und Franzofen 
eine Berechtigung zur Selbftregierung hätten, fo 
waren doch die Blicke aller Männer auf diefe 
Völker gerichtet, und während man in wunder: 
licher Demuth, fi ein patriotifches Tugendbe⸗ 
wußtfein machte aus der Gleichgültigkeit gegen 
die Zuftände feined eigenen Waterlandes, war 
man empört über die Reaction in Frankreich, 
über das Minifterium Polignac, über die fana= 
tifche Bigotterie Karl’d des Zehnten, und bewun⸗ 
derte mit Enthuſiasmus die muthige Oppofition, 
welche ſich jenen entgegenftellte. 
Da erfchienen plöglich in Paris die berüchtig- 
ten Ordonnanzen und wenig Tage fpäter traf 
die Nachricht von der Juli-Revolution, von der 
Entthronung Karl's des Zehnten, von der Ernen- 
| nung des Herzogs von Orleans zum Könige der 
Franzoſen die erflaunte Welt. Die Namen Ca⸗ 
| fimir Perrier's, Lafitte's, jener Bürger, welche 

einen Fürften zum Bürgerfünige erhoben Hatten 


n 


256 


waren in jedem Munde, Tadel und Lob, Furcht 
und Hoffnung Enüpften fih an fie, und wie ein 
MWetterleuchten aus dumpfer Schwüle, fo zudte 
überall die Erkenntniß auf von der Gewalt eines 
einigen Volkswillens. Mochten Greife, welche 
fi) noch der erften franzöfifchen Revolution und 
ihrer Schreden zu erinnern wußten, auch mit 
Beforgnig auf den entfeflelten Riefen bliden, 
mochten viele Männer, welche die Napoleonifche 
Zeit erlebt und das wechfelnde Gluͤck entthronter 
und wieder eingefeßter Fürften gefehen hatten, 
auch. mit zweifelnder Gleichgültigkeit auf die Er- 
eigniffe in Frankreich fchauen, fo hatte doch im 
Allgemeinen fi eine Aufregung der Geifter be= 
mächtigt, wie man fie nach den Freiheitskriegen 
in Preußen nicht empfunden. Jeder nahm Par- 
tei, Jeder glaubte feine Wünfche und Hoffnun- 
gen durch die Ereigniffe in Frankreich gefördert 
oder gehemmt. Die großen Gewerbtreiben- 
den ſowohl als die Civil- und Militairbeamten, 
der Grundbefiger wie der arme Bürger fühlten, 
eine folche Umwaͤlzung müfje in weiten Kreifen 
nachwirken. 


257 


waren nur nod einige Perfonen bei dem 
rant verfammelt, als der Doctor, der fich 
pät am Abende die Zeitung von der Poft 
ffen gewußt hatte, mit den erften Procla- 
en Louis Philipp’8 in dad Zimmer trat, 
je den Anmefenden auf ihr Verlangen 


est möchte ich in Paris fein!« rief Erich, 
m Anblid muß ein Volk gewähren, in 
jerrußtfein feiner Heldenthat und feiner 
ung.« 


bh meine,« fagte ein älterer Hauptmann, 
yerden bald genug fatteln müffen, unfer 
Mag an jene Mäßigung zu legen, und 
» nach Frankreich kommen, weiß ich nicht, 
ver Shr Herr Bruder die neuen franz: 
Helden kennen lernen wird, darauf will 
ten, zehn gegen Eins!« 

hun fie das nidht!« fiel ihm Georg in’ 
»Sie Fönnten ſich verrechnet haben !« 

0 glauben Sie, daß folche aberwißige 


ften Ruhe halten werden ?« 
ndlungen 1]. 17 


258 


»Wen nennen Sie aberwißige Phantaften ?« 
fragte der Doctor. 

»Diejenigen, die fich in Paris einbilden, ein 
Haufe zufammengelaufenen Geſindels werde das 
Regieren beffer verftehben, ald ein zum Herrſchen 
geborner, für feine Würde erzogener Monarch, 
uud ein Confeil von Miniftern, welche fih durch 
Studien und Erfahrung dazu vorbereitet haben !« 

»Die Männer, welche nach vielfachen Ber: 
fuchen einer friedlichen Aenderung: der Uebelftände, 
fih endlich zu der Erfenntniß gedrängt fahen, 
daß der rechtlofen Gewalt nur mit Gewalt zu 
widerftchen fei, waren die angefehenften Bürger 
Frankreichs!« fagte der Doctor mit feiner uner⸗ 
fchütterlichen Ruhe, «und wenn ſolche Bürger, 
die ermählten Vertreter ihres Volkes und vor- 
zugsweiſe desjenigen Theiled, auf deſſen Schul: 
tern die Laften des Staated ruhen, einftimmig 
erflären, fo koͤnne dad Rand nicht weiter fort: 
regiert werden, fo ift e& mindeftend — fehr gewagt 
von einem Haufen zufammengelaufenen Gefindels 
zu fprechen !« | 

Der Hauptmann wollte auffahren, allein die 


259 


rubige Kälte des Doctord aͤußerte auch über ihn 
ihre Macht. Da traf zufällig fein Blick auf den 
jungen Offizier, der mit allen Zeichen des Bei- 
falls die Worte des Doctord angehört hatte. 
„Aber was denken Sie, Herr Camerad?« fragte der 
Hauptmann plößli, fi gegen den jungen Okfi— 
jier hinwendend. 

»Was ich denke?« erwiderte der Gefragte. 
»Je nun! Gedanken find zollfrei! und ich meines 
Theil möchte die Korbeeren eines zweiten Felt: 
zuges in die Champagne nicht theilen !« 

»Was wollen Sie damit fagen, Herr Lieute- 
nant von Heidenbrud?« fragte der Hauptmann, 
»erflären Sie fich deutlicher!« 

»Ich fchlage mich nicht für Karl den Zehnten 
und fein Pfaffenregiment!« wiederholte Georg, 
»mich duͤnkt die Worte find verftändlich !« 

»Bollfommen !« entgegnete der Hauptmann, 
erhob ſich und verließ mit einer Falten Verbeu—⸗ 
gung gegen Erich den Saal, ohne Georg und 
den Doctor weiter eines Blickes zu würdigen. 
Der Doctor lächelte, aber Erich bemerkte tadelnd 
gegen feinen Bruder: 


260 


— re—— — — 


»Du haſt doch ein wahres Talent, Dir Un— 
gelegenheiten zu machen.« 

»Oder vielmehr, ich habe eine Pofition, in 
der alled VBernünftige und Wahre mir Ungelegen- 
heiten machen muß.« 

»Weil Du ed unzeitig und rüdfichtölos ver- 
fichtſt. Es war Zeit genug, Deinen Entfchluß 
fund zu geben, wenn der Augenblid die Ent- 
fcheidung verlangte, wozu ihn erklären mitten 
im Srieden, gerade jekt, da Du in das neue Re- 
giment zu treten haft?« 

»Hol’ der Zeufel dad Regiment und die Bor- 
fiht! ich bin zum Soldaten und zum Diploma= 
ten gleich verdorben!« rief Georg mit troßiger 
Verlegenheit. »Es ift, als hörte ich den Vater 
argumentiren!« und gegen Friedrich gewendet, 
fragte er dieſen, als wolle er die Aufmerkfamteit 
ablenken von fich felbft; »Warum find Sie fo 
fhweigfam?« 

»Ich denke darlıber nad, welche Folgen jene 
Ereigniffe fir uns mit fich bringen werden ?« | 

»Fuͤr uns? gar Feine!« meinte der Doctor, | 
shier ift jaAlles zufrieden, von feinem väterlichen \ 


261 


Könige wie ein unmündig Kind behütet und 
beglüdt zu werdben!« e 

»Sagen Siedas nicht!« entgegnete Erich, »-Sie 
felbft wiflen, daß der Wunſch nach ftändifcher 
Vertretung fehr lebhaft unter uns ift!« 


»Meinen Sie damit einige Standes- und 
Majoratöherren,« wendete der Doctor ein, »welche 
ed verdrießt, fi) unbedingt den Refcripten der 
Büreaufratie untergeordnet zu fehen, fo gebe ich 
Shnen Recht!« 


»Und fieht nicht ein großer Theil der Intelli- 
genz dem Gonftitutionalismus als einer Erftl- 
lung feiner Wünfche entgegen ?« fragte Friedrich. 


»Das beftreite ich!« fagte der Doctor, »denn 
die Mehrzahl unferer Gelehrten fieht in dem 
Oberhaupte des Staates den König von Gottes 
Gnaden; wie follten fie alfo zweifeln an der Un- 
fehlbarteit des Gottgefandten, wie Hand anlegen 
an die Rechte und die Macht deflelben? Woher 
folte ihnen die Befugniß fommen, fi der Re: 
gierung zu widerfeßen, da ihr Heiland ihnen be- 
fiehlt, unterthan zu fein der Obrigkeit, die Ge- 


262 


walt hat über fie! Und was find die Ariftofratie 
und Die Intelligenz gegen folch zufriedened Volf!« 

»Sreilih das Volk ift zufrieden!« beflätigte 
Erich; der Doctor aber fügte hinzu: »Das heißt, 
es ift zufrieden wie der Kleinftädter, welcher nie 
die Heimath verlaffen bat und feine Stadt für 
die fchönfte, feinen Bürgermeifter für einen So: 
lon, fein Dünnbier und fein fehlechted Brod für 
Nektar und Ambrofia hält, weil ihm jeder ver- 
gleichende Maßſtab gebriht. Unfer Volk ift zu- 
frieden aus Gedankenloſigkeit, und ehe fich nicht 
im Bolfe einfichtige Unzufriedenheit verbreitet, 
ehe nicht die Intelligenz: frei wird von dem Glau⸗ 
ben an himmliſche und irdifche Legitimität, iſt 
Nichts für und zu hoffen!« Er fchwieg eine 
Meile und rauchte ruhig fort, bid er dann, ald 
Schluß feiner Worte, den Ausruf that: »Es ifl 
und bleibt aber doch eine Schande, fich ſtumpf⸗ 
finnig mit dem Geringften zu begnügen, ftatt 
mit aller Kraft nah vollem Genügen zu trach⸗ 
ten; es ift eine Schmach, fich gängeln zu laſſen, 
wenn man gehen koͤnnte!« 

Georg hatte ihm mit leuchtenden Augen zuge⸗ 


263 


hört, plößlich fragte er: »Warum gehen Sie nicht 
fort, da Sie Herr find es zu thun? Was hält Sie 
bier, wo Nichts Ihren Anfichten entfprechen kann ?« 

»Der Gedanke, daß man bleiben muß, wo 
viel zu thun ifl, wenn man in fich Kraft zur Ars 
beit fühlt.« 

Und was fönnen Sie, was koͤnnen wir 
thbun ?« forfchte der Lieutenant. 

»Wir follen nicht glauben, fondern prüfen, 
* denn der Glaube macht blind, der Zweifel fehend, 
und nicht der Glaube macht felig, fondern der 
Zweifel. Der allein führt zur Wahrheit, zur 
Erfenntniß von der Göttlichkeit des Menfchen 
und von dem ihm eingebornen Rechte freier Selbft- 
beftimmung ohne Hinblid auf ein höheres Wefen, 
denn der Menfch ift das Höchfte.« 

„Zu diefem Glauben werden Sie mich nie: 
mals bringen!« rief Friedrich. 

„Man wird auch nicht von Anderen dazu ge: 
bracht, mein Freund! er wird Shnen aber hoffent- 
lich einft aus dem eigenen Geiſte fommen, wenn 
Sie fich nicht abfichtlich verblenden !« 

»Er wird auch nicht kommen, denn all mein 


264 


Wiſſen und Erkennen wurzelt in dem Glauben 
an die Macht, die über uns waltet, und abfallen 
von diefem Glauben wäre Vernichtung für mid, 
ich hörte auf, ich felbft zu fein!« 

»Wer weiß, ob Sie nicht ein Anderer und 
doch noch ein Befferer werden koͤnnten!« fagte der 
Doctor mit freundlichem Ernfte. 

»Abfall von feinem Glauben erhebt den Men= 
fen nicht!« entgegnete Friedrich. 

»Und woran bewährt fih der Charakter des - 
Mannes, ald in dem eifernen Fefthalten deffen, 
was er einmal ald Recht erfannt!« fügte Erich hinzu. 

»Eifernes Fefthalten an demjenigen, wad man 
einmal als Recht erkannt hat,« wiederholte der 
Doctor, indem er dad Wort ‚einmal‘ ſtark betonte. 
»Das kann unter Berhältniffen Schwäche und Ver⸗ 
brechen werden, wenn man eined Befleren bes 
lehrt wird, denn wie die Blüthe abfällt, wenn die 
Frucht fich bildet, fo muß man abfallen von ſei⸗ 
ner alten Ueberzeugung, wenn man eine neue 
beffere gewonnen hat!« 

»Mit diefer Anſchauung,« meinte Friedrich, 
»erheben Sie die Unbeftändigfeit zur Tugend, 


265 


rechtfertigen Sie eine beftändige Wandlung der 
Anfichten, und die Inconfequenz wird höchfte Conſe⸗ 
quenz !« 

Und Zalleyrand zu einem Muftermenfchen,« 
lachte Eric). 

„Wären die Wandlungen, die man ihn durchs 
machen fah, eine Folge feiner inneren Ueberzeu- 
gungen gemwefen,« antwortete der Doctor ernfthaft, 
»fo hätte man ihrer nur lobend zu gedenken. Indeß 
machen Sie fih die Sache einmal Far. Wir 
Alle glauben an eine Fortentwidelung der Menfc- 
beit, Sie fo gut ald ih. Wie ift eine foldhe 


fortfchreitende Entwidelung aber möglich inner: 


halb unwandelbar gezogener Schranfen? Wie den- 
fen Sie ſich die Fortentwidelung der Menfchheit, 
ohne daß der Einzelne in fi die Wandlungen 
erlebt, aus denen allein eine fortfchreitende Um- 
geftaltung der’ allgemeinen Anfichten hervorgehen 
kann? Diejenigen Menfchen, die in ihren ererb- 
ten und anerzogenen Meinungen unwandelbar ges 
blieben find, haben die Menfchheit nicht gefördert, 
aber Jeſus, der Sude, welcher die nationalsreligi: 


oͤſen Sabungen des Judenthums zerflörte, um 
17° 


266 


— 





eine neue, die ganze Menfchheit umfaſſende Lehre 
auf den Trümmern der alten zu bauen, Luther, 
der gläubige Catholik, der abfiel von feinem früs 
beren Glauben und vom Papfte, feinem HDber: 
haupte; Mirabeau, der Edelmann, der feine er: 
erbten Anfichten als Vorurtheile von fih warf, 
und die Fahne feiner Standesgenoſſenſchaft ver- 
ließ, um gegen dieſe feine Standesgenoſſen und 
ihre volksbedruͤckenden Privilegien anzukaͤmpfen, 
fie Alle find abgefallen von ihrem Glauben, fie 
Alle haben Wandlungen erlitten, und diefe Bands 
lungen find um fo auffallender geweſen, je be⸗ 
deutender dieMänner waren, an denen fie geſcha⸗ 
hen. 3a, ich behaupte, daß ein Menſch, der uns 
wandelbar in feinen ererbten Meinungen oder in 
feinen einmal gefaßten Anfichten beharrt, vollkom⸗ 
men unfähig ift, der fortfchreitenden Menfchheit 
irgend wie zu nüben, und ed giebt auch kaum 
einen Menfchen, der fich folcher Unwandelbarkeit 
anzuflagen hätte. Wir Alle andern und! Je 
größer unfere Fähigkeit, um fo fichtbarer unfere 
MWandlungen, und wenn wir und nad) zehn, nach 
fünfzehn Jahren einmal wieder fehen ſollten, io 


267 


d, ich hoffe dad zu unſerm Beſten, Ieder von 
n8 feine großen Wandlungen erlitten haben, 
hne dag wir und deshalb des Verrathes an uns 
Ihft und an unferer Uebergeugung anzuflugen 
ıben werden. Wir find, ich fagte ed Ihnen 
yon einmal, Theile eines lebendigen, fich ftet8 
rwanhelnden, fich ſtets erneuenden Ganzen, es 
: alfo unſere Aufgabe, und mit offenen Sinnen, 
it firtlichem Ernfte der allgemeinen Bewegung 
ı überlaffen, damit fie uns umgeftalte nadı ihrer 
othwendigkeit, nicht und abzufperren und uns 
r hindernd entgegenzuftemmen, aus dem thörich- 
n Glauben, daß ed von Stärke zeuge, feine 
Bandlung in fih zu erfahren. Wollen Sie 
blofer fein bei lebendigem Leibe, als Ihr Kör- 
er, der felbft nach Ihrem ode noch lebenzeu: 
mde Wandlungen erleidet ?« 

Er hatte fich bei diefen lebten Worten erho- 
n. Es war Mitternacht, die anderen Gäfte 
ıtten ſich allmälig entfernt, die Freunde waren 
lein im Saale, und da der Doctor ftehen blieb, 
elten die Freunde ed für ein Zeichen zum Fort: 
hen. Der Doctor aber, fonft allem fpäten 


268 
Trinken und allen pathetifchen Scenen abgeneigt, 
ließ Champagner bringen, füllte die Gläfer und 
das feine erhebend fpradh er: »Heute, wo eine 
neue Umwandlung in Frankreich begonnen hat, laf- 
fen Sie uns trinken auf die fortichreitenden 
Wandlungen in und und in der Menfchbeit!« 

Die Sünglinge fließen mit ihm an, alle drei 
mehr oder weniger hingeriffen und erfchüttert. 
Dann brah man auf Der Doctor verließ fie 
gleich vor der Thüre des Haufes, und als fich 
dann Friedrich) von den beiden Brüdern trennte, 
fagte er: »Mir ift feierlich zu Muthe, als hätte 
ich das Abendmahl genoffen und hätte mich einem 
neuen Bunde angelobt. Wie kann man ein 
Sottesleugner fein und alles hoͤchſten Glaubens 
voll wie diefer Mann?« 

„Meine Hauptfreude bei der Sache ift aber 
doch, daß der, welcher und in diefe Abenpmahl- 
fiimmung verfeßt hat, gerade ein Jude ifl!« rief 
der Lieutenant, und Erich meinte: »Ich habe 
ihn noch niemald fo gefehen als heute, die wan⸗ 
delbaren Ereigniffe haben ihn wirklich ganz aus 
feiner unwandelbaren Ruhe gebracht .« 


⸗ 


269 


»Spotte nicht!« tadelte Friedrich. »Er war 
1 heiligem Ernſte!« 

»Der Ernft ift auch wandelbar!« lachte der 
ınge Baron; »ich möchte aber doch bald reifen, 
m mir einmal die Wandlungen in Paris mit 
1zufehen!« 


Sehszehntes Kapitel, 


Haft inoch Iebhafter ald die jungen Männer, 
wurde der Baron durch die Nachriht von der 
Revolution und von der Entthronung Karl’d des X. 
erfchüttert, den er noch ald Prinzen kennen ge: 
lernt hatte und an deſſen Hof ihm fpäter ein 
wohlmollender Empfang bereitet worden war, 
ald er mit feiner Gattin einft Paris befuchte. 
Die Empörung eined Volkes gegen feinen ange: 
flammten Herrn war ihm ein Verbrechen, ver: 
dammenswerth wie Batermord. Das Unglüd des, 
entthronten, auf's Neue heimathlo8 gewordenen 
Fürften, deffen Geift und anmuthige Herablaffung 
ihn gefeflelt hatten, that feinem Herzen wehe, 


261 


— — —— — — 


Koͤnige wie ein unmuͤndig Kind behuͤtet und 
begluͤckt zu werden!“ 

»Sagen Sie das nicht!. entgegnete Erich, -Sie 
ſelbſt wiſſen, daß der Wunſch nach ſtaͤndiſcher 
Vertretung ſehr lebhaft unter uns iſt!« 


»Meinen Sie damit einige Standes- und 
Majoratöherren,« wendete der Doctor ein, »welche 
ed verdrießt, fih unbedingt den Referipten der 
Buͤreaukratie untergeordnet zu fehen, fo gebe ich 
Ihnen Recht!« 


»Und fieht nicht ein großer Theil der Intelli- 
genz dem Gonftitutionalismus als einer Erfül- 
Iung feiner Wünfche entgegen?« fragte Friedrich. 


»Das beftreite ich!« fagte der Doctor, »denn 
die Mehrzahl unferer Gelehrten fieht in Dem 
Oberhaupte des Staated den König von Gottes 
Gnaden; wie follten fie alfo zweifeln an der Un= 
fehlbarfeit des Gottgefandten, wie Hand anlegen 
an die Rechte und die Macht deffelben? Woher 
folte ihnen die Befugnig kommen, fich der Re: 
gierung zu widerfeßen, da ihr Heiland ihnen be- 
fiehlt, unterthan zu fein der Obrigkeit, die Ge— 


272 


»Was heißt das?« fragte der Baron mit 
ungewöhnlich ftrengem Zone. 

»Du mußt es ja gelefen haben, lieber Vater! 
welch enthufiaftifche Zuftimmung die feanzöfifchen 
Ereigniffe hervorgerufen haben. Nicht nur in 
Holland, auch in Suͤddeutſchland und am Nheine 
hat die öffentlihe Meinung — —« 

Der Baron ließ ihn nicht zu Ende fprechen. 
„Und Du?« fragte er, »Du felbft fprichft ja von 
diefem Wahnfinne mit den Modeworten ‚enthus 
fiaftifche Zuftimmung und Öffentlihe Meinung!‘ 
— Und Du bift doch alt genug, die verfchiebenen 
Volksklaſſen und den Werth ihrer Meinung, 
diefer Öffentlichen Meinung , zu beurtheilen !« 

Er erwartete offenbar Feine Antwort, und 
fagte nad) einem kurzen Schweigen: »Dente Dir 
einmal unfere Bauern und Seftleute, fielle Dir 
einmal das ſtumpfe, halbpolnifhe Mafurenvolf 
des Onkels auf Steinfelde vor, oder unfere 
Dienerfchaft und unfere Handwerker, die ich mit 
einem Befehle oder mit einem Thaler zu meinem 
Willen zwinge, und frage Dich dann einmal ehr⸗ 
lich: welche Beburfniffe hat diefe Maffe, ald Ob⸗ 


273 





dach, Nahrung und ein Weib zu haben? Welchen 
Werth hat ihr Urtheil? Was begehren unfere 
Handwerker und Gewerbtreibende weiter ald Er- 
werb? Was kann der Gelehrte mehr verlangen 
ald Lehrfreiheit und perfönlihe Achtung? Was 
fehlt und auf unferen Gütern? Welcher Zheil 
des Volkes entbehrt in Preußen Freiheit für fein 
Dandein, fo fern es Feine fremden Rechte kraͤnkt? 
Wem gebricht Schuß in unferm Baterlande, wenn 
feine Rechte angetaftet werden? Bon Volksver⸗ 
tretung zu Iprechen unter der Regierung unferes 
Könige, Mißtrauen zu zeigen gegen unfer Herrs 
iherhaus ift ſtrafbar, geradezu firafbar — um 
ed nicht eines Edelmannes unwürdig zu nennen !« 

Er ging dabei heftig im Zimmer auf und 
nieder, und ſchlug unhörbar mit der rechten Hand 
auf feine linke, wie er zu thun gewohnt war, 
wenn er eine leidenichaftlihe Bewegung nieder: 
fampfen wollte, die zu verrathen ihm gegen ſeine 
Würde fehien. Auch fchwieg der Sohn refpect- 
voll, bis der Vater wieder vor ihm ftehen blieb 
und, ruhiger geworden, alfo zu fprechen begann: 
»Es ift möglich, daß vie Alliirten, daß der König 

Wandlungen. 1. 18 


274: 


ed nicht für angemeffen halten, in Frankreich zu 
interveniren,, denn der Boden jened unglüdfeli« 
gen Landes fcheint der Art unterwühlt, das Bol 
fo fehr verwildert, Daß ed unmöglich fein mag, 
jest irgend etwas Bleibendes in jenem Chaos zu 
begründen, und dann ift es Staatöflugheit, nutz⸗ 
loſe Kraftanftrengung zu vermeiden. Aber es ift 
thöricht,« rief er mit neuer Aufwallung, »zumeinen, 
Preußen wolle feine Streitkräfte nicht nach Außen 
wenden, weil ed fie im Inneren brauchen koͤnnte. 
Es lebt Gottlob! noch ein gefunder Kern im Volke. 
Die Treue für den König ift etwas Angeflamm- 
tes unter uns, und es tft unfere Pflicht, .die 
Pflicht jedes rechtlichen Mannes, unfer Bolt 
davor zu hüten, daß das Gift der Revolution 
nicht in demfelben um fich greife. Ich habe auch 
unferm Schulzen gleich verboten, den Bauern 
feine Zeitung zu verborgen, fo lange das Unwefen 
nicht beruhigt iſt, und geſtern die Leute und Die 
Dienerfhaft zuſammenkommen laffen, ihnen zu 
erflären, was in Frankreich vorgegangen ift, da- 
mit nicht falfhe Darftellungen fie in's Unglüd 
treiben !—-- Wie fieht’8 denn in der Stadt aus % 


275 





Erich erzählte, daß die Aufregung bedeutend 

gab Beweiſe dafür, fuchte aber doch immer 

e Ausdrüde zu mäßigen und hüthete fich eine 

eilnahme an den Ereigniffen zu verrathen, die 

ı Anfichten ded Vaters entgegen fein konnte. 

a8 befänftigte diefen, fo daß Erich ed endlich 
aszuſprechen wagte, wie gern er Parid in bie: 
m Augenblide ſehen würde. 

Was erwarteft Du Dir davon ?« fragte der 
Baron. 

»Ich möchte ed aus eigener Anfchauung ken⸗ 
nen lernen, wie ein Volt, dad die beftehenden 
Geſetze aufgehoben hat, ſich neue Geſetze giebt 
und fich ihnen unterwirft!« 

»Der Anblid wird nicht erfreulid), aber viel- 
leicht lehrreich für Dich fein,« meinte der Vater, 
und fald Helenens Hochzeit feinen Aufſchub er: 
leiden muß, will ih Dich nicht hindern, gleich 
nach derfelben Deiner Neugier zu willfahren, fo 
wenig ich Dich hindern würde, Dir die Eruption 
eined Vulkanes anzuſehen, voraudgefeßt, daß Du 
Dich ſelbſt vor Schaden wahrft!« 

Erfreut, diefe Zuſtimmung fo unerwartet 

18* 


276 


leicht erhalten zu haben, wünfchte Erich zu wiffen, 
weshalb der Water eine Verzögerung der Hoch⸗ 
zeit für möglich halte? 

„Ich erwarte, daß der Graf feine Entlaffung 
fordert, und das Fünnte ihn nöthigen, vor feiner 
Berheirathung noch Vorkehrungen für einen Auf- 
enthalt auf feinen Gütern zu treffen. Er, der 
einer der erften und älteften Familien ded Landes 
angehört, kann fich doc unmöglich dazu herge⸗ 
ben, in diefer bürgerlichen Königsfarce mitzufpie- 
len!« fagte der Baron, ald die Thüre aufging, 
der Lieutenant eintrat und fich dem Vater um ben 
Hals warf. 

Diefer erwiderte Die Umarmung ltebreich, 
aber noch während der Lieutenant fich niederbog, 
in feiner Derzendfreude des Vaters Hand zu kuͤſ⸗ 
fen, fagte derfelbe: »Warft Du fchon bei Deinem 
Chef?« 

»Ich habe mich bei meiner Ankunft gemeldet, 
lieber Vater! feitvem war ich nicht Dort; ich habe 
ja dort Nichts zu holen, da ich auf Urlaub bin.« 

Des Barons Gefiht nahm ploͤtzlich einen 
firengen, harten Ausdrud an. »Und diefen Ur- 


laub benutzeft Du auf Deine Weife!- fagte er. 
»Da& beweift der Brief, den ich geftern bekom⸗ 
men habe !« 

Damit reichte er ihm ein Schreiben feines 
Regimentscommanbeurd bin, der dem Baron 
nahe befreundet war. Es enthielt eine genaue 
Mittheilung des Vorganges bei dem Reftaurant, 
den zur Kenntniß des Commandeurs zu bringen, 
ber Hauptmann für feine Pflicht gehalten hatte, 
und der Obriſt fügte hinzu, daß er aus Freund- 
Ihaft für den Water die Sache zu vertufchen be- 
reit fei, wenn der Lieutenant feine Aeußerungen 
zuruͤcknehmen und fich deshalb vor ihm entfchul- 
digen wolle. 

Georg war während des Leſens bleich gewor: 
den, der Water beobachtete ihn fcharf. »Nun?« 
fragte er, ald der Sohn geendet hatte. 

»Der Brief enthält die Wahrheit!« antwor- 
tete Georg mit Faltem Zone und doch mit Un 
freiheit. 

»Und ?« fragte der Baron weiter. 

Der Lieutenant ſchwieg, aber ein heftiges Zu— 
den feiner Lippen verrieth feinen Kampf. Er 


278 


wollte fprechen,, unterdrüdte es — und es ent- 
fand eine Paufe, in der Eri vol Beſorgniß 
bald den Bruder, bald den Vater betrachtete, von 
denen feiner den Anfang zum Sprechen machen 
wollte, weil Feiner dad rechte Wort zu finden 
ſchien. 

Endlich ſagte der Baron: »Unſer Wiederſe⸗ 
chen faͤllt anders aus, als ich erwartet — ſei es 
drum! Geſchehenes iſt nicht ungeſchehen zu ma⸗ 
hen, zuruͤckleben kann man nicht. Aber ich rechne 
darauf, daß Du Dich noch heute zu dem Obriſten 
verfuͤgſt und zuruͤcknimmſt, was — ich glaube 
das zu Deiner Ehre — der Wein aus Dir ge⸗ 
ſprochen hat. Sei kuͤnftig maͤßiger und reſpectire 
meinen Namen und den Rock des Koͤnigs, den 
Du zu tragen die Ehre haſt!« 

Damit ging er, ohne dem Sohne Zeit zu ei⸗ 
ner Antwort zu laffen, hinaus. Kaum aber hatte 
er fich entfernt, ald Georg mit einer heftigen Be- 
wegung empor fuhr, und im Zorne gegen fich 
felbft mit der geballten Rechten gegen feine Stirne 
ſchlug. | 

Mas Haft Du?« fragte Erich. 





279 


»Was ich habe? — Und Du fragft noch ?« 
rief Georg wie außer ſich. »Fuͤhlſt Du denn 
nicht, wie elend ich wieder da geflanden habe ei- 
nem gefcholtenen Schulbuben gleih? — Schämft 
Du Dich denn nicht mit mir, daß ich nicht den 
Muth hatte, dem Vater zu fagen, wie verhaßt 
der Wiedereintritt in den Dienft mir gerade in 
diefem Augenblide iſt? — Liegt eine Ehre darin, 
diefe Schärpe zu tragen, fo verdiene ig fie nicht!« 

Seine Bläffe, feine ſtarren Züge hatten et- 
was Furchtbares. Erich war blaß geworden wie 
der Bruder, und fich liebevoll beruhigend zu ihm 
wendend, bat er: »Stürme nicht fo felbftvernich- 
tend gegen Dich an, Georg! Es ift keine Schwäche, 
es ift ein natürliches Empfinden, daß Du nad 
Sahre langer Abwefenheit dem Water nicht in 
der Stunde des Wiederfehens in feinen heiligften 
Ueberzeugungen entgegentreten mochteſt. Ich 
freute mich) Deiner Selbftbeherrfchung.« 

Der Lieutenant lachte bitter. »Selbftbeherr- 
[hung ?« fpottete er; »ich habe da geflanden, das 
Wort ded Trotzes, das Wort der Wahrheit auf 
den Zippen, und wenn ich es ausfprechen wollte, 





wollte fprechen,, unterdrüdte e8 — und es ent- 
fland eine Paufe, in der Erih vol Beſorgniß 
bald den Bruder, bald den Vater betrachtete, von 
denen keiner den Anfang zum Sprechen machen 
wollte, weil keiner das rechte Wort zu finden 
ſchien. 

Endlich ſagte der Baron: »Unſer Wiederſe⸗ 
chen faͤllt anders aus, als ich erwartet — ſei es 
drum! Geſchehenes iſt nicht ungeſchehen zu ma⸗ 
hen, zuruͤckleben kann man nicht. Aber ich rechne 
darauf, daß Du Dich noch heute zu dem Obriſten 
verfuͤgſt und zuruͤcknimmſt, was — ich glaube 
das zu Deiner Ehre — der Wein aus Dir ges 
fprochen hat. Sei künftig mäßiger und refpectire 
meinen Namen und den Rod des Königs, den 
Du zu tragen die Ehre haft!« 

Damit ging er, ohne dem Sohne Zeit zu ei- 
ner Antwort zu laflen, hinaus. Kaum aber hatte 
er fich entfernt, ald Georg mit einer heftigen Be⸗ 
wegung empor fuhr, und im Zorne gegen fich 
felbft mit der geballten Rechten gegen feine Stirne 
ſchlug. 

»Was haſt Du?« fragte Erich. 


279 
»Was id habe? — Und Du fragft noch ?« 
rief Georg wie außer ſich. »Fuͤhlſt Du denn 
nicht, wie elend ich wieder da geftanden habe ei- 
em gefcholtenen Schulbuben gleih? — Schämft 
Du Did denn nicht mit mir, daß ich nicht den 
Muth hatte, dem Vater zu fagen, wie verhaßt 
der Wiedereintritt in den Dienſt mir gerade in 
diefem Augenblide iſt? — Liegt eine Ehre darin, 
diefe Schärpe zu tragen, fo verdiene ig fie nicht! 
Seine Bläffe, feine ftarren Züge hatten et- 
was Furchtbares. Erich war blaß geworden wie 
der Bruder, und fich liebevoll beruhigend zu ihm 
wendend, bat er: »Stürme nicht fo ſelbſtvernich⸗ 
tend gegen Dich an, Georg! Es ift feine Schwäche, 
es ift ein natürliches Empfinden, daß Du nad) 
Jahre langer Abmwefenheit dem Vater nicht in 
der Stunde des Wiederfehend in feinen heiligften 
Ueberzeugungen entgegentreten mochtefl. Ich 
freute mich Deiner Selbftbehertichung.« 

Der Lieutenant lachte bitter. »Selbftbeherr- 
hung ?« fpottete er; »ich habe da geftanden, das 
Wort ded Trotzes, dad Wort der Wahrheit auf 
den Lippen, und wenn ich es ausfprechen wollte, 


280 


fielen meine Blide auf des geliebten Mannes 
theured Antlitz und ich mußte fchweigen. Ich 
fann ed nicht ertragen, feine Augen zornig auf 
mich gerichtet zu ſehen, und ich werde zum Ber- 
räther an mir felber, aus Liebe für den Water !« 

Es entfland eine Paufe, Erich war erfchüte 
tert, er näherte fi) dem ‘Bruder, ihn zu umar⸗ 
men, entfernte fi) dann aber wieder, aus Furcht, 
died Zeichen einer beflagenden Theilnahme könne 
ihn verlegen. Endlich fagte er: »So Tann es 
nicht bleiben, Georg! aber den Vater dahin zu 
beflimmen, daß er Dich jest den Abfchied nehmen 
läßt, ift ganz unmöglich !« 

»Ich weiß das!« 

„Wuͤrde es Dir eine Erleichterung ſein, wenn 
Du Dich als Lehrer an die Schule commandiren 
ließeſt? Deine Zeugniſſe befaͤhigen Dich dazu 
und Du haͤtteſt dann nur wenig mit dem activen 
Dienſt zu thun?« 

»Guter, treuer Junge! Du biſt ganz der Alte!« 
tief Georg plößlicy milder aus, »Du verbindeft, 
wie in unferer Kindheit, meine Wunden in der 
Stille, damit ih für meine Wildheit nicht ge- 


281 


a werde. Bier aber hilft das Ueberpfla= 
nicht!« 
8 ſchafft Dir Zeit, Georg! und Zeit gewin⸗ 
ißt hier Alles gewinnen! Der Ausbruch eines 
6 iſt ja ganz unwahrſcheinlich, und giebt es 
‚ nun fo iſt's ja dann noch Zeit genug, 
re Ueberzeugung nachzukommen, voraudges 
daß fie fich nicht geändert hat!« 
Du nutzeſt die Lehre von der Wandelbarkeit 
tenfchen fchnell genug für Dich und mid). 
Du doch geftern felbft vol Wärme für 
reiheitöfampf in Frankreich!« 
dann ich bei Anderen nicht bewundern, was 
eibſt vielleicht nicht angemeflen wäre? und 
n Unrecht, wenn ich verfuche, Dich zur Füg- 
t zu überreden, da Du im Vaterhauſe blei⸗ 
0ft? Der Zwiefpalt in Dir felbft, Dein 
Verhalten fchmerzen den Bater!. 
8 ift nicht meine Schuld, daß ich dahin 
ht ward, daß man mid troßig madıte, daß 
nich fürchten lehrte, wo ich liebte!« fagte 
eutenant. 
die an dem Knaben verübte Unbill als Mann 





282 


noch zu empfinden, ift Bein, Georg! Du mußt 
dad von Dir werfen!« ftellte der ältere Bruder 
ihm begütigend vor. 

»Ich kann fie nie vergeflen! Man bat mich 
feig gemacht!« rief der Lieutenant. Und wieder ent- 
fland eine Paufe, aber feine Leidenfchaft begann 
fi) durch das Ausfprechen zu befänftigen. Er 
feste ſich nieder, fügte den Kopf in die Hand, 
mit der er feine Augen verbarg. Und Eric 
glaubte zu bemerken, daß er Thränen zerbrüdte, 
die fich hervordrängen wollten. Da legte er feine 
Hand auf ded Bruders Schulter und fagte: »Geh 
zum Obrift, Georg! Der Vater ift in feinen Ue- 
berzeugungen getroffen, und gereizt durch Die 
neue Revolution, tritt ihm nicht entgegen, gerade 
jest nicht, wo er mehr ald je geneigt iſt, die 
Rechte feiner Autorität aufrecht zu erhalten. Wir 
wollen dahin trachten, Dir eine andere Lebens⸗ 
bahn zu finden, rechne unbedingt darauf, nur 
jest gieb nach !« 

Er hielt ihm die Hand hin, der Lieutenant 
zoͤgerte, ſchwankte, endlich ſchlug erein, und ohne 
ein Wort zu fagen, fchritt er der Thuͤre zu. 


285 


rbnungen ber Regierung zu fügen, konnte nur 
ine Ergebenheit gegen den König ihn vermoͤ⸗ 
en, denn er fah fie meift ald Eingriffe in feine 
techte , in feinen freien Willenden, und fo fam 
8, daß er in feinem Verhältniffe als Landforfte 
aeifter ein umerbittlich firenger Beamter fein 
onnte, während er ald Gutöbefiber ein Gegner 
er Beamtenherrfchaft war und fich faſt beftän- 
ig in Pleinen Kämpfen gegen die Regierung 
efand. , 

Ein folder Vater mußte auf die Entwidlung 
einer Söhne, je nach ihren Anlagen, fehr vers 
hieden wirten. Er hatte dem von Natur ſanf⸗ 
en und allzu fügfamen Erich eine Art von ſittli⸗ 
yer Haltung gegeben mit der Lehre von der Ach⸗ 
ung, die ein Edelmann jich fchulde, mit dem 
zedanken, daß er einft berufen fei, den Familien: 
amen fortzuführen und die Stüße feiner Mutter 
nd feiner Gefchwifter zu werden. Aber beftän- 
ig auf ded Vaters Urtheil, nicht auf fein eige⸗ 
‚ed Urtheil und Gewiflen hingewiefen, hatte ber 
Sohn fich gewöhnt, überhaupt den Maßſtab frem- 
er Billigung an feine Handlungen zu legen, 


284 


erften Kindheit ab ihnen einzuprägen geftrebt, 
daß. es Feine Einwendungen gegen den väterlichen 
Willen gäbe, daß Gehorfam, unbedingte, ſchwei⸗ 
gende Unterwerfung unter den väterlichen Willen, 
die hoͤchſte Tugend eined Kindes fei. | | 

Lag darin auf der einen Seite eine defpoti- 
fhe Härte, fo machten die Liebe des Barons für 
feine Kinder und die makelloſe Ehrenhaftigkeit 
feines ganzen Lebens, ihnen den Vater theuer 
und den Gehorfam gegen ihn in ihrer erflen Ju⸗ 
gend leicht. Ein rüdfichtövoller, treuer Gatte, 
aufopfernd und vorforglic für feine Kinder, ein 
gerechter Herr feiner Untergebenen , hülfreich mit 
Rath und That in weitem Kreife, gemeinfinnig 
und freundlich gegen den Geringften, galt er, ob⸗ 
Ihon man feinen Eigenfchaften Gerechtigkeit an⸗ 
gedeihen ließ, dennoch bei Allen, welche ihn nicht 
naher Eannten, für fchroff und ftolz, weil jede 
feiner Handlungen den Stempel der felbftherr: 
lichſten Willkür an fich trug. Dies Gefühl der 
Selbftherrlichkeit, das ſich in feinem Haufe gel- 
tend machte, gab fich aber auch nad) allen ande: 
ren Seiten fund. Sich den bureaufratifchen An⸗ 


285 


orbnungen der Regierung zu fügen, konnte nur 
. feine Ergebenbeit gegen den König ihn vermoͤ⸗ 
gen, denn er fah fie meift ald Eingriffe in feine 
Rechte , in feinen freien Willensen, und fo fam 
ed, daß er in feinem Verhaͤltniſſe als Landforſt⸗ 
meifter ein unerbittlich firenger Beamter fein 
konnte, während er als Gutöbefiber ein Gegner 
der Beamtenherrfchaft war und fich faft beſtaͤn⸗ 
dig in einen Kämpfen gegen die Regierung 
befand. . 

Ein folcher Vater mußte auf die Entwidlung 
feiner Söhne, je nach ihren Anlagen, fehr ver= 
ſchieden wirken. Er hatte dem von Natur fanf- 
ten und allzu fügfamen Erich eine Art von fittli- 
cher Haltung gegeben mit der Lehre von der Ach⸗ 
tung, die ein Edelmann jich fchulde, mit dem 
Gedanken, daß er einft berufen fei, den Familien⸗ 
namen fortzuführen und die Stüße feiner Mutter 
und feiner Gefchwifter zu werden. Aber beftän- 
dig auf des Vaters Urtheil, nicht auf fein eiges 
nes Urtheil und Gewiſſen hingewiefen, hatte der 
Sohn fich gewöhnt, überhaupt den Maßftab frem- 
der Billigung an feine Handlungen zu legen, 


286 


und die ererbten Anfihten, das Urtheil der Welt, 
zu feinem fchügenden Paniere zu erheben, fobald 
er fich von fittlichen Gonflicten bedroht ſah, die 
zu Iöfen, ihm die in ſolchen Fällen oft unerläß- 
liche Härte und Energie gebrachen. Ohne ſtarke 
Leidenfchaften, wohlwollend und befonnen thätig, 
war er dazu gemacht, fidy Freunde zu erwerben, 
verfühnend zu wirken und einen ebenen Lebens: 
weg mit ruhiger Sicherheit zu gehen, während 
fein Bruder nah Kämpfen und nad) Abenteuern 
Ihmadtete, um in ihnen einen Xbleiter zu fins 
den für eine Kraft, die der Bater , ftatt fie zu 
leiten und nußbar zu machen, als Fehler angefe= 
ben und zu brechen getrachtet hatte. Aber die 
Menfchennatur ift gluͤcklicher Weiſe zähe genug, 
folhen Mißgriffen nicht zu unterliegen, wenn fie 
davon auch angetaftet und gefährdet wird. War 
in dem Lieutenant die Fähigkeit felbfländigen Ent: 
fchluffes durch Die väterliche Strenge auch gebro= 
chen, fo hatte er niemald dad Bewußtſein verlo- 
ren, daß ihm damit ein fchwered Unrecht ange 
than fei, und er hatte nie härter davon gelit- 
ten, al& in der Stunde diefes Wiederſehens. 


287 


Was ed gerade ihn koflete, welchen Beweis 
von Liebe er dem Vater gab, ald er fich zu fei» 
‚nem Obriſten verfügte, das vermochte fein Bru⸗ 
der ihm nicht in voller Stärke nachzufühlen. Auch 
der Baron fah in des Sohnes That nichts als 
die pflichtmäßige Sühne eines unverantwortlichen 
Leichtfinnd Das Einzige, wad er Schonendes 
für ihn zu thun wußte, war, daß er des Vor⸗ 
falls niemald mehr erwähnte. Die Sache war 
abgemacht, wie er ed nannte, und bald ward die 
Zheilnahme der Familie nad) einer anderen Seite 
bin noch lebhafter in Anfpruch genommen. 


Siebenzehntes Kapitel. 


Gegen die Erwartung des Baron hatte naͤm⸗ 
lic) der Graf feine Entlafjung aus dem Staats: 
dienfte nicht gefordert, vielmehr fich der neuen 
Regierung zur Dispofition geftellt, und von ihr 
die ehrendfte Anerkennung feiner bisherigen Dienfte 
mit der Zuficherung erhalten, daß man bdiefer 
Dienfte nicht entrathen, fondern ihn in feinem 
Amte laffen wolle. Er hatte feine Handlungs⸗ 
weife ald eine fid) von felbft verſtehende betrachtet, 
und ihrer nur in einem Briefe an feine Braut 
Erwähnung getban, während der Baron in ihr eine 
Unebrenhaftigfeit erblidte, welche fein Vertrauen 
in den Charakter St. Brezan’s zerflörte. 


291 


angen. Weit davon entfernt, ed feiner Frau 
18 Vorwurf anzurechnen, daß fie ihm bisher von 
iefem Berhältniffe nie geſprochen, mußte er ihr 
anf dafür. Es lag in feinen Grundfäßen, daß 
beder innerhalb des ihm zugewiefenen Bereiches 
elbſtaͤndig handeln müfle, und über das Herz 
hrer Töchter zu wachen, war die Aufgabe der 
Rutter, eine Aufgabe, in welcher er gewohnt, 
yar, fie ungehindert gewähren zu laffen. 

Er fragte Nichts, er begehrte feinen näheren 
lufſchluß über diefe Neigung, ed genügte ihm gu 
iffen, daß fie unterdnidt fei und daß feine 
sochter fich ihrer Eltern werth bemiefen habe. 
Jad Einzige, was er zu überlegen hatte, war 
ie Art und Weife, in welcher man Helenen zu 
Jülfe kommen müfle, wobei er die Möglichkeit, 
e mit dem Grafen zu verheirathen,, jedoch ganz 
ußer der Betrachtung ließ. Sein erſter Gedanke 
yar, Friedrich zu entfernen. Die Baronin wen- 
ete ein, daß died unmöglich fei, da der junge 
Rann dur feine Studien und feinen Erwerb 
n feinen Aufenthaltsort gefeflelt werde, aber 


er Baron erfannte eine ſolche Unmöglichkeit 
19% 


290 


tämpften Wünfche und Hoffnungen, welche die 
wiedergemonnene Freiheit in der Tochter auf's 
Neue anregen mußte, fellten fich dem Auge der 
Mutter in fehneler Reihenfolge dar, und obe 
schon fie felbft die Handiungsweife ihres kuͤnfti⸗ 
gem Schwiegerfohnes nicht billigte, machten die 
Freundfchaft für ihn und die Sorge um Helme 
fie doch geneigt, bier nicht fo fchnell nathzugeben, 
als der Baron es fonft von ihr gewohnt war. 
Sie warnte ihn vor gewaltiamen Entfchlüffen, 
fie bat ihn, den Grafen zu hören, ehe er ihn ver- 
Damme, und erft, als alle diefe Gruͤnde auf ihren 
Gatten unwirkſam geblieben waren, ſprach fie 
ihm von Helmens Neigung für den Candidaten 
Brand. Ohne ſich auf Erörterungen einzulaſſen, 
rühmte fie der Tochter und dem jungen Manne 
die edelfte Entfagumg nach, und bemerkte aber doch 
dabei, daß ed nothwendig fei, eine unuͤberſteigliche 
Schrante zwiſchen den jungen Leuten zu errichten, 
follte Helenens Zukunft wicht gefährdet werben. 
Ohne ein Bort zu Iprehen, hatte der Baron 
diefe Erklaͤrung hingenommen und war nachben- 
fend ein paar Male im Bimmer auf und abge 


29 





gangen. Weit davon entfernt, ed feiner Frau 
ald Vorwurf anzurechnen, daß fie ihm bisher von 
biefem Berhältniffe nie gefprohen, wußte er ihr 
Dank dafür. Es lag in feinen Grundfäßen, daß 
ever innerhalb des ihm zugewiefenen Bereiches 
ſelbſtaͤndig handeln müfle, und uber das Herz 
ihrer Iöchter zu wachen, war die Aufgabe der 
Mutter, eine Aufgabe, in welcher er gewohnt, 
war, fie ungehindert gewähren zu laſſen. 

Er fragte Nichts, er begehrte feinen näheren 
Auffchluß über diefe Neigung, ed genügte ihm zu 
wiffen, daß fie unterbrüdt fei und daß feine 
Zochter fich ihrer Eltern werth bewiefen habe. 
Das Einzige, wad er zu überlegen hatte, war 
die Art und Weife, in welcher man Helenen zu 
Hülfe kommen müffe, wobei er die Möglichkeit, 
fie mit dem Grafen zu verheirathen,, jedoch ganz 
außer der Betrachtung ließ. Sein erfter Gedanke 
war, Friedrich zu entfernen. Die Baronin wen: 
dete ein, daß died unmöglich fei, da ber junge 
Mann durch feine Studien und feinen Erwerb 
an feinen Aufenthaltsort gefeflelt werde, aber 
der Baron erkannte eine ſolche Unmöglichkeit 


10x 


292 


nicht leicht an, wo fie den Intereſſen feiner Fa⸗ 
milie entgegenftand. 

»Man muß nur die Mittel wollen, wenn 
man den Zweck will!« meinte er, »und hier liegt 
das Mittel ja fo nahe zur Hand! Erich kann den 
jungen Brand ald Reifegefährten mit fich nehmen !« 

»MWird Brand dad eingehen?« fragte die Ba- 
ronin. 

»Zuverläffig! man muß die Form finden, es 
ihm fo annehmbar zu madhen, daß er's nicht 
wohl ablehnen kann.« 

aAber glaubft Du, daß diefer Plan Erich will» 

fommen fein werde? — Ich weiß, ed liegt für 
ihn ein Reiz darin, fich einmal ganz losgeriſſen 
zu fühlen von allen Banden feiner Sugend!« 
wendete die Baronin abermalß ein. 

»Bon Erich's Wünfchen kann nicht die Rede 
fein, wo es fi) um die Ehre und die Ruhe fei- 
ner Schwefter handelt! Er mag ein ander Mal 
den Reiz der Ungebundenheit genießen, jegt paßt 
ed mir, daß ihn der junge Brand begleitet !« ant- 
wortete der Baron. — Die Baronin verflummte, 
denn fie Eannte diefen Ausdrud ihres Mannes. 


2% 


lung fordern , foll fie dad Zutrauen zu und be- 
balten, das unferen Kindern dad Gehorchen leicht 
und lieb gemacht hat. Begreife Doch, daß ed in 
der Familie wie im Staate iſt! Der unverbor- 
bene Menfch bat ja einen Zug zum Slauben und 
zur Unterordnung, dad lehrt und die Gefchichte.« 

»Die Gefchichte?« wiederholte die Baronin im 
Zone befcheidenen Zweifelns. »Ach die Gefchichte 
hat und in den lebten Tagen auch gelehrt, daß 
die guten alten Zeiten vorüber find, und daß es 
nicht mehr ift wie einfl. Die Menfhen wollen 
ja nicht mehr gehorchen!« 

„Wer hat ed dahin gebracht?« rief der Ba⸗ 
ron. »So lange und foweit Menfchen auf der Erde 
leben, erzeugten fie ald die natürlichfte Form ih: 
red Zufammenlebend die Herrfchaft eines Man- 
nes über die Familie, wie über den Staat, und 
dies Verhältniß war und blieb überall förderfam, 
bis die Häupter fi des Vertrauens unmerth 
machten, das man in fie ſetzte. Dad iſt's ja 
gerade! Könnte eined unferer Kinder mir den 
Vorwurf machen, daß ich meine oder ihre Ehre, 
daß ich ihr Beſtes nicht gewahrt habe, fo würde 


294 


ſich entihloß, von dem Grafen eine Erklärung 
feiner Dandlungdweife zu begebren, ehe er ibm 
ausſprach, daß er fie für unvereinbar mit den 
Sefinnungen wahrer Ehre halte. Er befahl aber, 
daß Helenend Briefwechfel mit bemfelben nicht 
weiter fortgeführt werden folle, bis er eine ihn 
zufriedenftellende Antwort von ihr empfangen 
haben würde. Vergeben: wendete die Baronin 
ein, daß ed ein Werk der Liebe und der Borficht 
fein würde, Helenen dieſen Zwiefpalt zu erfparen, 
ihr zu verbergen, daß der Water an der unbe: 
dingten Ehrenhaftigkeit ihres Tünftigen Gatten 
zweifle. Vergebens ftellte fie vor, daß ed ja Zeit 
genug fei, den Bund zu löfen, wenn wirklich 
eine Urfache dazu vorhanden wäre; der Baron 
blieb feft bei feiner Anficht. 

»Gerade weil wir von Helenen das Opfer ib: 
rer Neigung begehrten,« fagte er, »müflen wir 
ihr darthun, daß wir bereit find, auch unfere Wuͤn⸗ 
fche aufzuopfern, falls die von und getroffene Wahl 
ihr Gluͤck bedroht. Sie muß es einfehen lernen, 
daß wir fie nur dem untadelhaften Manne geben, fol 
fie einft von fich felbft untadelhafte Pflichterfül- 





297 


„Dat einen warmen Advocaten in Dir ge 
unden!« fiel ihr der Baron in’d Wort. »Mag 
inem Volk aud) in befonderem Falle das Recht 
er Selbfthülfe nicht abzuftreiten fein, fo ändert 
as Nichts in dem Verhältniffe des Edelmannes 
u feinem Könige, Nichts in dem Verhältniß des 
Beamteten zu feinem Herren. War Graf St. 
Brezan ald Gefandter der freiwillige Diener, 
eined Königed, fo muß er auch mit feinem Kö- 
ige die Folgen der koͤniglichen Handlungsweiſe 
ragen, er muß flehen und fallen mit demfelben, 
ber nicht neue Eide ſchwoͤren einem neuen 
Jerrn.« 

»Und wenn er einfähe, daß fein König, daß 
r felbft geirrt ?« fragte die Baronin. 

»Menn St. Brezan einft einfähe, daß er fich 
n der Wahl feiner Gattin irrte, daß Helene 
icht iſt, wofür er fie gehalten — was dann, 
zohanne ?« 

Die Baronin ſchwieg. »Wollteſt Du, daß er 
ie verſtieße? Daß er ſie verantwortlich machte 
ür den Leichtſinn, mit dem er fie gewählt? — 
Sraf St. Brezan war Herr feined Handelns, als 


296 


ich in demfelben Augenblide auf das Recht ver: 
zichten, das ich jetzt auf ihr Vertrauen habe. 
So lange ich es aber noch verdiene, fo lange 
darf und muß ich fordern, daß fie mir gehorchen. 
Das weiß Delene auch, danach, fage ihr, 
möge fie fich richten. Ich werde die Briefe des 
Grafen, die in der Zwiſchenzeit für fie eintreffen, 
ihr aufbewahren und fie fol diefelben aus meiner 
Hand empfangen, wenn er feine Handlungsweife 
vor mir vertreten kann.« 

In diefer lebten Wendung fah die Baronin, 
daß ihre Vorftelungen nicht unfruchtbar geweſen 
waren, daß ihr Gatte felbft zu wünfchen begann, 
ed möge bad gefchloflene Buͤndniß aufrecht er- 
halten werden koͤnnen, und fich auf die eigenen 
Gründe des ſtrengen Royaliften ſtuͤtzend, fagte 
fie freundlich: »MWenn Du für Dich, wie Du eben 
fagteft, nur fo lange Gehorfam begehrft, ald Du 
ihn durch Deine Pflichterfüllung fordern kannſt, 
fo entbindeft Du damit die Völker von dem Eide 
der Treue gegen einen König, der ded Volkes 
Wohl nicht fördert, lieber Heidenbrud! und ber 
Sraf hat — —« 


299 


Unb wie Graf St. Brezan died gethan bat, dar⸗ 
über wollen wir feine Erklärung hören!« 

Mit diefen Worten küßte er die Baronin auf 
die Stirne und die Unterrebung hatte ein Ende. 
Es blieb der Mutter überlaffen, Helenen die An» 
ordnungen bed Barons fo behutfam als fie wollte 
mitzutheilen. Indeß, troß aller Vorſicht, konnte 
fie die Wirkung nicht verhindern, die fie befuͤrch⸗ 
tet hatte. Mochte fie auch die Heirath mit 
dem Grafen der Tochter beftändig als unumftöß- 
lich ſicher darftellen, mochte fie ihr mit der hoͤch⸗ 
fen Achtung von dem künftigen Gatten fprechen, 
Helene hielt fi daran, Daß der Vater den Na: 
men ded Grafen nicht mehr nannte, fie hielt fich 
an der Möglichkeit ihre Verlobung aufgehoben zu 
fehen, um bald wieder fchönere Hoffnungen daran 
zu knuͤpfen 

Ehe in jener Zeit der Brief ihres Vaters den 
Grafen erreichen, ehe feine Antwort auf dem 
Gute anlangen konnte, mußten fall vier: 
zehn Tage verfließen, und Wünfche und Hoff: 
nungen, denen wir uns überlaflen, erzeugen in 
und nur zu fchnell den Glauben an die Möglich- 


298 


er in den Staatödienfl trat, und wer einen Bund 
eingeht, fei es mit wem es wolle, wer ſich aus 
freier Wahl einem Anderen oder einer Sache mit 
feinem Eide verbindet, der muß diefen Eid hal- 
ten durch fein ganzeö Leben, denn der Eid ift 
beilig!« Ä 


„Aber die Einficht des Menfchen kann ſich ja 
ändern nach der Eidesleiftung!« meinte die Ba- 
ronin. 


„Weil fie das kann, fo follte der Menfc nicht 
Derr werden feined Handelns in einem Alter, in 
dem er folchen Xenderungen feiner Anfichten noch 
unterworfen ifl. Das ift der Sinn der Vormund⸗ 
fchaft, und es ift Thorheit, daß die Geſetze fie für 
alle Menfchen auf daflelbe Lebensalter ausdehnen. 
Der Unmündige ift unverantwortlich, ich ftehe ein 
für jedes Thun meiner Kinder. Aber jeder Menfch, 
der Mann vor Allem, den dad Gefeß muͤndig 
gefprochen hat, der muß fich felbft als reif erfla- 
ren, indem er fich Feine Aenderungen feines Sin⸗ 
ned mehr geftattet, indem er eifern fefl hält an 
feinem Glauben, feiner Ehre, feinem Worte! 


301 


Bräutigam gefchrieben, bis fie, fich felbft betruͤ⸗ 
gend, dahin gefommen war, auch den Grafen in 
eine volfländige Täufhung über ihre Gefühle 
für ihn zu verfeßen. 

est, da diefer Briefwechfel aufgehört hatte, 
ſah fie. plöglich ein, in welcher Verwirrung fich 
ihr Geift befunden, und Fam fich wie erlöft vor, 
weil fie fich dieſes Zwieſpalts überhoben glaubte. 
Unumwunden ſprach fie ihren Brüdern, ihrer 
Schwefter die Freude über diefe glüdliche Wen- 
dung ihres Schickſals aus, und fo bereit fie fich 
geglaubt hatte, dad Opfer ihrer Wünfche zu 
bringen, fo dankte fie jebt Gott, daß ed nicht 
mehr von ihr gefordert warb. Sie wagte ed wie- 
der, mit Gornelie von Friedrich zu fprechen, fie 
fragte nad) ihm in den Briefen an die Brüder, 
fie dachte royaliftifcher und legitimer über bie 
franzöfifche Revolution, als felbft ihr Vater, fo 
lebhaft wünfchte fie, den Grafen nicht gerechtfer- 
tigt zu finden. 

Mit wahrer Sorge fahen es die Baronin und 
Gornelie, wie ſich Helene wieder ganz und gar 
von dem Gedanken an die ihr beflimmte Ehe ent- 


300 
feit ihrer Erfülung. — Helene zweifelte fchon 
nach wenig Sagen nicht niehr daran, ihre Frei⸗ 
heit wieder zu erlangen, und jest gefland fie fich, 
was fie fi zu verbergen geftrebt, feit fie des 
Grafen Braut geworden war, daß fie troß ihres 
häufigen Briefmwechfeld mit demfelben, ihm nicht 
näher gefommen war, ald an dem Tage, da fie 
fi) ihm verlobte. Sie hatte ſich an die Idee ges 
wöhnt, ald die Gemahlin eined Gefandten fünf: 
tig in Neapel zu leben, und fich in die äußeren 
Verhaͤltniſſe diefer Stellung felbft mit Luſt hinein- 
verfeßt; aber während fich ihre Phantafie in den 
Reizen ded Südens wiegte, des Manned nur 
wenig gedacht, an deflen Seite fie das erfehnte 
Stalien betreten ſollte — Weil fie den Grafen 
nie als ihren Verlobten neben fich gefehen hatte, 
und alle ihre Erinnerungen fih an Friedrich 
knuͤpften, erwedte jedes Liebeswort in den Brie- 
fen ihres Bräutigams, in ihr den Gedanken an 
den einzigen Mann, zu dem fie in ihrem Herzen 
mit folchen Worten der Liebe gefprochen, und 
ohne daß fie ed bemerkte, hatte fich Friedrich’s 
Bild in ihre Seele gefchlichen,, fo oft fie ihrem, 


Achtzehntes Kapitel, 


Es war ein milder Augufi=Abend, ald He⸗ 
lene das Bitter des Parkes öffnete, um in das 
Dorf zu gehen. Die tiefflehende Sonne vergol- 
dete die Gipfel der Bäume und warf braunroth 
glänzende Lichtſtreifen uͤber das dichte Gras der 
Raſenplaͤtze und auf die braunen, flarf gefurchten 
Kinden der uralten Eichen und Fichten, derem 
mächtige Aeſte weit hinausragten über das Kleine 
Eifengitter, und breite Schatten warfen auf bie 
Wieſe, Die ſich an den Garten fchloß. 

Der wärzige Geruch des Thymians, ber 
Schafgarbe und des vöthlich blühenden Baldri⸗ 
ans zog durch die Aühler werdende Luft. Rur 


302 


fernte, wie fie es von fich wie, wenn man fie 
erinnerte, daß der Hinblid auf Friedrich's Familie 
fie zur Entfagung beflimmt babe, und daß dies 
Hinderniß obmwaltend und trennend zwifchen ihr 
und dem Geliebten bleiben werde, follte fie auch 
ihre Freiheit wieder finden. Sie lachte der vor- 
fihtigen Schonung, mit der die beiden Frauen fie 
behandelten, und wie man um fo höher fchäßt, 
was man zu verlieren gefürchtet bat, fo umfaßte 
fie jest die Ihren mit einer leidenfchaftlichen Zaͤrt⸗ 
lichkeit, fo genoß fie die Schönheit des väterlichen 
Landfiged mit neuer Freude, mit größerem Be 
voußtfein ald je zuvor, unermüdlich ihr gegenwär- 
tiges Gluͤck zu preifen, weil ihr die Möglichkeit 
einer Hoffaung für die ferme Zukunft wieberger 
geben war. 


Achtzehntes Kapitel. 





Es war ein milder Auguft=Abend, als He- 
lene dad Bitter des Parkes Öffnete, um in daß 
Dorf zu gehen. Die tiefftehende Sonne vergol« 
dete die Gipfel der Bäume und warf braunroth 
glänzende Lichtſtreifen uber das dichte Grad der 
Raſenplaͤtze und auf die braunen, ſtark gefurchten 
Rinden der uralten Eichen umd Zichten, deren 
maͤchtige Aeſte weit hinausragten über das kleine 
Eiſengitter, und breite Schatten warfen auf bie 
Wieſe, die ſich an den Garten ſchloß. 

Der wärzige Geruch des Thymians, ber 
Schafgarbe und des vöthlic blühenden Baldri⸗ 
ons 708 durch die Fühler werdende Luft. ur 


304 


langſam fchwebten die legten Xagfchmetterlinge 
noch von einer Blüthe zur anderen, um die Stelle 
zu finden, auf der fie zur Ruhe dad ſchimmernde 
Flügelpaar zufammenfalten konnten, während 
die Nachtfalter erwachten und die Heufchreden 
ihre fchwirrenden Töne erklingen ließen mitten 
durch das Säufeln und Flüftern der Bäume. 


Ueber die Wiefe fort, an den abgemähten 
Feldern vorüber, auf denen noch hie und da eine 
Kornblume oder eine rothe Mohnblüthe fi un⸗ 
ter dem Hauch des Abendwindes wiegte, fchritt 
Helene dem Hügel zu, an deflen Fuße ſich das 
Dorf ausbreitete. 


Athem zu fchöpfen fland fie auf der Höhe 
ftil und ſchaute zurüd. Da lag dad Schloß 
ihrer Väter, die alte Burg der deutfchen Ordens: 
ritter, flolz und fonnenbeglänzt im Thale. Statt: 
lich breiteten fich feine vier Flügel um den inneren 
Hof, an allen vier Seiten von niedrigen Thuͤr⸗ 
men mit flacher Bedachung flanfir. Die Bo- 
genfenfter ded Remters, den alle Deutfchmeifter: 
Burgen haben, fahen prächtig und feierlich aus, 


307 


auf ihren Kindern und Kindeskindern und immer 
Liebe und Treue gewohnt habe in diefen Mauern. 
— Es war Helenen die .liebfte Gefchichte gewe⸗ 
fen und fie hatte fich es fletS ausgedacht, einmal 
auch fo treu in der Liebe zu fein und fo glüdlich 
zu werden, wie ihte heilige Spinnerin am Kreuze. 

Sie mußte lächeln und feufzte doch auf, als 
erwache fie aud einem Traume. Daß fie von 
dem Geliebten laſſen wollen, daß fie fich einem 
anderen, ihr faft fremden Manne verfprochen 
hatte, kam ihr ganz unglaublid) oder wie in lang⸗ 
vergangener Zeit gefchehen vor. Sie Dachte der 
Kämpfe und Leiden jener Tage, ald lägen fie 
viele Jahre hinter ihr, fo wohlthuend breitete fich 
der fanfte Friede der Natur auch über fie und 
ihr Empfinden aus. In freundlicher Klarheit 
zogen viele andere Erlebniffe ihrer fröhlichen Kinds 
beit, ihrer durch keinen Schmerz getrübten Tugend 
an ihrem Gedaͤchtniſſe vorüber und gaben ihr 
Vertrauen zu ihrer Zukunft. Was konnte die ' 
gepriefene große Welt ihr bieten, das dieſe felig 
in fich befriedigte Ruhe des Herzend aufwog? 
was fonnte Italien ihr mehr gewähren, als die 


306 


findlich glaubendvoll zu diefem Wahrzeichen ihres 
Dorfes empor, das fih auch in dem Wappen 
ihrer Familie wiederfand. 

Die Zeiten, in welcher die Mutter ihr und 
den horchenden Gefchwiftern die Sage von der 
Schönheit und Liebeötreue der armen Spinnerin 
erzählte, zu deren Andenken ihr ritterlicher Gelieb- 
ter die Kirche erbaut, al& fie endlich nach langem 
Harren und nach fchwerem Dulden fein Ehege- 
mahl geworden war, traten ihr fo lebendig vor 
bie Seele, als hätten fie geftern noch Alle lau⸗ 
fhend und flaunend in der großen Sinderflube 
beifammen gefeflen. Wie oft hatte fie fich die 
fromme Magd vorgeflellt, am Wege figend und 
fpinnend unter dem großen Kreuze, und die 
blauen Augen trodnend mit dem langen blonden 
Haar, um in die Ferne zu fpähen nach des pil- 
gernden Kreuzritterd feft verfprochener Heimkehr. 
Wie hatte fie fich gefreut, wenn die Mutter end: 
lich die Ankunft des Ritters gefchildert, und all 
die Herrlichkeit, mit der er das fehöne Lieb dann 
eingeführt in feine fefte Burg, und wie der Se- 
gen dieſer freuen Gatten fort und fort geruht 


309 


Gefühl, vielem Fleden Erde ganz fo wie ihre Vor⸗ 
fahren anzugehören mit ihrem Sein und Wirken, 
dad Gefühl der Heimath und die Kiebe für Dies 
felbe wurden plöglich in ihr wach, und mit In⸗ 
brunft Tlammerte fie fih an dieſe Heimath an, 
als fürchte fie, ihr einft dennoch entriffen zu 
werden. 

An einem Eleinen Hauſe hart an der Land: 
ftraße fand fie enblih, nachdem fie den Hügel 
berabgefliegen war, ftile. Ihre Eltern hatten es 
der alten Anna, der treuen Wärterin der Hei⸗ 
denbrud’fchen Kinder eingeräumt, die immer noch 
au ihre Pfleglinge die alten Liebesrechte geltend 
machte, und fie noch immer Du und ihre Kinder 
nannte. Helene gudte durch das Eleine, von 
roth blühenden Feuerbohnen und fchweren Kürbis- 
blättern umrankte Fenſter. Die alte Anna faß, 
den Rüden gegen baflelbe gewendet, eifrig zäh: 
lend und grübelnd vor einem Spiele auögebreite- 
ter Karten. Helene pochte leife an die Scheiben, 
um die gute Alte nit durch einen plößlichen Zu⸗ 
ruf zu erfihreden, aber dieſe, im ihr Spiel ver- 
funten, blidte nicht empor, bis das Fräulein ihr 


308 





— 


Wonne, die aus der Anbetung der gotterfchaffenen 
Ratur in ihre Bruft geflrömt war! 

Mit einem Gefühl des Stolzed und der 
Freude fchaute fie auf dad Schloß und auf die 
Kirche hin. Es that ihr wohl, auf eine lange Reihe 
von Vorfahren fehen zu fünnen, die alle ihre 
Heimath bier gehabt, alle mit ihrem Leben und 
Wirken bier mehr ober minder thätig geweſen 
waren. Es gab ihrem eigenen Dafein einen 
fiheren Boden, einen inneren Halt. Selbſt die 
Sagen von den Geiftern ihrer Ahnen, die in bem 
einen nur wenig bewohnten Flügel des Schlofles 
umgeben follten und an deren fortdauernded ſpuk⸗ 
baftes Erfcheinen eigentlich fein Dorfbewohner 
zweifelte, machten ihr Freude, weil fie bewiefen, 
wie lange und wie feft Die Familie hier zu Hauſe 
fein muͤſſe. Mit tiefer Zärtlichkeit betrachtete fie 
die Gegend um fich her, jeden Hügel, jede Wiefe, 
auf denen fie gefpielt, jeden Baum, unter deſſen 
Schatten fie geruht, jedes Haus, deflen Bewoh⸗ 
ner fie fannte und in denen fie oft, von ber Mut: 
ter gefendet, als ein hülfreicher, troſtbringender 
Bote erfchienen und gefegnet worden war. Das 


. 311 


Dorfbewohnern ihren Wohlſtand und ihre Bor: 
nehmheit ald Kinderfrau vom Schloffe gebührend 
zur Schau zu tragen. 

Mit froher Haft war fie Helenen entgegen- 
gegangen, hatte ihr beim Eintritt in dad Zimmer 
den Hut abgenommen, und noch ehe jene ſich 
niederfeßen konnte, ihr die weiße Pellerine feft- 
geftedt, aus der die haltende Nadel herausgefal- 
len war. 

Helene dankte ihr. »So wie Du und Alles 
an ben Leib z nageln pflegteft, liebe Anna,« fagte 
fie ſcherzend, »macht es jeßt freilich Niemand mehr, 
aber für wen legteft Du die Karten %« 

„Fuͤr mich ſelbſt, Delenchen !« 

»Was wollteft Du denn wiflen ?« 

»Ob ich ed wohl noch erleben werde, wieder 
in dad Schloß zu fommen? Denn das hat bie 
gnaͤdige Frau mir feft verfprochen, wenn ber 
Erich Kinder hat, fo wartet fie Fein Anderer als 
ih.“ _ 

»Da Erich ed jest aufgegeben hat, Dich zu 
beirathen, wie er Dir ftet3 verfprochen, fo ift er 
Dir wenigſtens dieſen kleinen Erſatz ſchuldig!« 


310 


lachend in das Zimmer hineinrief: »Nimm Dich 
in Acht! Anna daß der Bater Dich nicht fieht, 
Du bift fehon wieder bei Deinen Herenkünften !« 

Die Alte wendete fih um, und bot ihrem 
Lieblinge das herzlichſte Willkommen, während 
eine belle Freude über ihr gutmüthiges Geficht 
flog. Sie fah gar flattlih aus. Ein großes 
Tuch von dunkelbrauner Seide mit einem breiten, 
in allen Regenbogenfarben fchillernden Rande, 
war nach der Sitte ded dortigen Landvolkes um 
ihren Kopf gebunden, daß fein Haar zu fehen 
war, und über der Stirne zu einer Riefenfchleife 
zufammengelnüpft, deren befranzte Enden an bei- 
den Seiten bis zu den Ohren bernieberfielen. 
Die großen goldenen Ohrringe, die ihr der Baron 
bei Erich's Taufe einft gegeben hatte, glänzten, 
als hätten fie eben erft den Laden des Goldſchmie⸗ 
des verlaffen, und der Rod und die Jade aus dunk⸗ 
lem Kattun, die ſchwarz feidene Schürze und das mit 
vielen Nadeln ſtramm feftgeftedte Bruſttuch von 
feiner Wolle, zeigten, daß Frau Anna die Sorg- 
falt für ihr Aeußeres auch noch in ihrem Alter 
nicht verloren hatte und daß fie ed liebte, unter den 


313 


ganze Reihe ſchwarz, immer Pique und Treff zu⸗ 
fammen, aber drunter und drüber lagen die 
rothen Affe und die Könige auf den beiden Eden, 
und dann hat’3 immer Feine Roth damit. Sie hat 
mir geftern den größten Hochzeitötuchen gefchenft, er 
ift noch ganz frifch, Du mußt. was davon fehmeden!« 

Da fie wußte, wie gern die Alte fie und ihre 
Geſchwiſter bediente und bewirthete, verlangte 
Delene augenblidlih nach dem Kuchen. Anna 
legte eine Serviette über den Tiſch, holte das 
Hadwerf und einen Krug Milch herbei und feßte 
Teller, Mefler und Glas mit jener Peinlichkeit 
zurecht, in der ſich die Gewohnheit früherer puͤnkt⸗ 
licher Dienftbarkeit mir der Luft, es einem lieben 
Gafte angenehm zu machen, fchön vereinten He: 
lene ließ es fi) nach dem Gange in der Abend: 
luft wohl fchmeden, und fah dabei halb fcherzend, 
halb nachdenklich auf die beiden Päckchen ver- 
griffener Karten hin, welche Anna zufammen ge= 
nommen und neben fic) gelegt hatte, bis fie end- 
lich forderte, Anna folle ihr die Karten legen. 

»Dir?« fragte die Wärterin, »Du glaubft ja 
nicht daran!« 


NMNnKk 


312 


meinte Helene. »Aber, was haben die Karten 
Dir gefagt ?« 

»Er wird heirathenin drei Jahren, und zwar ganz 
aus der Nähe, und ich werde ed mit Gottes Hälfe noch 
erleben!. antwortete die Alte mit fefter Zuverficht. 

»Das hoffe ich auch, denn Du bift ja frifch und 
munter und kannſt ed abwarten, wenn ed aud 
länger dauern follte!« meinte das Sräulein, aber 
glaubſt Du denn noch immer an: Deine alten 
Karten, Anna? Sie haben Dih ja fo oft im 
Stiche gelaflen.« 

»Sag das nicht, Helenchen!« bedeutete die 
Märterin. »Es ift nur, wenn Leute dabei find, 
die nicht daran glauben, dann fchlagen die Kar: 
ten fehl. Wer daran glaubt, dem treffen fie 
immer zu! ich habe es ja erlebt jehntaufendmal, 
daß fieRecht behalten haben, wie neulich, wo bie 
Heine Lene drüben vom Schmied, Deine Namens 
f&hmwefter, die mit Dir auf denfelben Tag geboren 
und getauft ift, doch noch den Müller aud Bergen 
befommen bat, was Fein Menſch, fie ſelbſt nicht 
mehr, gedacht hätte. Da lag freilich zwifchen 
dem Herzbuben und dem Herzkönige faſt die 


315 


' feste fie felbft den Kuchen und das gebrauchte 
Geräthe auf die Commode unter dem Spiegel, 
nahm die Karten zur Hand und fagte: »Ich 
fchwöre Dir's, Anna! ich will daran glauben, aber 
lege mir die Karten und zwar gleich, denn ich 
muß zum Thee zuruͤck fein!« 

Frau Anna ließ ſich das nicht nochmals fagen. 
Froh, ihrer Neigung folgen zu können, mifchte fie 
vorfichtig die Karten, ließ Helene viermal abheben, 
und nun begann die Alte, nachdem fie vorher 
den Tiſch forgfältig gefäubert hatte, die Blätter 
in wohlgeordneten Reihen neben= und übereinan- 
der audzubreiten. Ueber den Tiſch gebeugt fah 
das junge Mädchen dem Eifer zu, mit dem Anna's 
faltige Hände die Karten ordneten, und mußte 
lächeln über den Ernft, mit dem die Alte dann 
ihr Werk betrachtete. Sie fchien fih nicht in 
die Verfündigungen ihres Orakels finden zu koͤn⸗ 
nen, denn fie tupfte mit dem Finger hin und her 
auf den Karten, fehüttelte bedenklich den Kopf 
und wußte Anfangs offenbar die verfchiedenen 
Gruppen nicht in einen ihr verftändlichen Zuſam⸗ 
menhang zu bringen, fo daß ihre Zufchauerin un 


314 





Helene lächelte. »Bei ded Schmiede Lene 
iſt's ja aber eingetroffen !« fagte fie. 

„Bis auf’d Haar! und auf Tag und Stunde!« 
verficherte die Alte. 

„Nun! fo leg mir auch die Karten, Anna! ich 
werde ganz ernfthaft fein, dann trifft’s ja zu, wie 
Du meinft.« 

Die Alte wußte noch nicht recht, ob fie Helenen 
willfahren folle oder nicht. »Was möchteft Du 
denn willen ?« fragte fie. 

»Was ich wiflen möchte? Nun, wie mir's 

" gehen wird ’« 

»Das weißt Du ja! Du bift ja Braut! 
was foll Dir noch begegnen, Kind ?« 

„Kann denn eine Deirath nicht zurüdgehen ?« 
fragte dad Fräulein. 

„Gott bemahre! Helenchen male den Teufel 
nicht an die Wand! Go Etwas muß man gar 
nicht in den Mund nehmen!« warnte die Alte 
ganz erfchroden, und. fonnte ed nicht faflen, als 
das Fräulein lachend verficherte, vom Sprechen 
gefchehe gar Fein Unglüd und wenn ihr ein fol: 

Iches beftimmt fei, fo wolle fie eö wiflen. Damit 


317 


Es liegt ſchon Kummer hinter Dir — und aud) 
noch welcher vor Dir!« 

Helene wollte lachen, aber ed ging ihr nicht 
: von Herzen, das glaubend= und forgenvolle We: 
fen ihrer Wärterin befing ihr den Sinn. Weil 
urfere Zukunft uns fo undurchdringlich ift, hat 
jeder Blick auf diefelbe für und etwas unheim- 
lich Moftifches, wir möchten fie fchauen und zit- 
tern vor ihrem Anblide wie vor dem Begegnen 
eines Doppelgaͤngers; und ein Doppelgänger ift 
fi) auch der Menfch, mag er fih in der Vergan— 
genheit betrachten oder fich fein Weſen in zufünf- 
tigen Verhaͤltniſſen vorzuftellen ftreben. Er wird 
fih ſpukhaft auf die eine wie auf die andere 
Weiſe. Denn wie nur der Augenblid fein’ eigen 
ift, fo ift der Menfch nur er felbft in diefem Aus 
genblide und vorher und nachher oft ein ganz 
Anderer. Mit einer Spannung, welde fie fich 
nicht erklären fonnte, mit einem Ernſte, der ihr 
ſelbſt komiſch duͤnkte, hörte Helene der Karten- 
legerin zu. Und mit einem Zone, den die Alte 
nicht gläubiger begehren Eonnte, fragte das junge 
Mädchen: 


318 

»Wird der Kummer vorübergehen ?« 

»$a! er wirb! denn die rothen Affe, die ja 
auch der Kene Gutes brachten, haben ihn zwifchen 
fich !« | 

„Aber wird er lange dauern ?« forfehte He⸗ 
lene, immer tiefer hineingezogen in den Wunder⸗ 
glauben, der fich in folchen Augenbliden auch rei- 
ferer und fefterer Naturen zu bemächtigen weiß, 
und der aus dem Beduͤrfniß ded Menfchen ent—⸗ 
fpringt, an einen Zufammenhang zwifchen fich 
und den geheimnißvollen Kräften zu glauben, 
welche er wirfjam fieht, wohin er feine Blicke 
wendet. " 

Die Alte antwortete nicht gleich. Sie zählte 
und zählte, ihre Geficht wurde immer heiterer, 
plöglich rief fie: »Das ift mir nioch nie begegnet, 
ich habe mich verzählt. Es liegen vierzehn Kar- 
ten in der Öberreihe, die le&te muß herunter, 
nun fommt Alles anders! Dann kommt der 
Coeur Bube gleich an’d Vaterhaus, die ſchwarzen 
Siebenen kommen dahinter, und vor Dir, ganz 
nahe vor Dir liegt Nichts wie reine rothe Freude! 
Da fei Gott für gedanft!« 


319 


Sie ſchlug frohlodend die Hande zufammen 
und auch Helenend Geſicht hatte fich aufgehellt. 
»Sind nun die Reifen fort?« fragte fie lebhaft. 

„Mein! Die ftehen feft!« 

»Und nun fteht Nichts mehr zwifchen ınir 
und meinem Liebften ?« forichte fie fcherzend wei⸗ 
ter, und doch jeder erwuͤnſchten Kunde zu glau⸗ 
ben bereit. 

„Nicht das Geringſte! es ſollt' mich gar nicht 
wundern, kaͤm' er gleich hier herein !« 

»Ach! Anna! wenn er das thäte!« jauchzte 
Helene und nahm die alte treue Seele bei dem 
Kopfe, ihr Geficht mit herzlichen Küffen bedeckend, 
und fie im Kreife herumbdrehend, daß ihr faft das 
feidene Tuch vom Kopfe fiel und fie Noth hatte 
fid) auf den Beinen, und dad Tuch auf ihrem 
Haupte zu erhalten. Lachend und nach Athem 
fuchend wehrte fie den Liebling von ſich ab, da 
fang ein Pofthorn durch das flile Dorf, ein 
Wagen rollte heran. — 

— »Das ift er!« rief die Alte; fie und dus 
Sräulein.eilten fcherzend an das Fenfter, und kaum 
hatte Helene den Kopf hinausgebogen, als der 


318 

»Wird der Kummer vorübergehen 

»$a! er wird! denn die rothen Affe, die ja 
auch der Lene Gutes brachten, haben ihn zwifchen 
fich !« | 

»Aber wird er lange dauern?« forfehte De- 
lene, immer tiefer hineingezogen in den Wunder: 
glauben, der fich in folchen Augenbliden auch rei= 
ferer und fefterer Naturen zu bemächtigen weiß, 
und der aus dem Bedürfniß des Menfchen ent- 
fpringt, an einen Zuſammenhang zwifchen fich 
und ben geheimnißvollen Kräften zu glauben, 
welche er. wirkſam fieht, wohin er feine Blicke 
wendet. 

Die Alte antwortete nicht gleih. Sie zählte 
und zählte, ihr Geficht wurde immer heiterer, 
plöglich rief fie: »Das ift mir noch nie begegnet, 
ich habe mich verzaͤhlt. Es liegen vierzehn Kar: 
ten in der Öberreihe, die legte muß herunter, 
nun fommt Alles anders! Dann fommt der 
Coeur Bube gleich an’d Vaterhaus, die ſchwarzen 
Siebenen kommen dahinter, und vor Dir, ganz 
nahe vor Dir liegt Nichts wie reine rothe Freude! 
Da fei Gott für gedankt!« 


321 


fagte Anna, die, obfchon ihr die Beflürzung und 
die Angft ded Grafen leid tharen, ſich Doch freute, 
daß Helene einen fo zärtlichen Bräutigam bekom⸗ 
men habe. »Laflen Sie fie nur weinen. Sie hat 
fi gar zu fehr auf ihren Bräutigam gefreut und 
nun kam es fo plößlich!« 

»Wer find Sie, liebe Srau? und wie fam dad 
Stäulein hieher ?« forfchte der Graf. 


»Ich ?« fragte die Alte wie verwundert, daß er fie 
nicht kenne »Ich bin ja die Kinderfrau vom Schloffe! 
zu Eurer Gnaden Befehl! und die Herrfchaft hat 
mich, Gott fei Dank! nicht vergeffen. Fraͤulein 
Helendyen kommt oft in's Dorf und zu mir, gnaͤ⸗ 
diger Herr! und fie war auch ganz wohl und 
munter, gnädiger Herr! die Kinder find ja, Gott 
fei Dank! auch alle fern gefund; fie war ganz 
frifch und munfer!« 

„Aber woher diefe plögliche Ohnmacht , liebe 
Frau ?« 

»Wie ich Euer Gnaden ſagte! Bloß die 
Freude. Sie aß bier von dem Kuchen und ließ 


fi) Karten legen und wie ich ihr fagte, daß 
Wandlungen. |]. 21 


320 


Reiſende fie erblidte und fi) mit lebhafter Be- 
wegung von feinem Site erhob. 

„Halt! Halt!« befahl er dem Poſtillon, fo 
daß der Diener fich verwundert umwandte, aber 
noch ehe er abfteigen Fonnte, nach dem Befehle 
feined Herren zu fragen, hatte diefer mit leichtem 
Sprunge den Wagen verlaffen und im naͤchſten 
Augenblide befand er fi fchon an Helenens 
Seite. »Der Graf!« rief diefe erbebend, hüllte ihr 
Geficht in ihre Hände und ſank todtenbleich in 
die Arme ihrer Wärterin zurüd. 

Dad Alles war dad Werk eines Augenblides. 
Erfchredt trugen der Graf und Anna die Ohn⸗ 
mächtige auf das Ganapee. Der Graf hielt neben 
ihr Fnieend, ihren Kopf in feinem Arme, er ftrei= 
chelte ihre Ealten Hände, er rief dem Diener, ihm 
fein Neceſſair zu bringen, er rieb ihr die Schläfe, 
die Alte überbot fich in verftändiger Sorglichkeit, 
aber ed währte eine lange Weile, ehe der erfte 
tief aufathmende Seufzer Helenend Lippen ent- 
floh, ehe fie die Augen öffnete. Als fie den Gra- 
fen erblidte, brach fie in heftiged Weinen aus. 

»Das wird ihr gut thun, gnädiger Derr!« 


321 


jte Anna, die, obfchon ihr die Beftürzung und 
Angſt des Grafen leid thaten, fich doch freute, 
6 Helene einen fo zärtlichen Bräutigam befom- 
n babe. »Laſſen Sie fie nur weinen. Sie hat 
y gar zu fehr auf ihren Bräutigam gefreut und 
n kam es fo plößlich!« 

»Wer find Sie, liebe Frau? und wie fam das 
Aulein hieher ?« forfchte der Graf. 


»Ich ?« fragte die Alte wie verwundert, daß er fte 
ht kenne »Ich bin ja die Kinderfrau vom Schloſſe! 
Eurer Gnaden Befehl! und die Herrfchaft hat 
ih, Gott fei Dank! nicht vergefien. Fräulein 
elenchen kommt oft in’8 Dorf und zu mir, gnä- 
ger Herr! und fie war auch ganz wohl und 
unter, gnädiger Herr! die Kinder find ja, Gott 
i Dank! auh alle Fern gefund; fie war ganz 
iſch und munter!« 

„Aber woher diefe plögliche Ohnmacht , liebe 
rau ?« 

„Wie ich Euer Gnaden fagte! Bloß die 
rende. Sie aß bier von dem Kuchen und ließ 


ch Karten legen und wie ich ihr fagte, daß 
Wandlungen. 1. 21 


322 
Nichts mehr ſtehe zwifchen ihr und ihrem Liebften, 
da war fie ganz außer fich vor Freuden und 
drehte mid) im Zimmer herum, daß mir der Kopf 
nur fo wadelte, und gerade da find ber gnädige 
Herr angelangt und das muß fie fo überfommen 
haben, denn allzu große Freude wirft auch den 
Stärkften um !« 


Mit eigenthümlihem Behagen horchte der 
Graf dem Geplauder der Wärterin, während feine 
Augen unverwandt auf feiner Braut verweilten 
und er ihre Hände in den feinen hielt. Er 
wagte nicht fie an ſich zu ziehen, fondern hielt 
fie wie ein Kind in feinem Arme, und um ihr 
Zeit zu gönnen ſich zu erholen und zu fammeln, 
verließ er dad Zimmer mit der Bitte, man möge 
ihn zurüdtufen » fobald Helene ſich wohl genug 
fühle, auf das Schloß zu fahren. 


Kaum hatte er fich entfernt, da richtete fich 
das Mädchen langfam empor, ſchaute mit fcheuen, 
unruhigen Bliden um fich ber, als müffe fie fich 
erfi zurecht finden, fich auf fich ſelbſt befinnen, 
griff dann nach der Hand der alten Frau. und 


323 


e feft vrüdend flüfterte fie: -Deine Karten 
ıgen, Anna! wirf fie fort!« 

Das aber hieß Anna in ihrem Glauben frän- 
m, beflen Berechtigung fih nad ihrer Anſicht 
erade in diefem Augenblide fo unmiderleglich be⸗ 
haͤhrt hatte Sie war überzeugt, Helene halte 
ie Ankunft des Bräutigamsd für ein Traumgebild 
wer Bemußtlofigkeit, und jede Erklärung ver- 
hmaͤhend, wo die Thatfachen für fie forachen, 
ffnete fie die Thüre, um den Grafen zum Ein- 
itt zu nöthigen. - 

Als diefer feine Verlobte in aller ihrer Schön 
eit vor fich ſtehen ſah, da hielt er fich nicht laͤn⸗ 
er. Mit der Lebhaftigkeit eines Juͤnglings eilte 
e auf fie zu und fchloß fie mit dem Ausruf: 
Helene! theure, liebe Helene, wie gluͤcklich macht 
sich Ihre Freude!« an fein Herz, fie mit feinen 
tüffen bedeckend. 

Wie fie in den Wagen gelommen war, mas 
er Graf zu ihr auf dem Wege nach dem Schloffe 
efprochen, was fie ihm geantwortet hatte, wußte 
Jelene fpäter fich felbft nicht mehr zu fagen. 


Jer Umfchwung ihrer Empfindungen war zu 
21* 


324 





ploͤtzlich geweſen, und feiner Ueberlegung , kaum 
ihrer Sinne mächtig, hatte fie fich willenlos der 
Zärtlichkeit des Grafen überlaflen, dem fie felbft 
mit ihrem Worte das Recht zu derfelben geges 
ben hatte. Aber jest exit, erft in diefem Augen: 
blide fing fie an zu ahnen, was fie damit gethan, 
zu ahnen, was es heiße, die Liebesbeweiſe eines 
ungeliebten Mannes zu ertragen, und diefer bittere 
Schmerz reifte in der Eindlichen Jungfrau plößlich 
dad Bewußtfein ded Weibes, ohne ihr die Kraft 
des Weibes zu geben, das felbfihandelnd Feine 
Scwierigfeiten Fennt, wo ed gilt, fi vor Er- 
niedrigung und Unwahrbeit zu fehüßen. 
Verzweiflung im Herzen langte fie auf dem 
Schloſſe an, ohne daß Jemand bemerkte, was in 
ihrer Seele vorging. Der Graf hielt ihr Schwei- 
gen, ihr fcheues Weſen, ihre Thranen für die 
Folgen ihrer Weberrafchung, für eine Schüchtern- 
beit, die ihn, den Weltmann, an feiner Braut ent⸗ 
zudte. Die Baronin war erfreut, weil St. Bre⸗ 
zan’d perfünliche Ankunft ihren Wünfchen begeg- 
nete, auch Cornelie hielt es für die Ruhe ihrer 
Schwefter fürderlih, daß ihrer hoffnungsvollen 


327 


ihn zu erklären; aber er hatte erwartet, daß er 
in diefem, ihm nicht erwünfchten Falle doch min: 
deftens feine Ankunft melden werde, und fich vor: 
genommen, ihm dann entgegenzufahren, die Un— 
-terredung am dritten Orte abzumachen, und je 
nach ihrem Erfolge, fchonend für beide Theile die 
weiteren Schritte zu thun. Daß St. Brezan 
fich gleich nach Empfang feines Briefes auf den 
Meg machen, daß er zwölf Stunden früher auf 
dem Gute eintreffen werde, ald die Meldung fei- 
ned Kommens, daß er Helenen im Dorfe begeg: 
nen, die Ohnmaͤchtige in feinem Wagen als feine 
Braut in’5 Schloß geleiten werde, dad war ein 
Zufammentreffen von Umftänden, welches auch 
der Scharffinnigfte nicht vorauszufehen vermochte. 

Die unbefangene Weife, mit welcher ber 
Straf ſich einführte, fein feherzendes: »Ich hoffe, 
daß Sie mich nicht auch für einen Ufurpator hal- 
ten, mein theurer Freund! weil ich fo unerwartet 
gekommen bin, die Rechte zu vertheidigen, welche 
Ihre Freundfchaft und Helenens Vertrauen mir 
gegeben haben!« mißfielen dem Baron. Er fand fie 
leichtfinnig. Aber dem Gaftfreunde, der fein Haus 


Reunzehntes Kapitel. 





Haft niemals geftalten die Berhältniffe fich in, 
der Weife, die man erwartet hat. Mögen Ber: 
ſtand und Phantafie fich mit ihnen noch fo lange 
befchäftigt, mag man alle Wahrfcheinlichkeiten 
noch fo vorfichtig berechnet haben, der Dämon 
des Zufalld weiß unfere VBorausficht zu Schanden 
zu macden und Gombinationen zu erzeugen, die 
wir nicht erdenken konnten und die alle unfere 
Vorſaͤtze und Grundfäge mit einem Stoße in die 
Luft fchnellen. 

Der Baron hatte e3, wie er den Grafen 
kannte, für möglich gehalten, daß derfelbe es vor- 
ziehen werde, fich mündlich ftatt fchriftlich gegen 


329 


jen beflimmt zu fühlen, war ihrem Gemahl fo 

wmerträglich, daß der geringfte Verſuch einer Ein- 
wirkung ihn um fo feſter auf der eigenen Anficht 
beharren machte. Indeß in ihm felbft hatte ein 
Kampf begonnen. So fehr auch gerade in diefem 
Augenblide fein Zutrauen gegen St. Brezan er: 
fhüttert war, fo widerftrebte es feiner Anficht 
von dem Schicklichen und Würdigen, jebt dem 
Manne, der bereits vor den Augen der ganzen 
Dienerfchaft die Rechte von Helenens Bräutigam 
behauptet hatte, feindlich entgegenzutreten und 
ihn, den Edelmann, durch die Auflöfung der 
Verlobung in eine feinem Stande und feinen 
Berhältniffen gleich unangemefiene Lage zu ver: 
feßen. Er verwünfchte die Eilfertigkeit des Gra- 
fen, er verwünfchte den Zufall, der feine Tochter 
in dad Dorf geführt hatte, und ging noch ver- 
drießlich nachdenkend in den Zimmern auf und 
nieder, als ber Graf bereitd zuruͤckkehrte, und fich 
mit der VBerficherung dem inzwifchen hergerichte- 
ten Theetiſche näherte, daß er fich auf der ganzen 
Reife des Augenblickes gefreut habe, in dem er 
fi zum erfien Male als ein Glied der Familie 


328 


betreten hatte, died auszufprechen, hielt feine Ach⸗ 
tung vor dem Gaftrecht ihn zurüd, und er be- 
gnügte fich, ihm zu erwiedern: »Sie find mir 
dreifach willkommen, lieber Graf! wenn es und 
gelingt, und zu verfländigen !« 

»Das wird mit wenig Worten leicht gethan 
fein!« verficherte St. Brezan. »Sobald id) von 
der Güte der Frau Baronin Gebraudy gemacht 
und mich auf meinem Zimmer von dem Staube 
der Reife befreit habe, ftehe ich Shnen fir die 
Erörterung zu Dienfte, die ficher kürzer fein wird, 
ald eine Debatte in den Kammern, denn Sie 
werden mir bald zugeben, daß man fich dem 
fait accompli zu fügen habe.« 

Damit entfernte er ſich und ließ die Familie 
in einer unbehaglichen Stimmung zurüd. Die 
Baronin, welcher jede Miene ihred Gatten ver- 
ftändlich war, fah deutlich was in ihm vorging, 
ohne daß fie es wagte, die Art des Grafen zu 
vertreten oder den Vorſchlag zu machen, der Ba⸗ 
ron möge, wie die Verhältniffe fich jett einmal 
geftaltet hätten, die ganze Sache auf ſich beruhen 
laſſen; denn fich durch Andere in feinen Entſchluͤſ⸗ 


329 





jen beflimmt zu fühlen, war ihrem Gemahl jo 
wnerträglich, daß der geringfte Verſuch einer Ein- 
wirkung ihn um fo fefter auf der eigenen Anficht 
beharren machte. Indeß in ihm felbft hatte ein 
Kampf begonnen. So fehr auch gerade in diefem 
Augenblide fein Zutrauen gegen St. Brezan er: 
fehüttert war, fo widerftrebte es feiner Anficht 
von dem Schicklichen und MWürdigen, jebt dem 
Manne, der bereit vor den Augen der ganzen 
Dienerfchaft die Rechte von Helenens Bräutigam 
behauptet hatte, feindlich entgegenzutreten und 
ihn, den Edelmann, durch die Auflöfung der 
Verlobung in eine feinem Stande und feinen 
Berhältniffen gleich unangemefjene Lage zu ver: 
jeßen. Er verwünfchte die Eilfertigkeit des Gra- 
fen, er vermwünfchte den Zufall, der feine Zochter 
in dad Dorf geführt hatte, und ging noch ver: 
drießlich nachdenfend in den Zimmern auf und 
nieder, als der Graf bereitö zuruͤckkehrte, und fich 
mit der Verfiherung dem inzwifchen hergerichte- 
ten &heetifche näherte, daß er fich auf der ganzen 
Reiſe des Augenblides gefreut habe, in dem er 
fich zum erſten Male als ein Glied der Familie 


330 





in dem Kreife der Baronin befinden würde. Die 
Herzlichfeit der Mutter, die Sicherheit ded Gra- 
fen waren neue drüdende Seffeln für den Willen 
des Burond, und ald St. Brezan fi) dann be- 
haglich niederfeßte und heiter fagte: »Laffen Sie 
und nun, mein verehrter lieber Freund! unfere 
große Streitfrage friedlich fchlichten!« ward dieſe 
Weiſe, die Dinge zu behandeln, dem Baron un- 
erträglich. | 

»Ehrenfachen, wie diefe,« fagte er mit ableh— 
nendem Tadel, »find zu wichtig, um in den Be— 
reich der Frauen gebracht zu werden. Sie wer: 
den mid) verbinden, Graf! wenn Sie mich fpäter 
auf mein Zimmer begleiten wollen !« 

Diefe Zurüdweifung mußte den Grafen ver: 
legen. Er ward plöglich ernfthaft, aber weit ent= 
fernt, den Forderungen feines. Wirthes nachzu— 
geben, rief er: »Im Gegentheil! es handelt fich 
bier um meine Rechtfertigung nicht nur vor Ihnen, 
fondern vor Helenen, Herr Baron! und Gie 
werden mir geftatten müffen, mich bier in ihrer 
Gegenwart über mein Handeln auszufprechen, da 
Sie aus demfelben Beranlaffung. genommen 


331 


haben, mir Delenend Briefe zu entziehen, ja mir 
meine Braut verfagen zu wollen !« 

Damit rüdte er näher zu Helene heran, nahm 
ihre Hand und fragte: »Nicht wahr, Helene” 
Sie haben nicht an mir gezweifelt, und Sie wuͤn⸗ 
fhen, daß ich mich in Ihrer Gegenwart über 
meine Dandlungsweife erfläre?« 

Helene, mehr noch als die Mutter und Cor: 
nelie gepeinigt durch diefe Scene, fah den Vater 
an, ald wolle fie feine Entfcheivung fordern, der 
Graf aber wartete diefe nicht ab. »Laſſen Sie 
mich denn fagen, lieber Baron!« erflärteer, »daß 
ih Ihre Bedenken von Ihrem Standpunkte aus 
vollkommen begreiflich finde. Ich würde wie Sie 
urtheilen, ich würde ganz nach Ihrer Anficht ge: 
handelt haben, wären meine, unfere Berhältniffe 
nicht gerade weſentlich verfchieden! Wäre für 
mich in Frankreich zuläffig, was in Ihrem Vater- 
lande Shnen eine gebotene Pflicht erfcheint und 
fein mag!« 

»Das gerade ift der Punkt, den ich beftreite!« 
rief der Baron, »die Pflicht der Ehre iſt uͤberall 
dieſelbe.« 


332 


»Das ift fie nur bebingungsweife, werther 
Freund! Sie hier in Preußen, die Sie in einem 
abfoluten Staate leben, übernehmen mit dem 
Huldigungseide, mit dem Beamteneide eine Pflicht 
und — verzeihen Sie mir den Ausdrud — eine 
Art von Knechtfchaft !« 

Der Baron fuhr auf und mollte eine Ein 
wendung machen, der Graf ließ es nicht dazu 
fommen. »Ich fage eine Art von Knechtfihaft,« wie: 
derholte er, »weil es darauf anfommt, in foldyer 
Streitfrage die Säge auf die Spige zu ftellen. - 
- . Der Diener eines abfoluten Herrfchers, deffen 
Wille, wie bier bei Ihnen in Preußen, das allei: 
nige Geſetz ift, der Diener eines folchen Fürften 
giebt mit dem Beamteneide fein eigenes Urtheil, 
feine Anficht, und damit auch natürlich die Frei: 
heit feines Handelns auf, denn er ſchwoͤrt ſich 
zum Werkzeug des einzigen Willend, der im 
Staate Geltung hat. Diefen höchften Willen zu 
tadeln, ihn nicht anzuerkennen, fich feinen Anorb- 
nungen zu widerfegen, ift für den Beamten Eid- 
bruch — — und deffen habe ich mich nicht fchuldig ge⸗ 
macht, derin folchen Eid würde ich nie geleiftet haben !« 


333 





Die Züge ded Barond waren immer bdufterer 
worden, feine Frau fah beforgt bald zu ihm, 
ald zu dem Grafen hinüber und erbleichte, al& 
vr Gemahl mit Faltem Zone fragte: Meinen 
Sie mir einen Vorwurf damit zu machen, daß 
ie Erfüllung dieſes Eides mir höchfte Ehren- 
ıche iſt?« 

»Nimmermehr!« rief der Franzoſe, der e& 
ihlte, daß er zu weit gegangen war, »aber fchon 
est müflen Sie mir zugeftehen, daß unfere Ver: 
ältniffe verfchieden find, daß alfo auch unfere 
lichten, unfere Handlungsweiſe verfchieden fein 
nüffen. Das abfolute Königthum ift für Frank⸗ 
eich eine Unmöglichkeit geworden. Ob wir Dies 
ils ein Glüd, ald ein Unglüd für das and be- 
rachten müffen, gilt hier gleih — die Thatfache 
ft da. Die Revolution hat für alle Zeit der 
Nation das Recht erobert, gefeßgebend und ſich 
elbft vertretend neben dem Könige zu ftehen. 
Kranfreich ift conftitutionell. Das Volk erkennt 
n feinem Herrfcher den Schuͤtzer der Gefebe, es 
chwoͤrt ihm Treue als folhem, aber es giebt da= 
nit jein Recht nicht auf, über die Erhaltung der 


334 


Gefege zu wachen, fein Recht nicht auf, den Kö- 
nig in ihrer Ausübung zu controliren, denn es 
fteht als felbftändige Macıt neben dem Throne. 
Der Eid in einem conftitutionellen Staate ift die 
feierliche Unterzeichnung eines Gontractes, der nur 
Dauer haben Fann, fo lange beide Theile ihn er- 
füllen. Karl der Zehnte bat nach meiner Ueber: 
zeugung den Contract gebrochen, er hat .die Ver: 
faffung angetaftet, er — —« 

»Wer ift der Richter über ihn?« fragte der 
Baron mit dem Zone geringfchäßenden Tadels. 

»Die Majorität der Volfövertreter, die öffent: 
liche Meinung!x fagte der Graf beftimmt. 

»Eine öffentliche Meinung, deren Allmacht aus 
Millionen Fäuflicher Seelen und Millionen von 
Nullitäten befteht, die wollen Sie, Sie Graf St. 
Brezan! erkennen als Richter uͤber einen legitimen 
Herrn?« 

»Ich erkenne Die gfentliche Meinung vielleicht 
mit Widerſtreben als meinen Herrn an, aber ich er⸗ 
kenne fie als legte Inſtanz fuͤr einen conſtitutio⸗ 
nellen Staat, und wollte ich es nicht, ich muͤßte 
es thun — denn die Gewalt der oͤffentlichen 


335 


Meinung fieht ald Thatſache in Frankreich vor 
und da. Hätte die Öffentliche Meinung fich gegen 
mich in der Verwaltung meines Amtes ausge⸗ 
iprochen, fo hätte ich es verlaſſen müffen. Der 
König felbft würde gezwungen worden fein, mich 
zu entfernen, wäre er perfünlich auch von meiner. 
Unfhuld überzeugt geweſen. Jetzt forderte bie 
öffentliche Meinung feine Entfernung — und wie 
er fich diefer Gewalt fügen müßte, füge ich mid) 
ihr, ganz abgefehen davon, daß überhaupt von 
Fuͤgſamkeit nicht mehr die Rede fein kann vor 
der vollendeten Thatſache. Selbft der Arm eines 
Titanen hält den Gang der "Weltgefchichte nicht 
zurüd in ihrem Laufe. Folgerechte Ereigniffe haben 
Napoleon zerfchmettert, Ludwig den Achtzehnten 
erhoben, Karl den Zehnten geflürzt, dem Herzoge 
von Orleans die Koͤnigswuͤrde in die Hände ge: 
worfen — — auf wie lange, das wird die Zeit 
uns lehren, das werden feine Handlungen bedin- 
gen. Sekt verlangte das Volk, jekt verlangte 
Frankreich nach dem Bürgerfönige Louis Philipp, 
die Majorität ift zufrieden geftellt durch ihn, und 
gegen dieſe jich aufzulehnen, das allein ift Mein— 





eid in einem conflitutionellen Staate. Den Dienft 
in folcher Kriſis zu verlafien, wäre Mangel an 
ſich felbftverläugnender Waterlandeliebe, wäre 
fruchtlod und unklug geweſen gegenüber dem 
fait accompli!« 

Er hatte mit Ernft und mit großer Wärme 
geiprochen, nun wendete er fich Helenen zu und 
fagte plöglicy mit ganz verändertem Tone: »Richt 
wahr, theure Helene! Sie flimmen mir bei, und 
die®ehre von dem fait accompli wird Ihnen ein- 
leuchten, denn Sie giebt Ihnen unwiderftehliche 
Waffen gegen mic in Handen. Wor dem fait 
accompli werden Sie mich immer fügfam finden, 
in der Ehe wie imStaate, und da Sie mir fort- 
an alle Frauen der Welt erfeben, fo wird meine 
fchöne Helene auch ewig der Majorität mir ge- 
genüber ficher fein !« | 

Er hatte, fo mächtig er des Deutfchen war, 
die ganze Unterredung franzöfifch geführt. Das 
gab ihm, ob gefucht ob zufällig, einen bedeuten 
den Vortheil über feinen Gegner, denn die ferti- 
gen Phrafen, welche das öffentliche, politifche Ze- 
ben der Sranzofen erzeugt hatte, boten fich ihm 


339 


die Öffentliche Meinung nennt. — Die Öffentliche 
Meinung!« wiederholte er nochmals fpöttifch mit: 
den Achfeln zudend — und gegen Helene gewen- 
det, fügte er hinzu: »Diefe öffentliche Meinung 
wird alfo künftig auch Dein Richter werden! 
Halte Dich aber lieber an die Zufriedenheit des 
Grafen, das wird Dir und ihm in allen Fällen 
das Erfprießlichere fein!« 

Die Tochter Eüßte feine Hand, die beiden 
anderen Frauen athmeten auf, ald wären fie einer 
Angft entledigt, und der Graf, dem es überall 
mehr auf die Erreichung feiner Abfichten, ald auf 
den Sieg in einem Prinzipienftreite anfam, fuchte 
mit der gefelligen Leichtigkeit, die ihm zu Gebote 
ftand, ſich und die Anderen über dad Unbehagen 
‚ fortzubelfen, dad die ganze Befprechung in ihnen 
erregt hatte. Ihm felbft aber war der Vorgang 
bei Helenen von dem größten Nutzen gemefen. 
Die Eile, mit der er gefommen war, fich ihren 
Beſitz zu retten, fehmeichelte ihr,. troß der Freude 
mit der fie noch vor wenig Stunden an die Wie» 
dererlangung ihrer Freiheit gedacht, und weil fie 
mit dem Grafen von dem Falten Empfange ge- 


nnw 


338 


rechnen. Niemand Eonnte ihn tadeln, er achtete 
auch fremden Zadel nicht, wo es nach einer 
Ueberzeugung zu entfcheiden galt — und doc 
folgte er diefer Ueberzeugung nicht, weil die Nach⸗ 
theile, die Unbequemlichkeiten, welche ſolches Han- 
deln für den Augenblic® herbeigeführt haben wuͤr⸗ 
den, fich ihm zu deutlich aufprängten. Der flarre 
Bertreter unwandelbarer Grundfäße fügte fich zum 
erften Male der ihm fo verächtlichen Lehre von der 
Gewalt der erfüllten Thatfache, aber er that es 
mit Schmer;. 

»Frankreich hat fi nicht Gluͤck zu wünfchen,« 
fagte er, »daß ed zu folchen Doctrinen feine Zu— 
flucht nehmen muß, fi) vor der Wiederkehr der 
Anarchie zu wahren, und ich beflage Sie, ich be- 
Elage jeden Edelmann, der gezwungen ift, fie zu 
den feinigen zu maden. Ich freue mid, daß 
unferem Volke eine andere Straße vorgezeichnet 
ift, denn ich für mein Theil würde mich Durch 
Nichts in der Welt bewegen laffen, einem conſti⸗ 
tutionellen Staate zu dienen, und mich und meine 
Handlungen dem beftechlich grillenhaften, millio- 
nenköpfigen Phantome zu unterwerfen, dad man 


339 


— — 


: Öffentliche Meinung nennt. — Die öffentliche 
einung!« wiederholte er nochmals fpöttifch mit 
n Achfeln zudend — und gegen Helene gewen— 
t, fügte er hinzu: »Diefe Öffentliche Meinung 
ird alfo künftig auch Dein Richter werden! 
alte Dich aber lieber an die Zufriedenheit des 
rafen, dad wird Dir und ihm in allen Fällen 
is Erfprießlichere fein!« 

Die Tochter küßte feine Hand, die beiden 
aderen Frauen athmeten auf, als wären fie einer 
ngft entledigt, und der Graf, dem es überall 
ehr auf die Erreichung feiner Abfichten, als auf 
en Sieg in einem Prinzipienftreite ankam, fuchte 
zit der gefelligen Leichtigkeit, die ihm zu Gebote 
and, fi) und die Anderen über dad Unbehagen 
ortzuhelfen, das die ganze Befprechung in ihnen 
rregt hatte. Ihm felbft aber war der Vorgang 
yei Helenen von dem größten Nutzen geweſen. 
Die Eile, mit der er gefommen war, fich ihren 
Beſitz zu retten, fchmeichelte ihr, troß der Freude 
mit der fie noch vor wenig Stunden an die Wie 
dererlangung ihrer Freiheit gedacht, und weil fie 
mit dem Grafen von dem Falten Empfange ge: 

22 * 


340 





litten hatte, den ihr Water ihm bereitet, war. fie, 
ohne daß fie ed wußte, auf die Seite St. Bre⸗ 
zan’d getreten, fo daß fie feinen Sieg ald den 
ihrigen betrachtete. ’ 

Der erſte Augenblid ruhiger Ueberlegung hatte 
eö ihr Elar gemacht, daß fie ihren. Herzenswuͤn⸗ 
fchen jest wie früher zu entfagen habe. Die er- 
ften Umarmungen, die erflen Küffe des Grafen 
hatten ihr mit dem Erfchreden über ihre Unfrei- 
heit doch unmiderleglich dad Gefühl der Abhän- 
gigkeit von ihm und feinem Willen aufgedrungen. 

Das verbreitete den Ausdruck einer Weichheit, 
einer Hülflofigkeit über ihr Wefen, der dem Gra- 
fen fehr reizend war. So abhängig von frem- 
dem Willen, fo unberührt vom Leben hatte er 
fi feine Gattin ſtets gewuͤnſcht. Diefe Strenge, 
bauslicher Zucht bei vollendeter Bildung für die 
große Welt, hatte er ftetd als die Bürgfchaft 
feines Glüdes angefehen. Von einer Kiebe in 
dem Sinne der Jugend, von jener Leidenfchaft, 
wie fie die Schönheit heißen Sinnen abgewinnt, 
konnte bei dem Grafen nicht die Rede fein, der 

‚alle Regungen, des Herzens, alle Genüffe des 


end, wenn aud nicht erſchoͤpft, fo doch in 
em Maaße gekoftet hatte. Er verbeiratbete 
fih, weil er einer Hausfrau bedurfte, um fid 
eine angenehme Ruhe, feinem Haufe eine liebens- 
würbige Wirthin zu geben. Helenens Weſen 
hatte ihn angezogen, ihre Schönheit erfreute ihn, 
er wünfchte ſich Gluͤck zu ihrem künftigen Be⸗ 
fite, er batte zu feinen Freunden mit ſelbſtge⸗ 
fäligem Lobe von ihren Vorzuͤgen gefprochen, 
und hätte fein Herz auch nicht eben fchwer da⸗ 
von gelitten, dieſe Heirath fcheitern zu fehen, fo 
wäre ein folches Ereigniß gerade, für das Selbft- 
gefühl des aͤltern Mannes ein ſchwer zu über: 
windender Verluft gewefen. Diefe Rüdficht hatte 
feine eilige Reife beftimmt. Sie ließ ihn den falten 
Empfang, den Zabel des Barons nicht achten, 
und die Eitelkeit, die fo oft als Stelivertreter 
der Zugend die Handlungen der Menfchen be: 
fimmt, erfebte in diefem Falle, was der Liebe 
des Grafen an Wärme fehlte. Sie machte He: 
lenen an eine Leidenfchaft glauben, Die zu em- 
pfinden ihr Bräutigam feit langer Zeit verlernt 
hatte. 


342 


Die politifchen Berhältniffe, welche dem Gra- 
fen die Pflicht auferlegten, fo bald ald möglich 
wieder auf feinem Poſten einzutreffen, die Ueber- 
zeugung der Baronin, daß ed für den Seelenzu⸗ 
ftand ihrer Tochter eine Erleichterung fei, ihr 
Schickſal möglichft ſchnell für immer zu entfchei- 
den, und die nicht befeitigte Verſtimmung des 
Barond gegen feinen künftigen Schwiegerfohn, 
veranlaßten, dag man den Beſchluß faßte, die 
Trauung ſchon nach wenigen Tagen auf dem 
Gute vollziehen zu laſſen. Erft nach derfelben 
wollte man in die Stadt gehen, um in einem Ab- 
ſchiedsfeſte Helenens Bekannte noch einmal zu ver: 
einen, ehe fie dad Vaterhaus verließ. Gleich nach 
der Hochzeit follte dann auch Erich feine Reife 
antreten, und beide Brüder wurden jest fchleu: 
nig auf dad Gut hinausberufen, damit die Fa⸗ 
milie noch einmal vollzählig Leifammen wäre, 
ehe die Lebenswege der Gefchwifter fich zu fren- 
nen begannen. 

Die Eltern ſowohl als die Kinder fühlten, 
daß fie an einem Wendepunkte ihres bisherigen 
Daſeins ftänden, und wie man gern noch ein: 


335 





Meinung fteht ald Thatſache in Frankreich vor 
und da. Hätte die öffentliche Meinung fich gegen 
mich in der Verwaltung meined Amtes ausge: 
fprochen, fo hätte ich es verlaffen müffen. Der 
König felbft würde gezwungen worden fein, mic) 
zu entfernen, wäre er perfönlich auch von meiner. 
Unfchuld überzeugt gewefen. Jetzt forderte die 
Öffentliche Meinung feine Entfernung — und wie 
er fich diefer Gewalt fügen müßte, füge ich mic) 
ihr, ganz abgefehen davon, daß überhaupt von 
Fuͤgſamkeit nicht mehr die Rede fein kann vor 
der vollendeten Thatſache. Selbft der Arm eines 
Zitanen hält den Gang der’ Weltgefchichte nicht 
zurüd in ihrem Laufe. Folgerechte Ereigniffe haben 
Napoleon zerfchmettert, Ludwig den Achtzehnten 
erhoben, Karl den Zehnten geftürzt, dem Herzoge 
von Orleans die Königswürde in die Hände ge- 
worfen — — auf wie lange, dad wird die Zeit 
uns lehren, das werden feine Handlungen bedin- 
gen. Jetzt verlangte dad Volk, jekt verlangte 
Frankreich nach dem Bürgerfünige Louis Philipp, 
die Majorität ift zufrieden geftelt durch ihn, und 
gegen diefe fich aufzulehnen, das allein ift Mein: 


341 


groß die Kluft fei, welche feine Weltanſchauungg 
von der ihrigen, fein und Helenens Alter trennte 
Mit richtigem Takte überließ er fie fich felbft. 

Er verftand die Kunft zurüdzutreten, um ficherer 

vorfchreiten zu können, er verftand ſich zu fügen 

im Privatleben wie in der Politit, fobald es 

feinen Zweden diente. 

Gegen feine Vorausſetzung fand fich Georg 
zu dem Grafen hingezogen. Er hatte erwartet, 
in ihm einem Manne von ben frengen Grund⸗ 
fäben feined Waters zu begegnen und ſich ben 
Strafen Ealt, höfifch gefchmeidig und abweifend 
gedacht. Nun lernte er mit Ueberraſchung in 
feinem Schwager dad gerade Gegentheil dieſer 
Eigenfchaften Fennen. Weit davon entfernt, den 
Unterfchied der Jahre zwifchen ihnen geltend zu 
machen, oder, wie der Baron es that, von juͤn— 
geren Männern ehrerbietige Unterordnung zu ver- 
fangen, ftellte er feine Schwäger als gleichbe- 
rechtigt neben fich. Erritt und jagte mitihnen, hatte 
Theilnahme für alle ihre jugendlichen Intereffen 
und ward für Georg fchon nach wenig Stunden 
ein Gegenftand ber Zuneigung, weil alle Ergäb- 





337 





willig dar, und die anmuthige Galanterie, mit 
der er von der Discuffion fich fchnell wieber zu 
jeiner Verlobten zuruͤckwendete, machte auf dieſe 
und auf die anderen Frauen einen angenehmen 
Eindrud. Zum erften Male gefiel der Graf Hele- 
nen, zum erften Male faßte fie Zutrauen zu ihm, 
weil feine biegfame Weltanfchauung ihr neben der 
Starrheit ihres Waters mild und verfühnlich vor: 
Fam. 

Sie reichte ihm die Hand, der Graf Eüßte 
diefelbe, und während der Baron fich anfchidte, 
mit den edeln, aber fchweren Waffen feines legiti- 
men Glaubens dad Unrecht darzuthun, welches 
in der Anerkennung des fait accompli liege, eben 
weil ed ein ſolches fei, ſah er ſich gezwungen, 
bier in feinem Privatleben, in dem ihm Nächften, 
Theuerſten, in feiner Samilie, die Gewalt der er: 
füliten, beftehenden Zhatfache gegen feine Anficht‘ 
gelten zu laflen. Er fühlte, er habe jetzt noch 
die Möglichkeit feine Zochter dem Grafen, defien 
Sefinnung ihm nicht zufagte, zu verweigern, er 
Eonnte fogar auf ihren Gehorfam, auf die mehr 
oder weniger fchnelle Fügfamteit feiner Gattin 

Wandlungen. 1. 22 


346 


zen nicht vollkommen befriedigt find durch manche 
Ihrer Verhältniffe, und kann ih — —« 

„Nein! davon ift nicht die Rede,«“ fiel ihm 
der Lieutenant in dad Wort, »und gerade in die— 
ſem Augenblide merke ich doch zum erſten Male 
an Ihrem »»daß Sie im Ganzen nicht vollfom- 
men befriedigt find durch manche Ihrer Berhält- 
niffe,«« daß Sie doch ein Diplomat find. Um es 
denn Furz zu machen, ich hatte ein Vorurtheil, 
einen wahren Haß gegen Sie!« 

»Das ift fonderbar, da Sie mich nicht kann⸗ 
ten!« wendete der Graf lächelnd ein, und es lag 
in feinem Tone Etwas, dad Georg verlegen 
machte, weil ed urplöglih eine Schranke 
zwifchen ihnen errichten zu wollen ſchien. Er 
fühlte, daß er eine Unfchidlichkeit begangen habe, 
und feine Befangenheit zu überfommen, wollte 
er fich mit einem noch entfchiedeneren Worte be= 
freien, ohne zu bedenken, daß wir den Knoten 
nur fefter fchlingen, den wir gewaltfam zu löfen 
trachten. »Die Diplomatie ift mir immer ſchreck⸗ 
lich zuwider gewefen,« rief er, »weil Dad ewige 
Unterhandeln, Audgleichen und ermitteln den 


XD 


349 


fchenvollen Stadt,« erklärte er. »Wohen Sie 
ſich frei fühlen lernen, fo bewegen Sie ſich fo 
vorfihtig in der Menge, daß Sie auf Ihrem 
Wege vorwärtd kommen, ohne an bie neben Sh- 
nen Gehenden zu floßen. Kraft und Rüdficht- 
lofigfeit mögen $reiheit erfämpfen in ver Bar- 
barei, in einem civilifirten Staate machen nur 
Fuͤgſamkeit und Schonung gegen Andere uns 
perfönlich frei!« 

»So werde ich aljo unter die Barbaren ger 
ben oder auf Freiheit verzichten müffen!« rief der 
junge Offizier. 

»Wielleicht werden Sie beides thun!« meinte 
St. Brezan fehr ruhig. 

Georg war ganz ernft geworben und fah 
nachdenfend vor fich nieder. Da nahm der Graf 
feinen Arm und mit der fcherzenden Anmuth, 
die ihm zu Gebote ftand, fagte er, während fie 
fi) dem Haufe wieder näherten: »Wenn Sie ſich 
in ber Barbarei genug gethan haben werden, 
lieber Freund, fo werden Sie denfbarer Weife 
einmal einen Vermittler für Ihre Rüdkehr in die 
Civilifation gebrauchen. Denken Sie dann an 


348 


ten die befannte Lehre an, daß en voyage l’es- 
sentiel est d’arriver!« 

Es entfland eine Paufe, die der Graf abficht- 
lich verlängerte. Er wollte dem jungen Manne 
feine Unſchicklichkeit fühlbar werden laffen, in- 
deß er mochte niemald eine gewonnene günftige 
Meinung einbüßen, und unberührt durch Die ju- 
gendliche Uebereilung des Lieutenantd, war er es, 
der die Unterhaltung wieder aufnahm. 

»Es ift Schade,« fagte er, »daß Sie nicht in 
Frankreich leben, Ihre Streben nach Freiheit — — « 

»Ja! das würde dort Genügen finden !« un 
terbrach ihn Georg. 

»Das würde fich befchränfen lernen,« bedeu⸗ 
tete der Graf, »in einem Lande, in welchem Se- 
dermnn Freiheit für fich felbft beanfprudt. Die 
Freiheit, welche Sie zu wünfchen fcheinen, finden 
Sie eher in Rußland ald bei und!« 

Der Lieutenant fah ihn betroffen an, der Graf 
merkte, daß der junge Mann ihn nicht verflan- 
den hatte. »Eine Kanonenkugel, die grade aus 
ihren Weg verfolgt, kann man eher in einer oͤden 
Steppe dulden, als in den Straßen einer men= 


N 


351 


bändeln, von Ehefcheidungen, von Abenteuern 
aller Art in einer Weiſe fprechen hören, die ih- 
nen vollkommen fremd war, und die fie auch an 
ihm früher nicht gefannt hatten. Sie thaten 
plöglich Blicke in eine Welt, in der die Leiden- 
fchaften dem Gefebe Hohn fprachen oder es ger 
[hit zu umgehen wußten, ohne daß das Geſetz 
oder die Öffentlihe Meinung dafür Rache nah 
men; aber dieſe Blicke waren fo kurz, fo flüchtig, 
die erwähnten Gegenftände fo gefchickt verfchleiert, 
daß Fein Bild fich ihnen flörend oder verleßend 
aufbringen konnte. Sie waren vor dem erften 
Schauen befremdet zurüdgewichen, hatten die 
Augen davon abgemwendet und gelaufcht, ob die 
Mutter, ob der Vater folhe Mittheilungen, die 
fonft in ihrem Haufe nie geduldet worden waren, 
nicht als Ungehörigkeiten tadelnd zurüdweifen 
würden. Die leichte Art des Grafen, die Na 
türlichleit, mit der er jene Verhältniffe ald alltäg- 
licher Erfcheinungen flüchtig erwähnte, machten je- 
doch daß er meift lange darüber fortgefchlüpft war, 
ehe eine Entgegnung möglich wurde; und Außer: 
ten die Eitern fich darüber, fo gefchah es nur 


352 


in einer Weiſe, die die Khatfache anerkannte und 
fie mehr beklagte als verbammte. Ob died aus Ruͤck⸗ 
ficht für den Grafen, ob aus irgend einem an: 
dern Grunde fo geſchah, machten die erftaunten 
Mädchen fich nicht Bar. Sie fühlten nur, es 
fei eine Schranke niedergeriffen zwifchen ihnen 
und der Welt. Die Eltern, die Brüder felbft, haͤt⸗ 
ten vor ihnen bisher eine abfichtlihe Zuruͤckhal⸗ 
tung beobachtet. Diefe Alle kannten andere Seiten 
des Lebens, Alle fchienen die Reize derfelben zu: 
zugeben und Niemand tabelte fie fo firenge, als 
man bisher die geringfie Abweichung von 
den Regeln einer alö allein berechtigt aufgeftell- 
ten Sitte, in ihrer Gegenwart verdammt hatte. 
St. Brezan und die Zukunft, die er ihr zu 
bieten hatte, gewannen dadurch einen geheimniß- 
vollen Reiz für feine Braut. Ihre unentweihte 
Phantafie ward aufgeregt. Es war ihr, ald um: 
fange fie der beraufchende Duft fremder Wohl- 
gerüche, als lode fie ein auftauchender Lichtglanz, 
das leife Heranklingen einer Muſik, die und ge- 
heimnißvoll ladend vorwärtöziehen, wenn wir inun- 
feren Träumen die Schwelle eines myftifchen Tempels 


3 


betreten haben, und wie von einem Zauber be- 
fangen, der ihr den Blid in die Vergangenheit 
verhüllte, fah fie ihrem Hochzeitötage entgegen. 
Am Borabende deflelben, ald man die lebten 
Geräthichaften ihres Schreibtifches, die Portraits 
und jene taufend Kleinigkeiten verpadte, die ihr 
ald liebe Erinnerungen in die neue Heimath fol- 
gen foltten, fielen ihre Augen auf ein Heft Ge- 
dichte, die ihr Friedrich einft gegeben und die fie 
noch immer zurüdbehalten hatte, um ein Anden 
fen an ihn zu befiten. Sie fchlug ed auf, es 
waren einfach gefühlte Lieder, wie fein files 
Knabenleben fie erzeugt hatte, aber fie erfchienen 
ihr viel reiner, viel ſchoͤner, ald je zuvor. Es 
war ihr, alö läge die Zeit jenes friedlichen Em- 
pfindens, jened begnügten Genuſſes an der Na⸗ 
tur, jened ahnungdvolle Hoffen auf Freundſchaft 
und auf Liebe jahreweit hinter ihr. Ein Gefühl 
von Bedauern gegen ſich und Friedrich, eine un⸗ 
beflimmte Reue und Sehnfucht nad) der Vergan- 
genheit kamen über fie. Sie konnte es nicht ertra- 
gen dieſe Blätter durchzulefen und doch zauderte 


fie, fih von ihnen zu trennen. Endlich nahm 
Bandlungen 1. 23 


352 


in einer Weife, die die Thatſache anerkannte und 
fie mehr beklagte alö verdammte. Ob died aus Ruͤck⸗ 
fiht für den Grafen, ob aus irgend einem an 
dern Grunde fo gefchah, machten die erftaunten 
Mädchen fich nicht Har. Sie fühlten nur, es 
fei eine Schranke niebergeriffen zwischen ihnen 
und der Welt. Die Eltern, die Brüder felbft, hät: 
ten vor ihnen bisher eine abfichtliche Zurudhals 
tung beobachtet. Diefe Ale kannten andere Seiten 
des Lebens, Alle fehienen die Reize derfelben zu⸗ 
zugeben und Niemand tadelte fie fo firenge, als 
man bisher die geringfte Abweichung von 
den Regeln einer alö allein berechtigt aufgeftell- 
ten Sitte, in ihrer Gegenwart verdammt hatte. 
St. Brezan und die Zufunft, die er ihr zu 
bieten hatte, gewannen dadurch einen geheimniß- 
vollen Reiz für feine Braut. Ihre unentweihte 
Phantafie ward aufgeregt. Es war ihr, als um⸗ 
fange fie der beraufchende Duft fremder Wohl- 
gerüche, als locke fie ein auftauchender Lichtglanz, 
dad leife Heranklingen einer Muſik, die und ges 
heimnißvoll ladend vorwärtöziehen, wenn wir in un- 
feren Träumen die Schwelle eines myftifchen Tempels 


353 
haben, und wie von einem Zauber be- 
der ihr den Blick in die Vergangenheit 
, ſah fie ihrem Hochzeitötage entgegen. 
Borabende deflelben, als man die lebten 
haften ihres Schreibtifches, die Portraits 
? taufend Kleinigkeiten verpadte, die ihr 
: Erinnerungen in die neue Heimath fol- 
en, fielen ihre Augen auf ein Heft Ge: 
yie ihr Friedrich einft gegeben und die fie 
mer zurüdbehalten hatte, um ein Anden: 
ihn zu befiten. Sie ſchlug ed auf, es 
einfach gefühlte Lieder, wie fein ftilles 
eben fie erzeugt hatte, aber fie erfchienen 
reiner, viel fchöner, ald je zuvor. Es 
, alö läge die Zeit jenes friedlichen Em⸗ 
„ jened begnügten Genuffed an der Na- 
«8 ahnungsvolle Hoffen auf Freundfchaft 
Liebe jahreweit hinter ihr. in Gefühl 
dauern gegen ſich und Zriedrich, eine un: 
te Reue und Sehnſucht nad) der Vergan— 
kamen über fie. Sie konnte es nicht ertra= 
e Blätter durchzulefen und doch zauderte 


von ihnen zu trennen. Endlich nahm 
ıngen 1. 23 


394 


fie ein Band, das fie viel getragen hatte, ſchlang 
es um das Heft, fchrieb dad Datum darauf, ver- 
fiegelte ed, und als fie ed dann Cornelien gab, 
mit der Bitte, ed Friedrich nach ihrer Abreife 
zuzuftellen, ftürzten ihr die Thränen aus den 
Augen und fie entfernte fich ſchnell. 

Diefem Schmerze gegenüber fühlte fie Die 
Nothwendigkeit, fich gegen den Grafen zu erflä- 
ven, ihm zu fagen, wie fchwer ihr dad Opfer 
ihrer Neigung geworden fei und fich vertrauend 
an feine Bruft zu legen, denn ed war ihr, ale 
bebürfe fie feines Beiftandes gegen fich felbft. 
Schnell, damit der Muth ihr nicht entfchwinde, 
eilte fie die Treppe hinab in den Salon, an beflen 
Fenfter fie ihn Eur; vorher mit dem Lefen einer 
Zeitung befchäftigt gefehen hatte, fo daß fie hoffen 
durfte, ihn allein zu treffen. Ihre Rede, des Grafen 
Antwort, die ganze Scene fehwebten ihr in fefter 
Borftelung vor der Seele, als fie aber die Thuͤre 
öffnete, war St. Brezan nicht mehr allein. Die 
Baronin faß auf dem Sopha und fragte nad) einer 
jungen Dame, die fie in Karlöbad gemeinjam ken⸗ 
‚nen gelernt und die fich feitdem verheiratbet hatte. 


355 


»Die Ehe war bald nach der Hochzeit nahe 
ran unglüdlich zu werben! fagte der Graf. 

»Wie dab ?« fragte die Baronin. 

»O, durch eine falfche Sentimentalität von 
iden heilen. Die Peine Garoline hatte eine 
erzensgeſchichte gehabt, eine Liebe, wie jedes 
aͤdchen fie mit fiebzehn Jahren für einen armen 
yufin oder für irgend einen andern jungen Mann 
me Auſſichten hegen zu müflen fcheint, damit 
8 Herz Hopfen lernt. Diefe Liebe hielt fie fehr 
ch, was ihrem Alter befier anftand, als der Er: 
hrung ihres Mannes, der jened fchuldlofe Ge⸗ 
hl wie eine ernfte Sache anfah. Sie machte 
onfidenzen, ihr Dann verlangte Schwüre, und 
e Sache ward durch Mißverftiehen zu einem 
rama erhoben, während fie faum den Stoff 
: einem Vaudeville darbieten konnte. Indeß 
ift Alles ausgeglichen und Caroline ift zufrie- 
n, wie mir fcheint!« 

Die Baronin hatte Helene flüchtig angeblidt, 
er dad hatte genügt, die Wangen des Mäp- 
end mit dunkler Gluth zu überziehen. Ihr 
ntfchluß, ſich dem Bräutigam vertrauend mit- 


36 





zutheilen, war zerftört. Sie fehämte fich, ohne 
zu wiſſen weshalb, und es duͤnkte fie leichter, das 
Gefühl einer Unreblichkeit in fih zu tragen, als 
von ihrem fünftigen Gatten belächelt zu fehen, 
was ihr eine heilige Erinnerung war. Aber zum 

erften Male beklagte fie es tief, daß der Graf nicht 
jünger fei, daß er nicht mehr zu empfinden, zu 
denken vermöge, wie fie felbft. 

Endlich) kam der Tag der Trauung heran. Im 
‚weißen bräutlichen Gewande, deflen Falten fehwer 
herniederfloffen, den Myrthenkranz auf den dun- 
fein Locken, fo führte die Mutter Helene in das 
Zimmer ded Barond. Erich befand fich bereitö bei 
ihm. Er follte bald nach Helenend Hochzeit 
feine Reife antreten, und der Water hatte ge- 
wünfcht, die beiden Kinder, welche faft zu glei- 
cher Zeit fein Haus verlaffen follten, noch einmal 
in befonderer Unterredung zu fprechen, ehe fie 
fchieden. | 

Die Zenfter des Gemaches waren geöffnet, 
die legten Strahlen der Sonne fielen hinein. Ein - 
flarter Blumengeruh drang aud dem Garten 
empor, in den Blättern des Weinlaubed, das 


N 


357 


fine Ranken bis in die Fenfter hineinbog, zwit: 

ſcherten die Vögel. Sonft war Alles ftill, und die 

Ihöne Einfachheit, mit der das Zimmer auöge- 
fattet war, gaben ihm in diefer Ruhe das An: 
fehen einer Kirche, während es zugleich einen 
würdigen Hintergrund bildete für die edle Geftalt 
feined Beſitzers, der in ſchwarzer Kleidung, die 
Bruft mit Ordenzeichen bedeckt, der Tochter ent: 
gegentrat, ihre beiden Hände erfaßte und fie ſchwei⸗ 
gend eine Weile mit liebevollem Ernft betrady- 
tete. Dann wendete er ſich ab, umarmte ihre 
Mutter und auf die beiden Kinder zeigend fagte 

-r: »Du haft mir treulich geholfen, fie fo weit 
Nu bringen, ich danke Dir!- 

Die Baronin umarmte ihn und füßte dann 
eine Hand, er ließ es ruhig gefchehen. »Noch 
find fie unfer!« fprach er, »aber nur noch dieſe 
Stunde! Noch find wir für fie verantwortlich! 
Welch ein Zroft liegt darin, verantwortlich zu 

AR für die Menfchen, die man liebt! Welch ein 
Fr wſt, welch eine Erhebung! und ich darf es mir 
U Dir in diefer Stunde fagen, wir haben Die 
Wxgend unferer Kinder zu einer glücklichen ge: 





358 


macht. Nichts Unedles hat fie berührt, kein üble 
Beifpiel ift ihnen gegeben worben. Mit edlem 
Namen, mit reiner Ehre und mit reinem Herzen 
entlaffen wir fie bei ihrem Eintritt in die Welt.« 

Die Mutter weinte, Helene war vor dem 
Bater niedergefniet, Erich ihrem Beifpiele gefolgt. 
Da legte er feine Hände auf ihre Häupter, und 
mit bebender Stimme fagte er leife: »Sei das 
Gedaͤchtniß an Eure Eltern Eure Schugwehr ge- 
gen jedes, Unrecht, und wo mein Auge Euch nicht 
mehr erreichen, meine Hand Euch nicht mehr lei⸗ 
ten Fann, da fei Gott mit Eudh!« 

Die Gefchwifter richteten fich empor, umarm⸗ 
ten die Eltern, umarmten einander. Es war 
fi im Zimmer und der Friede der äußeren Na- 
tur erhöhte die Feier dieſes Augenblickes. 

Als die Erfchütterung ausgeklungen hatte, 
feßte fich der Baron auf feinen Divan und nös 
thigte die Anderen ebenfalld Plab zu nehmen. 
»Ihr werdet nun Beide in wenig Tagen in eine 
Melt gehen,« fagte er, »in der andere Anfichten, 
andere Begriffe, ja eine andere Ehre herrfchen, 
ald die, nach deren Grundfägen ich Euch erzog. 





359 


Der Ehrenbegriff der fogenannten großen Welt 
it Ioder und dehnbar. Laßt ihn nie den Euren 
werden. Wortbruch, Zreulofigkeit, Gefinnungs- 
loſigkeit, Leichtſinn, Coketterie, ja jeder Werrath 
laffen fich verbergen unter dem Deckmantel jener 
Gefeltfchaftdehre, jener Gavalierehre, die ſich zur 
wahren Ehre eines Edelmannes verhält, wie ber 
Paradedegen eined Hofmannes zu ber feften Waffe, 
die unfer Freund ift in der Stunde der Gefahr, 
wie fremdes Lob zu unferm eigenen Bewußtſein. 
Was Ihr nicht vertreten koͤnntet hier vor mir zu 
ider Stunde, das ift fündhaft und ehrlos, und 
wenn alle Welt das Gleiche thäte, und wenn 
ale Welt Euch darum lobte. Ach, der ich Euch 
erzog, der Euer Gewiffen bildete, ich bin und 
bleibe Euer Richter, denn mir fchuldet Ihr den 
Namen, den Ihr ald Eure edelfte Mitgift hinaus 
nehmt in das Xeben, mir feid Ihr dafür verant- 
wortlih. Erhaltet ihn rein, er ift der meine! 
Gebt mir die Hand darauf!« 
Helene that es fchweigend. Erich aber ftand 
auf und feine Rechte in die des Vaters legend, 
fagte er: »Ich fehwöre Dir, den Namen rein 


360 


zu erhalten, der mein Stolz ift und den ih Dir 
ald mein hoͤchſtes Gut verdanke! Ich fehmäre 
Dir's!« 

»So werden Deine Kinder einſt Dich ſeg⸗ 
nen, wie Dein Dank mich ſegnet!« entgegnete der 
Baron mit hoch erhobenem Haupte, umarmte 
feine Kinder nochmals, und hatte fie freigeſpro⸗ 
hen zur WBanderfchaft in das Leben. 


Zwanzigites Kapitel. 


Während in folcher Weife das Schidfal feis 
ner Geliebten und feines Freundes einen Wende⸗ 
punkt erreichte, hatte Friedrich eifrig darnach ge- 
firebt, ein neues Ziel für fich zu gewinnen, und 
der Umgang mit dem Doctor fchien ihm dafür 
förderlich zu werden. Er hatte eined Tages 
mit Friedrich plöglich. ohne alle Vorbereitung 
über deſſen gefcheiterte Liebeshoffnungen gefpro- 
«hen, um ihm auf feine Weiſe zu Hülfe zu kommen. 

»Die meiften Menfchen,« hatte er ihm gefagt, 
»find wie Kinder, fie wollen vergeilen, was ih— 
nen unangenehm ift, und fie bedenken dabei nicht, 


daß fie keine Errinerung verlieren können, ohne 
23* 


362 

an ihrem eigenen Werthe einzubüßen, denn was 
ift der Menfch anders, als das Reſultat feiner 
Erfahrungen? Seine Leiden und feine Freuden 
find ein Theil feines Weſens. Wer vergeflen, 
wer die, Erinnerung an feine Schmerzen von 
fih werfen will, ift ein thoͤrichter Verſchwender!« 

„Aber das Leben hat der Schmerzen viel. 
Die Laft muß fchwer werden, wenn man fie be- 
ftändig mit fich trägt!« wendete ber Jüngling ein. 

»Wer fordet das, mein Freund? Traͤgt denn 
der Reiche fein Vermögen beftändig in der Taſche? 
Wie der Erwerbende feine Capitalien zurüdlegt 
und fie aufzeichnet in ficherem Regifter, während 
er von ihren Zinſen lebt, fo follen wir unfere 
Erfahrung fefthalten und zurüdlegen, ihre Leh— 
ren und nubbar machen, und durch fie zu 
neuen Erfahrungen zu gelangen fuchen. Ein per- 
fönlicher Wunſch ift Ihnen fehlgeichlagen, Sie 
hegen augenblidlich Feinen anderen, aber e& giebt 
viel Wünfchenswerthes in der Welt, viel Erftre- 
benswerthes und Nothwendiged für die Allge- 
meinheit. Haben Sie Nichts zu erringen für 
fi) felbft, fo helfen Sie den Anderen und machen 


363 


— — —— 


e allgemeine Zwecke zu den Ihrigen! Arbeit 
amt Ihnen Ihre Erinnerungen nicht, aber 
legt ſie zuruͤck und macht ſie fruchtbar. — 
beiten Sie!« 
Er ſetzte ihm dann auseinander, wie ſeine 
herigen Studien ihn im Ganzen dem Leben 
)der Gegenwart entfremdet hätten, wie alle 
ehrten Unterfuhungen nicht Selbſtzweck, ſon⸗ 
n nur Mittel zum Zwede wären, und wie 
Kenntniß der Vergangenheit an fi voll- 
ımen werthlos bleibe, wenn fie nicht für die 
genwart und Zukunft nutzbar gemacht werde. 
ſtellte die politifchen Ereigniffe in Frankreich 
Revolutionen der Vorzeit gegenüber, und 
te in Friedrich die Neigung zu biftorifchen 
» philologifchen Studien zu erweden, während 
feine Theilnahme zugleich auf die ftaatlichen 
twidlungen der Gegenwart Ienfte. 
Indeß fo fehr diefe Forfchungen und Ereig- 
e ihn auch zu fefleln begannen, fo blieb der 
danke an Helene doch übermädhtig in ihm. 
ıchte er fih noch fo tief verfenken in das 
idium alter Gefchichte und ihrer Jahreszah— 


366 





Mutter machten feinen Eindrud auf ihn, und 
mit der Todesmaͤttigkeit des gehetzten Hirſches 
brach er zuſammen vor dem unentfliehbaren Feinde, 
vor jenem uͤbermaͤchtigen Schmerz, den nur tiefe, 
ſtarke Naturen in ſich zu erzeugen vermoͤgen. 

Er konnte ſeinen Zuſtand nicht verbergen und | 
ging nad) feiner Wohnung. Es war neun Uhr. 
Als die Wirthin ihm das Licht auf fein Zimmer 
brachte, gab fie ihm einen Brief, der für ihn 
vor zwei Stunden angefommen war. Er erfannte 
Helenens Handfchrift. Mit bebender Haft riß er 
das Eouvert auf. Der Brief lautete: 

»Und gälte es meiner Seele Seligkeit, ich 
muß es fagen, Einem muß ich es fagen, wie 
elend ich bin, und der Eine bift Du!« 

»Ich wußte nicht was ich that, ich Fannte 
mich felbft, ich Fannte das Elend nicht, als ich 
verfprach, Dich zu vergeflen, als ich verfprach, das 
Meib eines Mannes zu werden, der mir fremd 
ift, fremd bis tief in das innerfte Herz!« 

»Weißt Du was das heißt, dad Weib eines 
Manned werden, den man nicht liebt? — Kein 
Mann, aud Du nicht, Fannft dies Entfeben ver- 


365 


— . .. » — 


ermaͤhlten ein großer Ball im Hauſe 
rn ſtattfinden werde. 

der Abend herankam, litt ed Friedrich 
feinen Büchern, nicht in feinem Zimmer. 
e nicht allein bleiben. In feiner Qual 
u Larfieny er war fchon zum Balle ge: 
Er fuchte den Doctor auf und fand ihn 
, ſich für denfelben Ball anzukleiden. 
en Helene wieder fehen, ihm allein, ihm, 
plöglich nach ihrem Anblid fchmachtete, 
er leidenfchaftlicher nach ihr verlangte, 
die Stunde rüdte, in der fie ihm für 
ntzogen werden follte, ihm allein war 
id verfagt. Eine aufreibende Unrube, 
beflemmende Angft kamen über ihn. Er 
ht, was er thun follte und wollte doch 
tmas thun, um diefer Angſt, um feinen 
ı und Schmerzen zu entfliehen. Zerftreut 
yirrt langte er bei feinen Eltern an, ohne 
igentlich vorgehabt hatte, fie zu befuchen. 
ter hatte vor einigen Tagen einen Rüd- 
en und lag. ſchwer darnieder. Aber felbft 
ı Keiden des Kranken, die Klagen der 


3666 


Mutter machten keinen Eindruck auf ihn, und 
mit der Todesmattigkeit des gehetzten Hirſches 
brach er zuſammen vor dem unentfliehbaren Feinde, 
vor jenem uͤbermaͤchtigen Schmerz, den nur tiefe, 
ſtarke Naturen in ſich zu erzeugen vermoͤgen. 

Er konnte ſeinen Zuſtand nicht verbergen und | 
ging nach feiner Wohnung. Es war neun Uhr. 
As die Wirthin ihm das Licht auf fein Zimmer 
brachte, gab fie ihm einen Brief, der für ihn 
vor zwei Stunden angefommen war. Er erfannte 
Helenens Handichrift. Mit bebender Haft riß er 
dad Couvert auf. Der Brief lautete: 

»Und gälte es meiner Seele Seligkeit, ich 
muß es fagen, Einem muß ich ed fagen, wie 
elend ich bin, und der Eine bift Du!« 

»Ich wußte nicht was ich that, ich Fannte 
mich felbft, ich Fannte das Elend nicht, als ich 
verfprach, Dich zu vergeflen, als ich verfprach, das 
Meib eined Mannes zu werden, der mir fremd 
ift, fremd bis tief in das innerfte Herz!« 

»Weißt Du mas das heißt, das Weib eines 
Mannes werden, den man nicht liebt? — Kein 
Mann, audh Du nicht, Fannft dies Entieben ver: 


LT 


367 





'e Qualen, diefe Selbftverachtung, diefe 
j alles Heiligften im Weibe!« 


zdeal wollte ich bleiben, es follte mich 
r als reined Bild der Liebe, der Ent: 
zufchweben — und ich bin mir felbft 
jeworden!« 


b mir! vergieb mir! ich wußte nidht, 
it!« — 


llte die Ehre unſeres Namens aufrecht 
h habe gelobt, die wahre Ehre heilig 
n, meinem Vater habe ich es gelobt, 
e der Weltmenſchen verachtet. — Und 
r Weltehre zu genügen, mich und meine 
mit nie zu verlöfchender Schmach be- 
Yahin hat mich der Wille meiner El— 
hat meine Schwäche mich gebradht!« — 
»hlte der Muth, Dein muͤhevolles Le— 
ilen, ich verfehmähte die reine Ruhe 
Herzen aus elender Feigheit. Jetzt 
1e, ewige Reue eingetaufht um Glanz 
Dich und mid), Dein Leben und das 
ich zerftört. Ich verachte mich felbft 


368 


und Du wirft mich verachten, verachten was Du 
einft geliebt haft!« 

»Es ift gefchehen! es ift Alles zu Ende — ‚ 

Der Brief brach plöglic ab. Friedrich fant- 
mit einem Schrei der Verzweiflung auf fein 2a 
ger nieder. Aber ſchon im naͤchſten Augenblide 
raffte er fi auf und flürzte auf Die Straße, dem 
Heidenbrud’fhen Haufe zu. 

Als er ed erreichte, fchallte ihm Muſik entge: 
gen aus den hellerleuchteten Fenſtern. Es waren 
tie Töne eined Walzerö, nach denen er oftmals Ä 
mit Helene getanzt hatte. Wie brennende Dold: 
ftihe bohrten fie fich in fein Gehirn. An den. 
Vorhaͤngen ſchwebten die Schatten der Tanzen 
den vorüber, Helene mochte unter ihnen fein. 
Bor der Thuͤre hielten die Equipagen der Gäfte. 
Er ftand ftille und fah fie in ftumpfem Hinbrü- 
ten an, fo daß er vor fich felbft erfchraf und den 
Platz verließ. 

Und doch zog esihn in ihre Nähe. Er wollte 
das Haus betreten, in dem fie jet zum letzten 
Male weilte. Er wollte fie fehen um jeden 
Preis. 


. —e 

Haus lag mit ſeiner Ruͤckſeite in einem 
der ſich bis zu dem großen Teiche 
‚ welcher die Stadt durchſchneidet und 
n Privat- und Öffentlichen Gärten ums 
ft. Nach einem der Lebteren wendete 
Schritte, eilte an das Ufer hinab, nahm 
t und ruderte über das Waſſer. 
Himmel war dunkel, die Nacht warm, 
ne fehimmerten aus dem Xeiche wieder, 
er fiel kuͤhltropfend von den fchlanten Ru- 
b. Die tiefe Stille, die Einfamteit, das 
sirkten beruhigend auf ihn ein. Es war 
; fei der legte Kampf vorüber und bie 
:mattung ded Todesſchlafs ihm nahe. 
das herabfinfende Ruder die dunkle 
rtheilte, fo oft 309 es. ihn, fich in ihre 
e zu verfenten, aber er hatte noch einen 
einen Zweck — er mußte Helene jehen. 
08 legte er dad Boot an der Xreppe 
zu dem Garten ihres Haufes führte. 
ne Gitter, das fie fchloß, war leicht über- 
Fr fchritt die dunkle Allee empor, an de= 
e der Lichtglan; der Fefterleuchtung 
gen. 1. 24 


370 


fchimmerte. Jetzt war er am Ziele — und doch 
wie fern von ihr. 

Was hatte er denn gewollt? Sollte er: ſie 
rufen laflen? Plöglich hineintreten? — Er lachte 
über ſich felbft mit bitterm Spotte, er ſchalt fich 
thöricht, finnlos, und ‚vermochte doch nicht von 
der Stätte zu weichen. Bald ftand er ftil und 
ſah nach den Fenftern hinauf, bald feßte er ſich 
nieder, um fo ängftlich auf das Fallen eines 
Blattes zu horchen, als erwarte er die Erſehnte. 
— Aber das Blatt lag am Boden, die Luft 
ſaͤuſelte leiſe durch die Zweige und Alles blieb 
ſtill, und er war einſam wie zuvor. 

Endlich erhob er ſich und ging dem Hauſe zu. 
Als er aus der großen Hauptallee in eine der vier 
Lauben bog, die im altfranzoͤſiſchen Geſchmacke aus 
glattgeſchornen Hainbuchen gebildet waren, glaubte 
er Schritte zu hoͤren. Er wich zuruͤck in den 
Schatten. Die Schritte naͤherten ſich. Ein Licht⸗ 
ſtrahl aus dem Hauſe fiel auf ein helles Gewand, 
eine leichte Figur trat in den Eingang der Laube. 

»Helene!« rief Friedrich mit unterdruͤck⸗ 
ter Stimme, und beide Arme wie zum Dank—⸗ 


371 


bet im Gefühle der Rettung erhebend, ftürzte 
ihm entgegen und warf fich an feine Bruſt. 
te fie bieher gekommen, wie fie fich gefunden, 
ewußten, fie fragten e8 fich nicht. Jener dunkle 
rieb hatte fie geleitet, der in entfcheidenden 
ugenbliden oft fo maͤchtig in uns wirft. 

Er preßte fie an fich, fie bing fi an ihn, 
[8 wollte fie ihn nimmer laflen. Das war nicht 
iehr die zagende Jungfrau. Es war ein Weib 
ı feiner vollen Zeidenfchaft, in einer Xeidenfchaft, 
ie der Juͤngling nicht gekannt hatte, und vor 
er er erbebte. 

»Und Du verachteft mich nicht?« fragte fie ihn. 

Nur feine Küffe antworteten ihr. 

»Kannft Du mich noch lieben?« fragte fie 
vieder. 

»Ich bete Dich an!« 

»So laß uns feheiden!« rief fie, und wollte 
ih feinem Arme entwinden, aber Friedrich hielt 
ie feft. 

»Ich muß fort!« flehte fie, und fchmiegte ſich 
oh an ihn, »laß mich, Friedrich! ich muß fort!« 

Aber er zog fie nur angftvoller an fein Herz. 

24* 


372 


Da hörten fie ein Geräufch dicht neben fih. S 
fuhren erfchredend empor. 

»So fei Gott und gnädig!« rief Friebri 
und brüdte einen letzten Kuß auf ihre Li 
pen. Sie riß fih von ihm los — der Dock 
ftand vor ihnen. Er hatte Helene in den Gartı 
gehen fehen, und Sorge um fie hatte ihn getriebe 
ihr zu folgen, ald man ihre Entfernung bemerkt 


»Kommen Sie, Helene!« fagte er mit milde: 
Tone, »der Graf vermißt Sie!« 


Er nahm ihren Arm, drüdte Friedrich d 
Hand, und führte die Gräfin in das Haus zuruͤ 


Zwoͤlf Stunden fpäter fuhr ein eleganter R 
fewagen dem Thore zu, dad gegen Süden fuͤh 
Eine bleiche junge Frau lehnte thraͤnenmuͤd 
den Kiffen an der Seite eines Mannes. 
der Chauſſee fahen fie einen Juͤngling einfan 
ner Straße geben. Als der Wagen fid 
näherte, wendete er den Kopf, feine Blid 
gen an der Gräfin, ihre kaum verfiegten 
nen firömten wieder hervor, und fie v 
das Gefiht. Der Wagen flog an ihm ı 


373 


»Kannteft Du den Menichen?« fragte ber 
Graf gleihmüthig. 

Die Gräfin antwortete nicht und er forfchte 
nicht weiter. Er ließ fie ruhig weinen, denn er 
hatte es oft erfahren, wie leicht die Jugend es 
überwindet, von der Deimath zu fcheiden. 


Einundzwanzigſtes Kapitel. 





Wenn das wilde Feuer ausgetobt hat, wenn 
die praſſelnden Flammen erloſchen ſind, deren 
Gluthen in ſturmgefachter Eile die Habe eines 
Menſchen verſchlangen, wenn Angſt und Hoff- 
nung, wenn die Moͤglichkeit der Huͤlfe und die 
durch ſie wach erhaltene Anſpannung der Seelen⸗ 
kraͤfte voruͤber ſind, dann iſt die Stille, welche 
dem Werke der Zerſtoͤrung folgt, noch grauen⸗ 
voller, noch herzzerreißender als felbft der Vernich⸗ 
tungskampf. Alles, was der Menfch befeflen hat, 
ift dahin. Was er geliebt, was er gejchaffen und 
gepflegt, die Stätte feiner Ruh, feiner Arbeit 
find nicht mehr. Kalte, graue Afche, zerbrödelnde 


375 


Trümmer liegen vor ihm, und er kommt fich fpuf- 
haft vor, weil er dasjenige überdauerte, was er fich 
gewöhnt hatte, als zu fich gehörend zu denken, 
als fein Eigenfied zu empfinden. Noch vor we- 
nig Stunden wäre er ſich beflagenöwerth erfchie- 
nen, hätte man ihm die Hälfte feines Beſitzes 
geraubt — und wie reich würde er fich duͤnken, 
fände er jebt unter den Truͤmmern nur dad Ge- 
tingfte wieder! Wie ängftlich fucht er, irgend ein 
Etwas zu entdeden, dad er hinüber tragen könnte 
in Die neue, ach, fo leere, arme Zukunft. ! 
Friedrich fühlte fich wie vor folcher Stätte der Zer⸗ 
ftörung. Die Geliebte war ihm entriffen, entriffen 
in der furdhtbarften Weife, von Selbftverachtung 
bedroht, hinausgefchleudert in eine ihm fremde 
Melt, die ihm jest feindlicher und verberbensvoller 
Duͤnkte, als je zuvor. Erich hatte die Stadt verlaffen, 
Und fich felbft glaubte Friedrich ‚verloren zu haben. 
Er kannte fi) nicht wieder. Ein wil- 
ded , verzehrendes Verlangen brannte in fei- 
nen Sinnen. Er begehrte nach Helenens Be: 
fit, nad dem Weibe eines Andern, und fie 
felbft, die er wie eine Heilige geliebt in reiner 


376 


Anbetung , hatte dieſe Gluth in feine Sinne, 
den verbrecherifhen Wunſch in feine Seele ge- 
fhleudert. Wie hätte er es ihr gedankt, waͤre 
fie ihm unnahbar geblieben, das leuchtende Ideal 
ſeines Lebens! Und doch liebte er fie mehr als 
jemalö, denn fie war ihm menſchlich näher getre⸗ 
ten, fie war ihm wnauflöslich verbunden durch 
dad Verbrechen geiftigen Ehebruchs, deſſen Schwere 
der gewiſſensſtrenge Süngling doppelt tief em- 
pfand. Brütend über feinem Schmerz, über 
einer Schuld, die er ſich nicht weg zu läugnen 
wußte und deren Unfreiwilligkeit anzuertennen er 
fih firaubte, zog er fich in fich felbft zuräd, 
um aus ben Zrümmern feiner Vergangenheit 
fich eine rettende Stüße zu fuchen. 

Er vermied ed, den Doctor zu fehen, oder 
Larffen und Georg zu begegnen. Er fcheute den 
Erftern, und fürchtete Helenend Namen von den 
Anderen zu hören... In ſolchen Krifen, in denen 
der Menſch irre wird an fich und feinem eigenen 
Werthe, treten die natürlichen Verhältniffe und 
Gefühle ald unfere Errstter auf. Dad Bewußt- 
fein, daß fein Leben feinen Eltern theuer, daß 


377 


ihnen nothwendig, und ihre Liebe auch dem 
rirrten unverloren fei, hielt ihn aufrecht. Der 
bante, Pflichten gegen fie zu haben, gab ihm 
th und Faſſung. Sich zur Pflichterfüllung 
eben, heißt ſich das Anker bereiten, das uns 
Sturm der 2eidenfchaften vor dem Unterge: 
bewahrt. 

Als wichen die Dämonen von ihm, fo erleichtert 
(te der Sohn ſich in der Nähe feiner Eltern. 
: Trennung, welde die WBerfchiedenheit ihrer 
ldung zwilchen en aufgethan hatte, ward 
t durch das gegenfeitige Beduͤrfniß, Liebe zu 
fangen und zu gewähren, auögefüllt: und die 
ner bedenflicher werdende Krankheit des Va⸗ 
; erflärte den Eltern die faft unausgeſetzte 
mwefenheit des Sohnes an dem Schmerzendla- 
bed Greifes. 

Obſchon der Doctor nicht ohne Hoffnung für 
e Herftellung war, glaubte der Meifter felbft 
en Tod nahe und fah ihm ruhig entgegen. 
it er es aufgegeben hatte, an die Ruͤckkehr zur 
yeit zu denken, war ed, als ob er fih zum 
en Male Ruhe günnte, ald ob er dieſe ge- 


378 


zrwungene .Ruhe genieße. Es war ein Behagen 
über feine Züge auögebreitet, wie ed der Arbei- 
ter in der wohlverdienten Raft des Feierabends 
empfindet, und mit Freude fah er den Sohn oder 
den Doctor an feinem Bette verweilen, fich in 
langen Unterhaltungen mit ihnen zu ergehen. 

In des Vaters Krankenftube hatte der Doc⸗ 
tor Friedrih zum erſten Male nah dem Ab⸗ 
ſchiede von der Gräfin wiedergefehen, und war 
betroffen worden durch das veränderte Aeußere 
de8 jungen Manned. SeingStirne war bleicher 
geworden, ein fehwermüthiger Ernft hatte fich 
um Mund und Augen gelagert, wenige Tage 
ihn um Sahre reifer und älter werben laffen. 

Als der Doctor fich entfernte, nöthigte er 
Friedrich ihn zu begleiten, und fragte ihn, wes⸗ 
halb er ihn fo lange vermieden habe? 

»Sie wiſſen ed!« antwortete ihm derfelbe. 
»Anderen unfere Gefellfchaft aufzudringen, wenn 
wir und felbft zur Laſt find, ift fo Demüthigend!« 

»Im Gegentheile, lieber Freund! Es liegt 
ein großer Egoidmus darin, feine Schmerzen 
allein tragen zu wollen aus falfchem. Hochmuth. 


379 


Ber die rechte Liebe zu den Menichen, das rechte 
3ertrauen zur Gutartigkeit ihrer Natur hat, dem 
jiderfirebt es nicht, fich mitzutheilen und Mitge- 
ihl zu fordern,« fagte der Doctor. »Zu dem 
Spruche ihres Heilandes: Was Du nicht willſt, 
ad Dir die Anderen thun, dad thue ihnen aud 
icht, gehörte von Rechtd wegen der Nachſatz: und 
08 Du Dich fähig hältft den Anderen zu leiften, 
ad fordere von ihnen und nimm von ihnen 
hne Rüdhalt und Bedenken an!« 


»Ich würde das auch thun — aber Sie kön: 
im mir nicht helfen!« 


»&8 Fame darauf an!« meinte der Doctor. 


»Ich bin mit mir zerfallen!. fagte Friedrich 
epreßt. »Der Boden, auf dem ich fland, hat un- 
er mir gewankt. Die Elemente meines bis- 
erigen Lebens und Glaubens beginnen aufge- 
ft und haltlos um mich herum zu wirbeln. 
Bas ich ald Verbrechen tadeln müßte, fühle ich 
ls unfreiwillige Schuld, ald ein Werk des Zu: 
3, eines Zufalls, vor dem id) irre werde an 
r Vorſehung. Wohin aber fommen wir, wenn 


380 


wir unfere Handlungen nicht mehr ald freies 
Thun erfennen?« 

»Zunaͤchſt zu der Frage: was ift Schuld?« 
erlärte der Doctor, »und nah ihr zu dem 
Schluffe, daß dasjenige, was wir bei ernfter Prü- 
fung nicht als Schuld empfinden, feine Schuld 
für ung iſt.« 

»Aber ed giebt eine pofitive Schuld, eine po⸗ 
fitive Sünde!« behauptete Friedrich. 

»Pofitiv ?« wiederholte der Doctor. »Vie— 
lee, was man Schuld, Sünde, Verbre⸗ 
chen nennt, ift ein Widerfprud gegen die Ord⸗ 
nung der Dinge, welche eine auf falfchen Grund- 
fäßen fußende Weltanfchauung erzeugt bat, und 
welche die Ausgeburten diefer falfchen Weltan- 
ſchauung, die richtende Kirche und der abfolute 
Staat, zu ihrer eigenen Erhaltung fortdauernd 
als Verbrechen darzuftellen fich gezwungen fehen.« 

»Das Gewiflen des Menfchen flimmt ihnen 
aber beil« wendete der Juͤngling ihm ein. 

»Weil die Erziehung die Gewiſſen nach vie- 
len Seiten hina bfichtlich mit falfchen Grundfägen 
mißleitet hat. Es ift bequemer, das Gewiflen der 


381 


Menfchen über ihr angeborned Recht zu vermwir- 
ren, ald den Staat und feine falfchen Einrichtun- 
gen fo zu entwirren, Daß das angeborne Recht 
des Menfchen in ihm feine Geltung findet!« 

Der junge Mann antwortete ihm nicht. Der 
Doctor fand das in der Ordnung. Er fchritt ru⸗ 
big neben ihm ber. Erft als fie auf den Punkt ge- 
kommen waren, auf dem ihre Wege fich trennten, 
lagte er: »Das Eine übrigens halten Sie feft, 
en Schwerbeladener kann ſich und Anderen Nichts 
näben. Wollen Sie wirken, fo ftreben Sie nad) 
jener Erkenntniß, die den Menfchen einfest in fein 
Recht und ihm das ewige Schuldbewußtfein eines 
gegen unvernünftige Geſetze fich empörenden Skla⸗ 
ven nimmt. Kein Sklave, kein Schuldbewußter 
bat je Großes geleiftet — und Chriftus, duͤnkt 
mich, nahm alle Schuld der Menfchheit nur da⸗ 
rum über fich, damit fie fich frei fühle, fich zu 
Thaten aufzurichten !« 

Diefe legten Worte überrafchten Friedrich. Sie 
leuchteten ihm ein, weil fie feinem Bebürfniffe 
entgegenkamen. Man könnte den Menfchen meift 
Vie Wahrheit fchnell und ficher zugänglich machen, 


382 


‚wüßte man ſtets den Augenblid zu finden, in 
dem fie auf diefelbe durch eine innere Nothwen⸗ 
digfeit hingewiefen werden. Zum erften Male fchraf 
der Juͤngling nicht vor den ffeptifchen Anfichten: 
des Doctors zurüd, fondern begann weiter auszu⸗ 
denken und in ſich zu entwideln, was Sener in 
ihm angeregt hatte. Zum erften Male gab er 
es fich zu, daß neben: der orthodor= dogmatifchen 
Auffaflung des Chriftenthbumes eine andere Deu- 
tung, eine menſchlich fombolifche zuläffig fein 
tönne, ja Daß gerade diefe unter Berhältniffen 
höheren Troſt, größere Ermuthigung zu geben 
vermöge, ald jene. Es dämmerte in ihm auf, 
daß ed Erhebung und nicht Zerknirſchung fei, 
was eine erlöfende Religion dem Menfchen bie- 
ten müffe, um fruchtbar zu werben. Er hatte 
bisher fich audfchlieglich die Studien und For- 
fhungen Anderer auf dem Gebiete der Xheologie 
zu eigen zu machen geftrebt, jetzt kam ihm ber 
Gedanke der Selbftprüfung und der Quellen- 
ſtudien. 

Mit neuem Eifer wendete er fi) dem He⸗— 
bräifchen und den alten Sprachen zu, und Die 


383 


— — — 


erſuchungen über die Gnoſtiker brachten ihn 
Alterthume, den alten Philofophen näher. 
- Genußfreudigkeit, der Schönheitsfinn der 
echen erquicdten ihn. Sie machten ihn begierig, 
Kunft verfiehen zu lernen, in ber die ganze 
ensfuͤlle jener Zeit und jenes Volkes zur Blüthe 
ymmen war, und die geiftligen Elemente ber: 
zufinden, an welche fpäter ſich als ihre Fort: 
vidlung Das Chriſtenthum anſchloß. Aber 
t dem Gedanken an eine ſolche Folgerechtig⸗ 
t der Erkenntniß war er im Grunde ſchon der 
suptlehre ded Chriftenthums, der Lehre von der 
ttlichen Offenbarung, zu nahe getreten, ohne 
5 er fich deſſen bewußt ward, und er wäre 
Neicht fchnell auf dem begonnenen Wege fort: 
hritten, hätte nicht die wachſende Beforgniß 
ı Seinen Vater ihn mehr und mehr beanfprucht 
d feine Studien unterbrochen. 

Denn des Meifterd Empfinden hatte ihn nicht 
aufcht, fein Leben näherte fi) dem Ende, und 
felbft war es, der die troftlofe Frau mit dem 
danfen an ihre Vereinfamung auszufühnen 
'bte. j 





384 


Eines Abends, ald Mutter und Sohn an fei- 
nem Lager faßen, hatte der Vater Fieber gehabt, 
und in der beängftigenden Unruhe deffelben bald 
diefes, bald jenes gefordert, fich heftig beflagend, 
daß man ed ihm nicht recht zu machen wifle. 
Dann war er eingefchlafen, und ruhiger erwacht, 
fah er die Seinen freundlidy an und fagte: »Wie 
ih fo einfchlief, war mir's ordentlich lieb, daß 
ih Euch nicht mehr zu quälen brauchte. Du, 
Mutter, wirft es brauchen koͤnnen, daß ich Dich 
in Rube laffe!« 

»Menn Du nur erft gefund wärft!« ſeufzte 
die Meifterin, putzte dad Licht, um an der 
dunklen wollenen Sade fortzuftriden, die ihn warm 
halten follte, wenn er aufftand, und fügte hinzu: 
»Das Licht brennt auch fo elend, ed will mit 
meinen Augen nicht mehr fort. Vor'm Jahre 
hatte ich noch Regine, wenn mir eine Mafche 
hinfiel. Nun muß ich fehen, wie ich mit ber 
Brille fertig werde!« 

»Ich habe oft an die Regine gedacht,« fagte 
der Meifter, »wenn ich fo ftil lag dieſe letzten 
Tage. Es ift fehade, daß fie fort find. Ihr hät: 


385 


tet zufammenziehen können, das wäre billig ge- 
wein, und der Alte war gut zu leiden, man 
fonnte gut durchfommen mit ihm.« 

»Er ift auch viel krank geweſen, fchrieb er 
ia zulekt dem Fritz!« 

»Um fo beffer koͤnnt' er Dich gebrauchen, denn 
Dir wirb’8 fehlen, wenn Di Niemand pladt, 
wie ich.« 

»Du wirft noch fo lange vom Sterben reden,« 
fagte die Mutter, »bis —« 

»Bis ich fterbe!« fiel ihr der Water in’s 
Wort. »Aber fo feid ihr Weiber! Vom Win- 
ter, der fommen fol, und von Allem, was noth 
ift für den Winter, da koͤnnt ihr den ganzen 
Sommer reden und euch darum forgen und Ei- 
nen darum plagen, und vom Tode, der ebenfo 
gewiß kommt und der feine Sorgen hat fo gut 
wie der Winter, davon mögt ihr Nichts hören, 
wenn er noch fo Dicht vor eurer Thuͤr fißt. Und 
der Tod geht nicht vorbei wie fo ein Winter.« 

Die Mutter war aufgeflanden und hinausge- 
gangen, fich in der Küche auszumeinen. Der Mei: 
fter fah ihr nad und fagte dann zu Friedrich: 

Bandlungen I. 25 


886 


»Wenn ich's ihr nicht vorhalte von früh bis ſpaͤt, 
fo ift nachher Fein Ausfommen mit ihr. Du 
wirft fie aber nicht verlaflen!« 

Friedrich reichte ihm die Hand und bat, er 
möge fih für den Fall feined Todes um ber 
Mutter Schickſal Feine Sorge machen. 

»Ich thue ed auch nicht, aber ich weiß doch 
nicht, wie es werben fol. Nähen Bann fie nicht mehr 
viel, auf Arbeit gehen und ſich heut da, morgen 
dort von Fremden chifaniren laſſen — das würd’ 
ihr hart anfommen!« — 

»Es fol ihr an Nichts fehlen, Water! ver: 
laffen Sie ſich darauf,« verficherte der Sohn. 

»Nichts fehlen? Arbeit muß fie doch finden, 
was fol fie denn fonft? Sol fie fißen und ſich 
drum haben, daß ich tobt bin? Sie muß es 
doch verarbeiten und vergeffen, wenn fie auch 
denkt, daß man fich wiederfieht!« 

»Und glauben Sie das nicht?« fragte Friedrich. 

»Narr!« antwortete der Alte, und zudte mit 
den Achfeln. 

»Sie glauben nicht < an die Unfterblichkeit un- 
ferer Seele, Bater?« wiederholte Friedrih im 


Tone eines ſchmerzlichen Erfchredend, „nicht an 
unfere Fortdauer nach dem Tode ?« 

»Fritz!« fagte Der Meifter, und verfuchte ſich muͤh⸗ 
am aufzurichten, »fpiel nicht Comoͤdie mit mir, 
wie die Pfaffen auf der Kanzel Dazu hab’ ich Dich 
nicht fludiren laflen, daß Du es machſt wie fie!« 

»So wahr Gott lebt, ich glaube an unfere 
Unfterblichkeit!« 

»Schlimm genug für Dich!« meinte der Alte, 
und legte ſich auf die Seite zurüd, dad Geficht 
gegen die Wand gewendet. 

Friedrich war bis in dad Innerfte erfchüttert. 
Was in ihm ald heilige Ueberzeugung lebte, was 
ihm eine Richtfehnur, eine Stüße gewelen war 
im Leben, was ihn trüftete am ÖSterbebette fei- 
ned Vaters, von diefem mit kaltem Spotte ver- 
worfen zu fehen, gerade jebt, wo der Greid vom 
Leben fcheiden, und die Hoffnung auf ein Wie: 
derfehen im Jenſeits die ficher verbindende Brüde 
zwijchen den Lebenden und Todten bilden follte, 
zerriß ihm das Herz. Es zog ihn, feinen gan 
zen Glauben audzufprechen, aber der Doctor hatte 
ed verboten, den Kranken irgend wie aufzuregen, 


388 


und Friedrich mußte alles in fich gewaltfam zuruͤck⸗ 
drängen, was ihn bewegte und beängftigte. 


Der Meifter lag ruhig da, ald die Mutter 
wieder Fam. Sie brachte die Wafferfuppe, welche 
fein und der Seinen Abendbrod ausmadıte. Als 
fie gegeflen hatten und das Geräth fortgeräumt 
war, meinte die Mutter, Friedrich koͤnne ihnen 
wohl einmal Etwas aus dem Gefangbuche vor- 
lefen, wie er es in früheren Jahren oft gethan. 
Er lehnte. es ab, aber der Vater felbft fagte ihm: 

»Ja! Lied Doch, Friß!« 

Er hörte den on der Gleichgültigkeit in 
den Worten, mochte aber nicht widerfprechen. 
»Was ſoll ich lefen?« fragte er. 

»Laß die Mutter ausfuchen!« 

Sie nahm das Buch, blätterte, wählte ein 

-  Auferftehungslied und legte ed dann vor Frie- 
drich nieder. Er hatte es ihr ald Kind oftmals 
vorlefen müffen, ed war von je ihr Lieblingslieb 
gewefen und aud das feinige geworden. Es 
hatte der fterbenden Frau Reyne Erhebung ge 
währt, und noch in ihren legten Augenbliden hatte 


N 


389 


fie es leife vor ſich hingefprochen. So bewegte 
ihn auch jeßt wieder dad alte Klopftod’fche 
Gedicht: 


Auferſtehn, ja auferſtehn wirſt du 
Mein Staub nach kurzer Ruh'; 
Unſterblich Leben 
Wird, der Dich ſchuf, Dir geben! Halleluja! 
Aufzublühn werd' ich geſaͤet. 
Der Herr der Ernte geht 
Und ſammelt Garben 
Uns ein, uns ein, die ſtarben. Halleluja! 
Tag des Danke, der Freudenthraͤnen Tag 
Du meines Gottes Tag! 
Wenn id im Grabe 
Genug geſchlummert habe, 
Erweckſt Du mid! Halleluja! 
Mie den Träumenden wird’s dann une fein. 
Mit Jeſu gehn wir ein 
Su feinen Freuden; 
Der müden Pilger Leiden 
Sind dann nit mehr. Halleluja ! 
Ad, in’s Allerheiligite 
Führt mich mein Mittler, 
Dann leb' ih im Heiligthume 
Zu feines Namens Ruhme. Halleluja! 


Aber je weiter er lad, je mehr ihn der Gedanke 
ergriff, dieſen Auferftehungstroft am Sterbebette 


390 


feines Vaters zu fprehen, um fo marternder 
ward ihm das Bemwußtfein, daß fein Vater fei- 
nen Troſt in dieſem Liebe finde, daß er gering- 
ſchaͤtzend auf ihn und die Mutter herabfehe, die 
daraus Beruhigung fehöpften, daß er ihnen bie 
Erbauung gönnte, wie man dem Kinde die Luft 
an feinen Spielen gönnt, welche ihren Werth für 
und verloren haben. Es fchnürte ihm den Hals 
zu, er hätte weinen können, wäre fein Empfin- 
den nicht zu mächtig gewefen für die Thraͤne. 
Die Mutter aber. weinte ftil vor fich hin, und 
der Meifter lag ruhig da und ganz unbewegt. 
Als das Lied beendet war, ftand Friedrich auf, 
und bot den Eltern gute Nacht, er mußte mit 
fih allein fein. Jene geheimnißvollen Fragen, 
vor denen der Glaube fich befcheidet, und die er 
fi) gewöhnt hatte, ald durch die Offenbarung 
gelöft zu betrachten, drängten fich ihm mit AU- 
gewalt auf. Der fcharfe prüfende Verſtand des 
Doctord, des Vaters fehlichter Sinn verwar: 
fen den Glauben, fie hatten Beide gezweifelt, 
Beide den Zweifel überwunden, ohne zum Glau⸗ 
ben zurüdzufehren, und Beide waren ruhig in 


u 


391 


gefaßte Männer, jeder in feiner Art. Barum 
uderte ihn denn, dieſen Glauben aufzugeben ? 
rum mochte er dem Zweifel nicht in's Auge 
n? Er konnte es fich nicht verbergen, ihm 
te der Muth dazu, ihm fehlte die Feſtigkeit, 
che ohne alle Stuͤtze in fich felbft zu beruhen 
nag. Er fah ed ein, daß der Glaube eine 
rlaͤßliche Stübe für den Schwachen fei, er 
te gewünfcht, ihn entbehren zu koͤnnen, aber 
tonnte ed nicht. Er fühlte fich gebrungen 
: dem Empfinden feft zu halten, was fein Ver⸗ 
ıd zu bezweifeln begonnen hatte. 

Fruͤh am andern Morgen war fein erfter 
ng fich nach dem Vater zu erkundigen. Es 
r ein Sonntag. Die Gloden läuteten zur 
sche, die Straße war feiertäglih ftil. Ein 
red Herbftimorgenliht ſchien in die Senfter 
ein, die Mutter hatte das Zimmer aufgeräumt, 
gut ed geben wollte, und der Meifter, der 
e unruhige Nacht gehabt, hatte fi am Mor- 
; umbetten lafien. Darnad hatte er Ruhe 
unden und ein Paar Stunden gefchlafen. 

Als Friedrich eintrat, erwiederte er auf deſſen 


392 


Frage um fein Befinden, es gehe ihm beffer als 
feit langer Zeit. »Mir thut Nichts weh!« fagte 
er, »und fo ift der Menſch! nun ich Woch' über 
Nichts mehr arbeite, will ich doch noch meinen 
Sonntag haben. Ich hab mich wachen und rein 
anziehen laffen, und wenn Du bier bleiben kannſt, 
fol die Mutter in die Kirche gehen. Sie hat 
all/die Zeit darnach gejammert !« 

Der Sohn erklärte fich bereit, deö Vaters zu 
warten. Die Mutter ließ fich nöthigen, feßte aber 
endlich doch die gute Haube auf, nahm ihr gu- 
ted Tuch um, widelte das Taſchentuch um das ab- 
gegriffene Gefangbuch ımd machte fich auf den Weg. 

»Bleib’ nur ruhig bis zum Aufbieten und 
Abdanken,« rief der Vater ihr nach, »ich brauche 
Dich nicht !« Denn zu wiffen, wer fich verheirathete, 
wer Frank und des Gebete bebürftig fei, hatt 
immer zu ben fpärlichen Genüffen der Meifteri 
gehört. 

Als fie fortgegangen war und der Meift 
fi mit dem Sohne allein fand, fagte er: »S 
hab’ fie fortgefchicdt, denn ih muß mit Dir 
den, Fritz! heut geht's mit mir zu Endel« 


393 


» fehr er darauf gefaßt fein mußte, ers 
: der Sohn vor diefem Ausfpruch, und fich 
roͤſtend, erinnerte er den Vater daran, daß 
ſich wohler und Eräftiger fühle, als feit 
Zeit. 
jerade darum!« antwortete der Kranke. 
hab’ ed oft erlebt an Anderen, zuletzt 
Ruh.« 
e vollkommene Faſſung, mit der er von 
Aufloͤſung ſprach, hatte etwas Ueberwaͤlti⸗ 
. Friedrich vermochte den Gedanken nicht 
en, daß diefe felbftbewußte Kraft nun plöß- 
loͤſchen, noch weniger, daß fie für immer 
n bleiben follte mit dem Zode. Es war 
18 müffe auch er fterben, wenn der Vater 
d, dem er fein Leben dankte, — welken 
'e Blätter, wenn der Stamm gefällt wird. 
der Meifter ließ ihm nicht Zeit zu feinem 
neen und Empfinden. 
8 ift mir geftern fchwer auf's Herz ge⸗ 
< fagte er, »wie Du gefprochen haft vom 
Leben und vom Senfeitd nad) dem Tode. 
Nichtd damit. Ich hab’ ed auch geglaubt, 


394 


vor langen Jahren, wie ich jung war, aber es 
iſt Nichts damit!“« 


»Ein Troſt im Sterben iſt es jedenfalls!« 
rief Friedrich — »und der Tod iſt — —« 

»Mir gar nicht ſchwer!« unterbrach ihn der Alte. 
»Ich hab mein Theil gethan, Du kannſt Dir ſelber 
helfen und der Mutter auch, muͤd' bin ich, ob 
ich da ein Paar Jahre laͤnger eſſe und trinke, 
iſt mir gleich! In der Jugend da mag's an- 
ders fein!« 


Er hielt inne, fuhr aber nad) kurzer Zeit zu 
reden fort. »Sie vertröften unfer Einen auf das 
andere Leben, das ift billig, und wir haben es 
zu unferm Schaden lang genug geglaubt. Das 
folteft Du ihnen fagen, dazu wollt’ ich Di) zum 
Prediger machen, zum Prediger für die armen 
Leute. Pfaffen, die da fagen: »hungert und dul- 
det gelaffen, ed kommt dort befler,« die haben 
wir genug! Aber ed kommt Nichtd und Nir- 
gende was befler von felbft, und fie find Narren, 
die ſich's weiß machen lafjen.« 


»Wie haben Sie Ihr mühfelig’ Leben ertra- 


| 385 


gen, Vater? wie haben Sie ed ausgehalten ohne 
den Glauben an eine Vergeltung Gotted?« 

»Was ift da zu vergelten? ich hatte den Pro- 
ft davon, wenn ich meine Schuldigfeit that, 
und that ich's einmal nicht, fo kam mir's bald 
zu Haufe!« 

Jedes Wort ded Waterd that dem Sohne 
weh, und Doch mußte er ihn bewundern, wie er 
da lag in feiner vollen Klarheit. Endlich glaubte 
Sriebrich zu bemerken, daß des Kranken Stimme 
almählich fehwächer werde. Er ſchien fi) au 
angegriffen zu fühlen, denn er fchwieg meift und 
bielt Die Augen gefchloffen. Als er fie nach einer 
Biertelftunde wieder Öffnete, glaubte er lange 

ſchlafen zu haben, und verwunderte fich, daß 
I noch Tag fei. Dennoch fam er von felbft 
ieder auf die frühere Unterredung zurüd. 

»Wenn der Wurm das alte Holz zu Staub 
rfreffen hat,« fagte er, »bringt's feine Macht 
sehr zufammen. Sind wir was Andered, wenn 
ir Staub find? Glaub’ doch fo was nicht!« 

„Vater!« rief Friedrich, feiner nicht mächtig, 
baben Sie denn Feine Sehnfucht fortzudauern? 


386 


»Menn ich’ ihr nicht vorhalte von früh bis fpät, 
fo ift nachher Fein Auskommen mit ihr. Du 
wirft fie aber nicht verlaffen!« 

Friedrich reichte ihm die Hand und bat, er 
möge fih für den Fall feined Todes um ber 
Mutter Schidfal Feine Sorge machen. 

»Ich thue ed auch nicht, aber ich weiß doch 
nicht, wie ed werden foll. Nähen ann fie nicht mehr 
viel, auf Arbeit gehen und fi) heut da, morgen 
dort von Fremden chitaniren laſſen — das würd’ 
ihr hart anfommen!« — 

»Es fol ihr an Nichts fehlen, Vater! ver- 
laffen Sie fi) darauf,« verficherte der Sohn. 

»Nichtd fehlen? Arbeit muß fie doch finden, 
was fol fie denn fonft? Sol fie fißen und fi 
drum haben, daß ich tobt bin? Sie muß & 
doc verarbeiten und vergefien, wenn fie aud 
denkt, daß man fich wieberfieht!« 

»Und glauben Sie das nicht ?« fragte Friedrich. 

»Narr!« antwortete der Alte, und zudte mit 
den Achfeln. 

»Sie glauben nicht an die UnfterblichEeit un 
ferer Seele, Bater?« wiederholte Friedrih i 


387 


———— 0. 


ne eined fchmerzlichen Erfchredend, »nicht an 
jere Fortdauer nach dem Tode?« 
»Fritz!« fagte der Meifter, und verfuchte ſich muͤh⸗ 
ı aufzurichten, »fpiel’ nicht Comoͤdie mit mir, 
: bie Pfaffen auf der Kanzel Dazu hab’ ih Dich 
’t fludiren laffen, daß Du es machſt wie ſie!« 
»So wahr Gott lebt, ich glaube an unfere 
terblichkeit!« 
»Schlimm genug für Dich!« meinte der Alte, 
) legte fich auf die Seite zurüd, das Geficht 
en die Wand gewendet. 
Friedrich war bis in das Innerfte erfchüttert. 
8 in ihm alö heilige Ueberzeugung lebte, was - 
; eine Richtfchnur, eine Stuͤtze geweſen war 
Leben, was ihn tröftete am Sterbebette fei- 
Vaters, von diefem mit altem Spotte ver- 
fen zu fehen, gerade jebt, wo ber Greid vom 
en fcheiden, und die Hoffnung auf ein Wie⸗ 
ehen im Senfeits die ficher verbindende Brüde 
hen den Lebenden und Todten bilden follte, 
iß ihm das Herz Es zog ihn, feinen gan⸗ 
Glauben auszufprechen, aber der Doctor hatte 
verboten, den Kranken irgend wie aufzuregen, 


398 


werben ?« dachte fi. Es fielen ihr lauter Aeußer= 
lichkeiten, lauter Kleinigkeiten ein, weil fie dem 

großen Gedanken der Vernichtung ihres Mannes, 
dem Schmerz über ihre Verlaſſenheit nicht in’ 

Auge zu fehen vermochte. Kleine Naturen wer- 

den darum von Leiden fo zerfchmettert, weil fie 

ihnen immer unerwartet, unbegriffen kommen, 

mögen fie noch fo lange und fo nahe über ihrem 

Horizont geftanden haben. Ihre Herzensangft 

. wurde immer größer, fie hielt es nicht aus, fo 

wartend da zu fiben. Sie mußte etwas zu thun 

haben. Mit der einen Hand faßte fie des Soh—⸗ 

ned Linfe, die andere legte fie leife auf des 

Mannes Stirne. Inſtinktmaͤßig hatte fie nad 

einer Stüge gegriffen, fih zu halten, hätte fie 

die Stirne Falt gefunden. 

Unter diefer Berührung ſchlug der Vater bie 
Augen auf. Er hatte nicht gefchlafen, nur er: 
ſchoͤpft geruht. Mit ftiler Freundlichkeit reichte 
er Frau und Sohn die matten Hände. »So 
lang Ihr an mich denkt, fo lang bin ich unfterb- 
lich!« fprach er und ein mildes Lächeln, wie bie 
Seinen es nie an ihm gefehen hatten, glitt über 


399 





ige. Dann legte er fich wieder in bie 
urüd. 
> Stunde verging nach der andern, er 
ich; aber er bewegte fich nicht mehr. Um 
fam der Doctor. Er faß lange an dem 
ald er fortging fagte er: »Das wird ein 
od nach fchwerem Leben. Er hat ihn 
l« 

ed ſechs Uhr war und der Tag fid 
athmete der Greis dreimal tief auf, der 
ng ganz befonders. Sie bebten zufammen, 
fich über ihn, — eö war ftill geworden in 
ft. Weinend fielen die Weberlebenden fich 
Irme. 


— — — — — — — — 


i Tage darauf trugen ſie den Meiſter 
ı fchönften Sonnenſchein zur Ruhe Er 
h vor langen Jahren fchon felbft den Sarg 
rt, in dem er begraben werden wollte, 
be hatte Friedrich ihn in der Bodenfam- 
yen fehen. Der Meifter hatte fi Alles 
danken wollen. Die übrige Begräbniß- 


400 


Ausſtattung ward von der Beerdigungskaſſe be⸗ 
ſtritten, zu der Friedrich ſeit Jahren auf der 
Mutter Wunſch die Beitraͤge gezahlt hatte. Es 
fehlte Nichts. Sie hatte ein neues ſchwarzes 
Kleid und eine ſchwarze Haube, das Begraͤbniß 
war anſehnlich, des Predigers Rede von der 
Auferſtehung ſehr erbaulich fuͤr ihr glaͤubiges 
Gemuͤth. 

Den Nachbarn, die zum Gefolge eingeladen 
waren, hatten ſich der Doctor, Larſſen und Georg 
freiwillig angeſchloſſen. Des Lieutenants volle 
Uniform war der Mutter Stolz und Troſt. Auch) 
die Nachbarn meinten: »Schade, daß der Meifter 
die Ehre von den drei Herren nicht erlebt hat!« 

Als Friedrih am Mittage in feine Wohnung 
kam, war ihm als fei er jetzt ganz allein in der 
Welt. Er hatte Alles verloren: die Geliebte, 
den Vater und die Zuverficht in feinen Glauben. 


8 andlungen. 


. 
— — — — — 


—— Tan ar 


andlungen. 


von 


Fanny Lewald. 


In vier Bänden. 


Zweiter Band. 


Braunſchweig, 
k und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 


1853. 


Erftes Kapitel, 


— — —— 


Noch war kein Jahr verfloſſen, ſeit die beiden 
ten Kinder des Barons aus dem Vaterhauſe 
ieden waren, ald auch in dieſem ber Tod fein 
r gefordert hatte, Die Baronin war nad) 
m SKranfenlager geftorben, und das fonft fo 
te, gaftliche Bamilienleben dadurch für immer 
rt worden. Bei der Unterordnung, in welcher 
Baron felbft die von ihm innig geliebte Gat⸗ 
u halten gewohnt geweien war, hatte er nie 
et, welch fegensreichen Einfluß fie auf ihn 
reuͤbt, wie nöthig ihm ihre Milde gewefen, 
vie Starrheit feiner Grundfäge mit den An⸗ 


ber und Borderungen des Lebend zu vers 
WR. Dlungen. II. 1 





2 





— — 


mitteln. Jetzt, da ſie ihm entzogen war, empfand 
er es um ſo tiefer, je mehr die Wendung, welche 
die oͤffentlichen Zuſtaͤnde in Europa genommen 
hatten, ſeinen Ueberzeugungen widerſprach. 

Den franzöfifchen Julitagen waren die Revo 
Intion in Belgien und die Erhebung in Polen | 
gefolgt, ganz Süpdeutfchland befand ſich in leb⸗ 
hafter GAhrung, das Hambacher Feſt hatte es 
dargethan, wie verbreitet der Wunſch nad) einer 
ftändifchen Vertretung, wie weit er eingedrungen 
fei in bie arbeitenden Volksklaſſen. Die Namen 
Börne’d, Siebenpfeifer's, Wirth’d waren in je 
den Munde und der Unparteiifche konnte es fih 
nicht verbergen, daß «8 in Hambach nur an mt 
fchlofjenen Führern gefehlt habe, um die dort ver . 
fammelten Maffen zu einem Unternehmen für bie 
Befreiung Deutſchlands von der abfoluten Herr⸗ 
Schaft zu bewegen. Auch in der Literatur gab 
fi) eine neue frifhe Richtung Fund. Boͤrne, 
Heine, Wienbarg ftachelten jeder auf feine Weile 
das erwachte Bewußtfein ded Volfes zur Empfindung 
feiner Knechtfchaft auf, andere Talente trugen ben 
Gedanfen der Freiheit in die gefellfchaftlichen und in 


3 


Verhaͤltniß ber Gefchlechter zu einander über, 
forderten, wenn auch oft in mißverftandener 
fe, die Wiebereinfegung des Menfchen in 
ı freieren Genuß ber Erbenfreuden. 
Man wollte nicht mehr entbehren und ent- 
ı, man wollte befiten und bed Beſtitzes froh 
en, man war ed müde, in mülfigem Welt 
erz darüber zu Flagen, daß die Wirklichkeit 
Ideale Hohn fprah, man wollte fie ibealis 
geftalten, aber man hatte fein allgemeines, 
fittlihes Ideal, und Jeder verfuchte fich feine 
len oder Xeidenfchaften zum Ideale zu erheben, 
Literatur der Selbftbeipiegelung und mit ihr 
Selbftverfchönerung begann. Neben ber tiefs 
und reinften Poeſie machte der Cynismus ſich 
felerregender Weife breit und verlangte Anbe- 
vom Volke, weil er individuell und dag 
ber Individualität nicht länger zu beftreiten 
Tagebücher, Reifefkizzen und eine große An- 
Yhantaftifcher Productionen überrafchten und 
rrten dad Publikum, feffelten die Einen 
fend und zur Nachahmung reizend, fließen 
‚nberen eben fo lebhaft ab, und wie immer 
* 


6 
baren memento mori, war ganz dazu gemadt, 
ernfte Gemüther grade im Gegenfage zu der neuen 
Schule der Genußfordernden in eine dem Genuß 
entfagende Richtung zu treiben. 

Das war Eorneliend Fall gewefen. Der 
Tod der Baronin hatte ihr plöglich eine neue Stel: 
lung, neue Verpflichtungen gegeben, und das Beſtre⸗ 
ben, dem Water die treue Gefährtin zu erfegen, fie das 
hin gebracht, dem Verkehr mit ihren Alterögenofien 
faft gänzlich zu entfagen. Die Bälle und andere der 
artigen Xuftbarfeiten waren in ihrem Vaterhauſe 
meift um Helenens willen veranftaltet worden, ihre 
Entfernung und das bald darauf folgende Trauer: 
jahr hatten ihnen ein Ende gemacht, und da Cor⸗ 
nelie feinen Werth darauf legte, hatte man aud) 
nad) dem Ablaufe der Trauerzeit die zur Gewohn- 
heit gewordene ftillere Lebensweiſe beibehalten. 

Der Stimmung des Barond gereichte bad 
nicht zum Vortheil. Er vermied ed, zu feinem 
fleinen Kreife Berfonen zuzulaffen, welche nicht 
feine Anfichten theilten, und konnte bald nicht 
mehr den leifeften Widerftand gegen diefelben oder 
bad freie Ausfprechen einer abweichenden Mei 


5 


9 oder in Askeſe. Mochten Menfchen 
arfien fi) auch behaglich dehnen in ber 
onne dieſer falfchen Aufklärung, mochte der 
des Lieutenantd Alles mit Leidenfchaft er- 
, was ſich gegen bie beftehende Ordnung 
, fo ſchuf es in foldhen Naturen doch nichts 
‚» Wo aber Jugend und Unfchuld mit die 
hren in Berührung kamen, da entftand 
ns ein Raufch, von dem der Emft des Le⸗ 
fie bald wieder ernüchterte und zur Beſin⸗ 
brachte. 
ben dieſen zum Lebensgenuſſe ladenden 
aten, mahnte aber jene Zeit auch vielfach 
t Ernft des Daſeins und an die Vergaͤng⸗ 
des Irdiſchen. Das Schidjal der zum 
ı Male geftürzten franzöfifchen Dynaftie, bie 
und die Verbannung, welche die Mehrzahl 
nifchen Adels getroffen hatten, von dem 
durch Preußen geflohen waren, während 
» dort in tiefer Zurüdgezogenheit lebten, 
id un den Tod der Shrigen und Stärfung 
in der Religion, dad Alles, und endlich) 
‚ereinbrechen der Cholera mit ihrem furcht⸗ 


8 


niffen nicht leicht, So jung fie bei dem Tote 

ihrer Mutter geweſen war, "hatte diefe gewuͤnſcht, 
dag Feine Fremde zur Verwaltung des Hauſes 
und zur Erziehung der beiden Pflegefinder in bie 
Familie aufgenommen werben möge, während bie 
Tochter int Vaterhauſe weilte. Ihr allein hatte fie 
die Sorge für Auguftend Fortbildung übertragen, 
während Richard der Aufficht des Herm von 
Pleſſen übergeben worden war, ohne daß berfelbe 
als Gouverneur ded Knaben in dem Hauſe 
lebte. 

Bon dem Plane, ihn durch Friedrich erziehen 
zu laffen, war der Baron zurüdgefommen, nads 
dem er fein Berhältniß zu der Tochter Fennen 
lernen, aber kurz nach der Abreife der Neuver 
mählten hatte die Baronin felbft mit einem freund- 
lichen Schreiben ihn zu fic) entboten und ed war 
zu einer Erklärung zwifchen ihnen gekommen. 
Sie hatte ihm ausgeiprochen, wie fehr fie und 
der Baron fein ehrenhaftes Berhalten, feine freis . 
willige Entfagung zu ſchätzen gewußt, wie hod) 
er in ihrer Freundfchaft geftiegen fei, und bie 
wahrhaft mütterliche Zuneigung, welche fie ihm 


7 


ohne Mißmuth neben fich ertragen. Die 
Sreunde ded Hauſes, wie der Doctor, ſchon⸗ 
ihn und hüteten fich ihn zu verlegen, 
de, welche eine folche Ruͤckſicht nicht zu neh⸗ 
nöthig fanden, wurden ihm allmählich immer 
er, er verweigerte es, neue Bekanntfchaften zu 
en, und fchon nad) zwei Jahren befchränfte 
jein näherer Umgang, foweit er nicht den von 
Jhochgehaltenen Bamilienverbindungen galt, 
: ausschließlich auf den Doctor, auf Pleſſen 
>» auf Sriebrih, und auch mit dieſen war er 
ſtens unzufrieden. Hatte er früher ben Anders⸗ 
kenden gegenüber die Milde gehabt, welche 
> dem Gefühl der eigenen Unfehlbarfeit gegen 
Irrenden hervorgeht, den man früher ober 
ter zu überzeugen hoffen darf, fo fühlte er fich 
ch die Zeit und ihre Forderungen jegt gedrängt, 
ie Weltanfchauung, feine aus ihr hervorgehen- 
; vielfach angefochtenen Rechte zu vertheidigen, 
) died mit Strenge zu thun, mußte einem 
arafter wie dem feinigen, als Pflicht er- 
inen. 
Eorneliend Lage war unter dieſen Verhaͤlt⸗ 





10 


Der ftetö regen Beobachtung bed Lebteren hatten bie 
religiöfen Zweifel nicht verborgen bleiben Fönnen, 
welche Jenen beivegten, und weit entfernt, ihm Eins 
wendungen zu machen gegen bie Bhilofophie des Doc 
tor oder gegen ben Unglauben feines Vaters, hatte 
er fi) ftetd damit begnügt, Friedrich die Beſeli⸗ 
gung auszudrüden, welche er felbft durch feinen 
Glauben in ſich trage, und ihn darauf hinzuwei- 
fen, welche Früchte der Glaube, welche Früchte 
der Unglaube an den Berfonen wirfe, deren Les 
ben man beobachtend verfolgen konnte. “Diefer 
Beobachtung zu genügen, wußte er ihn für feine 
Armenpflege zu gewinnen, und bald ſah ſich Frie⸗ 
drich in eine ihm ganz neue Thätigfeit hineinge⸗ 
zogen, 

Noch vor der Berheirathung ihrer Tochter 
hatte die Baronin von der Regierung die Erlaub- 
niß nachgeſucht und erhalten, eine Armenfchule 
zu begründen, an der fie felbft, ihre Töchter, Herr 
von Pleffen und einige ihnen befreundete Frauen 
und Männer den Unterricht ertheilten. Selbft die 
lebensfrohe Helene Hatte eine Oenugthuung an 
dem Berfehre mit den Kindern’ gewonnen, und ed 


9 


ies, die achtende Anerkennung, mit der ber 
on ihm begegnete, würden ihm eine Genug⸗ 
ing, eine Erquidung geworden fein, hätte er 
ihnen gegenüber unter folchen Berhältnifien 
t doppelt gebrüdt gefühlt durch die Art feis 
legten Begegnens mit der Gräfin, 

Er Hatte lebhafte Theilnahme bei ihnen ges 
en für den Tod feines Vaters, er war oft 
en legten Lebendtagen der Baronin noch an 
: Seite, und fie felbft war ed geweſen, bie 
von Zeit zu Zeit Nachrichten über dad Er- 
n ihrer Tochter mitgetheilt. Aber diefe Nach» 
en hatten ihn nicht beruhigt, denn fo hoch 
bie Außeren- Lebensverhältniffe Helenend aud) 
fchlagen, jo oft fie der Vorzüge und Genüſſe 
3 Dafeind erwähnt, niemals hatte die Baro- 
es audgefprochen, daß Helene glüdlich fei, 
yon Friedrich ihr gefagt, welch ein Troſt es 
ihn fein würde, fie fi) mit ihrem Looſe aus⸗ 
hnt und befriedigt denfen zu fönnen. 

In dem engen Kreife, welcher feit dem Er- 
fen der Baronin fich um diefelbe verfammelt, 
en Friedrich und Pleſſen fich näher getreten. — 


12 


Schnitte wählte. Allmaͤhlich entfland auf biele 
MWeife für die Familien, welche man in Obhut 
genommen hatte, eine Art von gleichmäßiger 
Tracht, welche Ddiefelben, wenn auch durch 
kaum bemerfbare Unterfchiede, von ihren Rad 
barn abfonderte, wie die Erbauungsftunden an 
den Sonntagsabenden, ihre Beichüger von einem 
Theile ihrer gewohnten Gefelligkeit abzutrennen 
begannen. 

Der Menfh aber hat einen doppelten Zug 
in feinen Naturanlagen, und wie ihn eine Seite 
feines Weſens zum Anſchluß an die. Menfchen 
zieht, jo macht die andere ihn geneigt, fich in 
der Maſſe gruppenweife zu ifoliren. Darin bes 
ruht das geiftige Geheimniß der Ariftofratien und 
Gemeinden, 

Die Befriedigung, welche die Baronin und 
ihre Tochter in der neuen Thätigfeit und an ben 
Gedeihen ihrer Schüglinge fanden, machte bie 
ihnen befreundeten Brauen geneigt zu gleicher 
Wirkſamkeit. Man fah plöplic ein, daß man 
muͤſſig gewefen fei, daß man feine Zeit für fi 
und Andere nüglich verwerthen könne, und mit 


11 


nahe genug, Friedrich zur Uebernahme der 
errichtöftunden zu bewegen, welche die Geliebte 
t ertheilt. Bon. ber Beichäftigung mit den 
bern war man zur Beauffichtigung ihrer haus—⸗ 
a Berhältnifje übergegangen. Man hatte ein- 
hen, wie unmöglich oft für die außer dem 
eufe arbeitende Mutter der fonntägliche Beſuch 
: Kirche werde, da grade dieſer Ruhetag ihr zur 
forgung ihres Hausweſens dienen muß, und 
ın war zu der Errichtung einer Betftunde am 
nntag Abende gefchritten, zu der man die El⸗ 
n berjenigen Kinder verfammelte, welche in die 
menfchule aufgenommen waren. 

Noth und Elend der Bamilien, mit benen 
in in fo vielfältige, nahe Berührungen fan, 
ınten den Vorftehern der Schule und der Betr 
nde nicht verborgen bleiben, welche die Mittel 
sagen, ihnen rathend und helfend beizuftehen. 
an pflegte die Kranken, man forgte für die 
öchnerinnen, man hielt darauf, die Geſunden 
ıber gekleidet zu fehen, und wo die Mittel dazu 
Iten, fhaffte man ihnen Kleidungsftüde, zu denen 
m die tüchtigften und einfachften Stoffe und 


12 


— 


Schnitte wählte. Allmählich entftand auf diefe 
Weife für die Bamilien, weldhe man in Obhut 
genommen hatte, eine Art von gleichmäßiger 
Tracht, welche diefelben, wenn auch durch 
faum bemerkbare Unterfchiede, von ihren Nady 
barn abfonderte, wie die Erbauungsftunden an 
den Sonntagsabenden, ihre Befchüger von einem 
Theile ihrer gewohnten Gejelligkeit abzutrennen 
begannen. | 

Der Menſch aber hat einen doppelten Zug 
in feinen Naturanlagen, und wie ihn eine Seite 
feines Weſens zum Anfchluß an die. Menfchen 
zieht, jo macht die andere ihn geneigt, fich in 
der Maſſe gruppenweife zu ifoliren. Darin bes 
ruht das geiftige Geheimnig der Ariftofratien und 
Gemeinden. 

Die Befriedigung, weldye die Baronin und 
ihre Tochter in der neuen Thätigfeit und an dem 
Gedeihen ihrer Schüßlinge fanden, machte bie 
ihnen befreundeten Frauen geneigt zu gleicher 
Wirkſamkeit. Man fah plöglih ein, daß man 
müſſig gewefen fei, daß man feine Zeit für ſich 
und Andere nüglic) verwerthen fönne, und mit 


13 


Jahl der zum Wohlthun geneigten Theil 
‚er, jchritt gleichmäßig die Ausdehnung ihrer 
ternehmung fort. So lange die Baronin ge 
t, hatte man bie urjprüngliche freie Tchätigfeit 
einzelnen Mitglieder fortbeftehen laſſen, und 
war doch ein gewifier Zufanımenhang in ‚ders 
en geblieben, da das Alter und die Stellung 
Baronin fie zur gemeinfamen Beratherin ber 
Ichiedenen Theilnehmer gemacht hatte. Nach 
em Tode machte fich aber bald die Nothwens 
feit einer feſten Organiſation geltend, follten 
mannigfachen Beftrebungen der Einzelnen ſich 
yt Freugen und dadurdy hemmen. 

Es war unerläßlih, daß man Gonferenzen 
die mannigfach nöthigen Befprechungen anords 
e, die Zahl der verforgten und beauffichtigten 
milien war auch fehon zu groß geworden, um 
Abenderbauungen im Heidenbruck'ſchen Haufe 
tzufegen, und mit Erftaunen faft wurde man 
gewahr, daß fich innerhalb der Kirche eine 
meinde gebildet hatte, die durch ein ftreng ges 
elted und bald auch gegenfeitig übermachtes 
en, fih von der Allgemeinheit fchied. Als 





14 


man zu überlegen anfing, was man zu beginnen 
babe, fah man fi) gezwungen, fidy mit faft allen 
Fragen um die Einzelheiten der Armenpflege an 
Eornelie zu wenden, die als beftändige Gehülfin 
ihrer Mutter die befte Auskunft und Anleitung 
zu geben vermochte, und ehe man noch zur Wahl 
einer Borfteherin des fogenannten Armenvereined 
gefchritten war, Hatten die Thatkraft und Ents 
fhiedenheit des jungen Maͤdchens Cornelie dazu ers 
hoben, fo daß gar nicht mehr die Rede von einer 
folchen Ernennung war, fondern man, wie. früher der 
Mutter, fo jest der Tochter, die wefentliche Lei: 
tung überließ. 

Der Eindrud aber, den cine foldhe Be 
pflihtung auf die Mutter und auf die Tod 
machte, war ein fehr verjchiedener. Hatte | 
barin nur die Ausdehnung ihrer bisherigen S 
falt für die Familie auf einen größeren Kreir 
blidt, ohne fich davon in ihrem perfönlichen 
pfinden anderd geftimmt zu fühlen, fo mar 
für dad junge Mädchen einen Lebensa' 
aus. Sie trat die Nachfolge ihrer Mut 
dein Bewwußtfein an, einen neuen ernften 2 


15 


ehmen, deſſen werth zu fein fie fich erft heis 
müffe, und die erfte Handlung, welche 
sübte, beftand darin, daß fie fich eine jüngere 
din ihrer Mutter, die Gräfin Wöhrftein, 
Mitvorfteherin erbat, der fie fich unters 
ıen befchloß, um mit einer That der Selbfts 
Ahung. zu beginnen. 
Die Gräfin, eine bochbegabte, fchwärmes 
e und babei thätige Natur, war früh, nad) 
e fehr glüdlichen Ehe, Wittwe geworden, und, 
erlos und unbeichäftigt, eine der Erften gewefen, 
fich, durch Pleſſen angeregt, den Beltrebungen 
Baronin angefchloffen hatte. Ihre Schwärs 
i fah in Corneliens Entfchluß einen Fingers 
bed Himmels, ihre Thätigfeit ergriff mit leis 
haftlihem Eifer die neue Wirkſamkeit, und 
ihre jüngere Breundin hielt fie Selbſt⸗ 
gung für die erfte Bedingniß, follte das Un- 
ehmen einen gedeihlichen Fortgang haben. 
An jeden Morgen, ehe fie an ihr Tagewerf 
jen, Eamen die beiden Frauen zu einer bejon- 
n Andachtöftunde zufammen. Sie lafen religiöfe 
rke, fie unterfuchten ihr eigenes Innere, jeder Ge⸗ 


— — — — — 


danke, den man gehegt, wurde einer gemeinſamen 
Pruͤfung unterworfen, und bald hatten Beide die 
Wolluſt einer erfünftelten Reue, und ben Gr 
nuß der Erhebung nad der Selbftzerfnirfchung 
in beraufchender Weiſe kennen lernen, ohne daß 
Eine von ihnen gewußt hatte, wie diefer ganze Sees 
lenzuftand ein freiwillig erzeugter fei. Mit uns 
erbittlicher Strenge hielten fie ſich gegenfeitig 
ihre Mängel vor. Corneliens fcharfe Urtheils- 
weife, die Liebe der Gräfin für Schönheit und 
Eleganz der Außeren Erfcheinung, waren Gegen- 
ftände des wechfelfeitigen Tadels, und wie bie 
Eine fich zu einer ihe fremden Milde des Urtheils 
und des Ausdrucks zu erziehen ftrebte, fo kamen 
Beide dahin überein, daß ed unpaßlich fei, in ber 
fchinudreichen Tracht der Weltmenſchen an den 
Stätten des Xeidend zu erfcheinen, und machten 
fi eine Kleidung zur Pflicht, wie man fie an 
ben Herrnhutherinnen und Quäferinnen zu fehen 
gewohnt war. 

Dem Baron entgingen diefe Thatſachen nicht, 
aber er ließ die Tochter gewähren, weil faft der 
ganze Kreid der DVerbundenen aus Frauen und 


17 


nern ber Ariftofratie beftand und es feinen 
dſaͤtzen entſprach, daß gerade dieſe fich zur 
Ithäterin und rzieherin der Armen und 
feidenden machte, während ber bürgerliche 
alismus in den fortdauernden politiſchen Kris 
ich gegen ben Adel ausſprach, und unter dem 
‚eben, für Freiheit und Aufklärung des Volkes 
impfen, felbftfüchtig für den eigenen Vortheil 
itete. Breilich war dem Baron perfönlich das 
riöfe Gewand nicht zufagend, in das fich jene 
tigfeit verhüllte, aber dem in Schriften aller 
. gepredigten Unglauben gegenüber, hielt er 
das Volk die Firchliche Zucht und bie ftete 
weifung auf Gott, auf feine Vorſehung 
fein jenfeitiged Richteramt für unerlaͤßlich. 
: wenn Gornelie ihm zu weit zu gehen fehien 
ihrer Selbftverleugnung, wenn er fie an ben 
nfenbetten ihre eigene Geſundheit gefährden, 
n er fie mehr und mehr fich von ben befte 
ven Berhältniffen der Wirklichfeit abwenden, 
au ihr Augenmerf auf einen neu zu fehaffen- 
‚ idealen Zuftand des Lebens richten fah, 


e er warnend einzufchreiten und au hemmen 
Wandlungen. II. 





18 


verfuht, aber ed war vergebend geweſen. Eine 
ftärfere Hand hatte fich ihrer Zeitung bereits be- 
mädhtigt. 

Gezwungen für die ©emeinde nach einem 
Derfammlungsorte zu fuchen, und duch die Ges 
ſetze gehindert, ohne beſondere Erlaubniß und Con⸗ 
ceſſion einen eigenen Betſaal zu erwerben, war 
man uͤbereingekommen, an ben Sonntag Nach—⸗ 
mittagen den allgemeinen Gotteödienft in einer 
ber ftäbtifchen Hauptficchen zu bejuchen, beren 
Prediger durch feinen reinen Lebenswandel eben 
jo geachtet, ald bewundert um feine Rebegabe 
ward, Da er feit langen Jahren neben dem 
Sonntagscultus alwöchentlih an einem beſtimm⸗ 
ten Tage, eine freilich nur wenig befuchte Yrüb- 
predigt gehalten hatte, fo entſprach er boppelt 
dem Bedürfniß des Vereines, und die beiden 
Grauen, welchen er bereit in feiner amtlichen 
Thätigfeit vielfach begegnet war, führten ihm ihre 
jammtlihen Freunde und Schüslinge zu, ſich 
jelbft feiner Seelforge anvertrauend. 

Dadurch gewannen die Verhältniffe eine neue 
Geftalt. Der Prediger, ein fchöner, majeftätifcher, 


Er wollte demſelben entfprechen, fein 
zmus für das Chriſtenthum, fein Glaube 
ſittliche und politifche Bedeutſamkeit, fein 
die Wahrheit dieſer feiner Ueberzeugung 
aktifhe Erfolge zu bethätigen, machten, 
ch mit leidenfchaftlicher Begeifterung dem 
inſchloß. Pleſſen, welcher bis dahin der 
der Frauen gewefen war, mußte bald 
te Kraft des Prediger anerkennen, und 
Erſtaunen den Einfluß gewahr, welchen 
nd die beiden Freundinnen wechſelſeitig 
iber übten. 

täglichen Morgenandachten der Frauen 
ich dem Zutritt des Prediger in Erbaus 
ven umgewandelt worden, zu melden 
an zwei Abenden in jeder Woche bei 


* unten « Kun an. 


bir 


Er 


20 


halten, er als eine füttliche Pflicht feiner Freunde 
bezeichnete. 

Als Friedrich fich zum erften Male mit Pleſſen 
zu der Andachtſtunde begab, fand er die drei Anderen 
fchon beifammen in einem Cabinette, das er nie 
zuvor betreten hatte. Der Schönheitsfinn und 
bie Künftlernatur der Gräfin, die fi nur ſchwer 
von ber neuen Lebensauffafiung unterbrüden ließen, 
und fich bei jeder Gelegenheit immer wieber gel- 
tend machten, hatten das Fleine Gemach zu einer 
Art von Eapelle umgeftaltet, 

Obſchon es noch) Tag und die Sonne eines 
Schönen Aprilabendes eben erft im Sinfen war, 
verhüllten bereits ſchwere Vorhänge von einem dun⸗ 
felblauen Wollenzeuge, mit dem aud) die Wände 
tapezirt waren, bie beiden Benfter, und eine Am⸗ 
pel, über deren Flamme eine mild buftende Effenz 
verdampfte, hing von der Dede herab, einen 
Ecce homo zu beleuchten. Möbel von altem gedie⸗ 
genen Holzſchnitzwerk vollendeten die Einrichtung. 

Die Gräfin, eine ftolge, hohe Figur, deren 
fchöne Züge einen feften Charafter verriethen, 
während die feelenvolle Glut ihrer großen blauen 


21 


ven alle Blicke an fich fefieln und jeden Willen 
r den ihrigen beugen zu wollen fohien, faß, 
Pleſſen die Bortiere aufhob und mit Friedrich 
a8 Zimmer trat, auf dem Sopha der Thüre 
enüber. Ihr blondes Haar war einfach ges 
itelt, und fchmüdte in prächtigem Kranze ben 
f. Ein Schwarzes Seidenkleid, dad hoch zum 
fe beraufging und über dem ein fein gefältel- 
Kragen herabficl, hob in feiner Schmudlofigs 
den Abel ihrer Erfheinung um fo Leutlicher 
or, Bornelie, in faft gleicher Art gekleidet, 
zu ihrer Rechten, der Prediger an ber linfen 
te des Tifched, und fo wenig berechnet es war, 

ber Augenblick doch ein vollftändiges Bild 
‚ in dem felbft die fchönen, über ber Bibel 
enden Hände der Gräfin, und Eorneliend nach⸗ 
fend auf den Arın geftübted Haupt die Ges 
mtwirkung erhöhten. 

Da es bei diefen Zuſammenkuͤnften mehr auf 
emeine geiftige Erhebung als auf einen eigents 
n Gotteödienft abgejehen war, fo machten das 
einfame Gebet und die Vorleſung eined Kas 
[8 aus der Bibel nur die Einleitung zu dem 





22 


Geſpraͤche, aber es fchien Friedrich, als Habe er 
jeit Jahren nicht mehr fein Herz fo tief vom Ge 
bete ergriffen gefühlt, al& in dieſem engen Kreife, 
da die Gräfin, das Baterunfer gleichſam paraphra⸗ 
firend, in freier Rede ihre Gedanken fammelte. 
Es lag etwas Meberwältigendes darin, den Aus 
druck anbetenden Dankes, inbrünftig liebender Hin, 
gebung gegen Gott, von Lippen fließen zu hören, 
bie nie dur ein hartes Wort entweiht zu fein 
dienen, und die Sehnſucht nad) dem Hörhften, 
nad) dem Senfeitd von einem Wefen zu vernehmen, 
das faum eine harte, rohe Berührung ber Erben, 
welt erfahren haben Eonnte, ® 
Friedrich ſprach dad gegen die Anweſenden 
aus, und der Prediger ftimmte ihm bei. „Die 
Menſchheit,“ fagte er, „ift durch die Erbſünde 
fo verblendet worden, daß fie Jahrtauſende braucht, 
um zu ber Wahrheit zurüdzufehren, die urſprüng⸗ 
lich in ihr lag, und die die Offenbarung hervorges 
hoben hat, wie der Bergmann aus lang verfchüt- 
tetem Schachte dad Gold zu Tage fördert, aber 
jelbft dies Gold zu erkennen und zu würdigen 
hat unfere Herzensverberbniß und zu fihlecht ges 


23 


acht. Die Heiligkeit des Weibes ift leider Feine 
abrheit unter ung, weil wir es entweihen mit 
feren finnlichen Begierden, weil wir es Falt und 
dachtslos zum Werkzeug unferer Fleiſchesluſt ers 
drigt haben, flatt und ihm zu nahen in gemein, 
n anbetender Hingebung an den Schöpfer und 
ben Ebenbildern des Weibes, das in reiner 
mgfräulichfeit einft unfern Heiland zur Welt 
yoren hat, den fchönften und mildeften Aus- 
ick alled von Gott Erfchaffenen zu ehren. Die 
it des priefterlihen Weibes hat noch erft zu 
namen!“ 

„Und doch,” wendete Pleſſen ein, „ift die 
fenntniß fchon fo Häufig aufgetaucht. Das 
ittelalter, das im Eultus der Ritterlichfeit die 
au verflärend anbetete, das ihr als Oberhaupt 
fterlicher Gemeinden eine große geiftige Gewalt 
erantwortete, die Quaͤker, Herrenhuther, Menos 
ten, welche die Prieſterſchaft des Weibes in 
en Gemeinden anerkennen, und grade jegt wie⸗ 

in unferer Zeit die St. Simoniften, fie Alle 
tfjen mehr oder minder dad Bewußtſein der 
ahrheit und defien, was und Noth thut, empfuns 





9 - 


— — — — 


den haben. Woran liegt es nun, daß dieſe 
Wahrheit ſich noch nie rein und voll aus ihrer 
Mitte herauszugeſtalten vermochte ?* 

„Woran es Liegt?” rief Eornelie, „an ber 
Unvollfommenheit des Weibes liegt es? Wir 
Alle wollen noch Etwas fein, um unſerer felber 
willen, wir verlangen nody Dank, noch Anerfen- 
nung, noch Liebe für und allein, für bie Förper 
liche Wefenheit, die wir unfer irbifches Selbft 
nennen. Aber das Weib, das als Heiliger Prie⸗ 
fter Gottes verehrt werben fol, das darf fein 
Ich befigen, dad muß felbftlo8 fein und Nichts 
begehren um fein felber willen. Es muß Gott 
banfen in jedem Augenblide, daß ein Theil feines 
Geifted in ihm Fleifch geworden ift, e8 muß fein 
leiblich Theil unterdrüden durh Buße und Ent 
fagung, damit der Geift Gottes um fo freier in 
ihm walte, fih um fo reiner in ihm zur Erfcei- 
nung bringen könne, Und erft wenn wir bienft- 
bar geworden find Jedem, ber Noth leidet, wenn 
wir mitgetheilt haben Alles, was wir an leibli- 
hem und an geiftigem Gute befigen, wenn wir 
Nichts mehr unfer eigen nennen, ald das Herz 


25 


I ewig unfterblicher Liebe zu dem, der und ges 
affen Hat, dann koͤnnen wir würdig werben 
ı zu preifen, dann fönnen wir aufbliden und 
chen: walte in mir heiliger Geiſt der Gnade, 
ß ich dich erfenne und dich verfünde, als ein 
ned Werkzeug deiner Liebe in ber Gemeinde 
iner Heiligen! Dann wird der Geift Gottes auf 
8 hernieberfinfen, und dann wird das Weib die 
riefterin ber allwaltenden Liebe werden, bie alle 
ebe in fich fchließt auf Erden! Und daß wir 
es erringen, dazu helfe und der Allhelfende, das 
ich laſſet und ftreben, dazu uns ftügen und ans 
sern als Brüder und Schweftern in unferm 
ern und Heilande Jeſu Chrifto !“ 

Sie war aufgeftanden, hatte ihre Arme betend 
npor gehoben, und reichte, da fie in hoher Ber 
:ifterung geendet hatte, ihre Rechte, als fordere 
: einen Eid, dem neben ihr figenden Pleſſen dar, 
r fie ergriff, und vor ihr niederfnieend, ihre 
and auf fein Haupt legte. „Laß Deinen Ser 
en über und walten Du reined Herz! Du liebes 
olle Seele!" rief er, „laß Deinen Segen und 
ar machen und zu erheben zu dem, was wir 


26 


fein wollen und follen von biefer Stunde ab, 
eine brüberliche Gemeinde der Heiligen, ein Sas 
menkorn in ber allgemeinen Verderbniß, auöges 
ftreut durdy Gottes Vaterhuld, daß von ihm aus- 
gehe die Sehnfucht nach Licht und Gnade. Und 
auf meinen Knieen ſchwoͤre ich Dir, die ich vers 
ehre ald ein &Ebenbild der Gebenebeiten, daß ich 
Nichts verlangen will in biefer Welt, als ben 
Geiſt Gottes zu verkünden allerwegen, daß ich 
nicht achten will bie Bande ber Blutöverwandt- 
ſchaft, daß nicht Vater, nicht Mutter, nicht Bru⸗ 
der oder Schwefter, daß nicht Amt und Würbe 
mich Fetten follen an fih, und daß ich fortan 
Nichts achten und anerfennen will ald die Bande, 
bie mich binden an die Gemeinde der Heiligen, 
und daß Fein Geſetz mich leiten fol, als der Geift 
Gottes, der ihr Führer fein fol und ihr Geſetz. 
Daß wir aljo würdig werden wollen der Gnade 
Gottes, durch Hingabe an die hingegebene Selbfts 
lofigfeit in der Geftalt ded reinen Weibes, das 
laßt und fchwören vor Gott dem Allmächtigen, 
und dazu verhelfe und ber Heiland!‘ 

Seine Stimme hatte in dieſer tiefen Erre⸗ 


27 


ven fanft -vibrirenden weichen Klang, der 
alle Herzen bringen machte, feine Augen 
en in mildem Glanze, obfchon die Thränen 
en zitterten, und verklärten dad bleiche Ans 
defien Ausdruck der Kränklichkeit feinen 
noch rührender machte. Er glich den 
ı fterbender Heiligen, deren Seele fich frei 
egeiftert der erfchauten Himmelsglorie ents 
hwingt. Corneliend Herz wallte über in 
Bewegung, "und fih mit Thränen zu dem 
ben bernieder neigend, breitete fie die 
gegen ihn aus, und fhloß ihn an ihr 


e Handlung war eine unwillfürliche ge- 
faum aber hatte fie fie vollzogen, al8 bie 
inheit der ihr anerzogenen Sitte in ihr rege 
Sie fühlte ſich befhämt, und ihre Vers 
g zu verbergen und der Umarınung das Ges 
iner befonderen Gunft zu rauben, umarmte fie 
e beiden anderen Männer, während die Graͤ⸗ 
ber die religiöfe Begeifterung ben Takt der 
ıme nicht vermindern Fonnte, ihr zu Hülfe 
ndem fie ihrem Beifpiele folgte, 


28 


Diefer Vorgang, ber die Frauen durch feine 
Plöglichfeit und Ungewohnheit außer Faſſung 
brachte, und fie verftummen ließ, begeifterte die 
Männer. Sie fühlten fid) wie zu einem Myſte⸗ 
rium geweiht, und zum erften Male tauchte verfüh- 
rerifch in dem Prediger der Gedanke auf, aus dies 
fer Gemeinfchaft frommer Seelen, für die man 
fortan die von Cornelien gewählte Bezeichnung, 
ber Gemeinde der Heiligen, annahm, eine wirt 
lihe Gemeinde, eine Sekte u gründen. Eine 
Wiedergeburt des Chriſtenthumes zu feiner ur 
jprünglichen Reinheit durch diefe Sekte zu bewir⸗ 
fen, erfchien ihm nicht unmöglich, fondern ald das 
lang geahnte Ziel feined Lebens und Wirkens. 

Die frühere Erwähnung der Bedeutung, 
welche die Frauen in einigen der chriftlichen Sek⸗ 
ten genoffen, bot den Anlaß, ven Geift jener Sek 
ten zu prüfen. Man fam alfo überein, bei ben 
nächften Zufammenfünften die Werfe des Grafen 
Zinzendorf zu fludiren, für deſſen Ideen bie 
Gräfin immer eine gewiffe Neigung gehabt hatte, 
während der Prediger und Friedrich anerkannten, 
daß in den Inftitutionen‘, auf deren Grundlage 


29 


: Brübergemeinfchaften gegründet worden, jene 
ee der allgemeinen Gleichheit wefentlich vertres 
; fei, aus der feit der erften franzöfifchen Revo⸗ 
ion mehr ober weniger alle politifchen Bewe⸗ 
ngen hervorgegangen waren, unb bie zur Gel 
ig zu bringen, alfo bie Aufgabe ber Zukunft 
ı werde, 

Pleſſen betheiligte fich bei biefen Eroͤrterun⸗ 
; in feiner Weife. Er war ftill in fich verfuns 
‚und auch Eornelie war ſchweigſam. Erſt als 
r das Gabinet verließ, um in einem andern 
ımer die Abendmahlzeit einzunehmen, welche 
Prediger mit Gebet einfegnete und befchloß, 
den jene Beiden ihre gewohnte Yaffung wieder, 
) das Gefpräch wendete ſich nun erft der praf- 
hen Thätigkeit ded Vereines, dann Gegenftän- 
| von allgemeinem Intereffe zu, wobei die Bes 
tung der Kunft für die Erhebung der Seele 
Gott, in vielfache Betrachtung kam, weil die 
äfin fie zu den geiftigen Elementen zählte, bie 
: unter und anzubauen und zu pflegen hätten, 
hrend Cornelie fie, als der Sinnenwelt ange, 
end, verwarf, und darauf beftand, daß man 


30 


das Ehriftusbild aus dem Betcabinette entfernen, 
und höchftens ein einfaches Kreuz an feine Stelt 
fegen folle, denn es ftehe gefchrieben: „die ihn 
anbeten, follen ihn im Geifle und in der Wahrheit 
anbeten. “ 

Die ganze Art der Unterhaltung aber hielt 
die Theilnahme der Freunde unabläfftg in würdi 
ger Weiſe befchäftigt, und Friedrich Eehrte am Abende 
mit einer Yülle amregender Gedanken in feine 
Wohnung heim, in ſich befriedigter als er es ſeit 
langer Zeit gewefen. In einer Firchlichen Ge 
meinfchaft, die rein menfchlichen und focialen 
Zweden diente, und fihb auf dem Boden bed 
Chriſtenthumes zum Erklären, Läutern und Ber 
wirklichen deſſelben vereinte, hoffte er gefunden zu 
haben, was er fo lange gefucht hatte. Die abs 
ftracte, fpeculative Bhilofophie entfprach feinem 
inneren Bebürfniffe nicht, ihre Terminologie war 
ihn ein Stein, ben man ihm für dad Brod des 
Lebens hinreichte, nach dem er fehmadhtete, ihr 
zerſetzendes Weſen entwurzelte ihn felbft, und doch 
hatte er die Unbefangenheit feines früheren Glau⸗ 
bens feit dem Tode feined Vaters nicht mehr 


31 


rt gewonnen. Sept aber wähnte er, jenen 
n Glauben an das Ehriftenthum durch dieſe 
poetifche und myftifche Exaltation für dafielbe 
h erjegt zu fühlen. Er hatte ſich es oft ges 
daß eine andere Form gefunden werden müffe, 
r das ideale Streben der Menfchennatur fi 
| zu thun vermöchte, und fich nach einer 
Religion gefehnt, weldye die geiftigen und 
ben Elemente nicht vereinte, (denn er bes 
:te fie als gefonderte, ja einander feindliche 
), fondern ihnen innerhalb ihres Kreifes den 
nöthigen Spielraum gönnte, nad) einer 
on, bie, wie der Monotheismus der Juden 
er Mahomedaner, Gott zum Lenfer und 
em Geſetzgeber auch auf Erden machte, Die 
ung ber Religion und ihrer Vorſchriften 
en ftaatlichen Geſetzen fah er als eine Duelle 
r meiften Uebel an, und fchon lange hatte 
der Gedanfe an eine neue Reformation vor 
seele gefchwebt, durch welche die Religion 
ad Staatsgeſetz in fich einig und unzertrenn» 
erden follten, fo daß die Prieſter zugleich 
ter des Geſetzes, und der von ihnen ertheilte 


32 


Religiondunterricht die Erziehung für dies eine 
untheilbare Geſetz werden mußte. Diefe Ideen 
ben Freunden mitzutheilen, fie mit den ihren aus⸗ 
zutaufchen und zu berichtigen, lag ihm fehr am 
Herzen, und wie man in bem engvertrauten 
Kreife fi dem Studium der Zinzendorf’fchen 
Werke überließ, fo wendete er feine ganze Aufs 
merffamfeit den Schriften St. Simon’s und Fou- 
rier's zu, um ihre auf Theofratie gegründeten Vor⸗ 
fhläge zu einer neuen Gefeßgebung und Umge⸗ 
ftaltung der ſocialen Berhältniffe im Intereſſe der 
Gemeinde der Heiligen kennen zu lernen. 


Zweites Kapitel, 





Bährend die Freunde ſich auf folche Weiſe 
re religiöfen Uebungen verfenften, und ihre 
gfeit immer weiter in die Allgemeinheit aus⸗ 
en, verödete dad Familienleben des Barons 
Tag zu Tage mehr. Gornelie fing an den 
ichen Beruf der Frau als Nebenſache gering» 
sen, und uneingedenf der Wahrheit, daß 
Iefammtheit am Beften geholfen werde, wenn 
an feinem Platze feine nächfte Schuldigfeit 
nur in dem Wirfen für die Gemeindemits 
r ihre Oenugthuung zu finden. 

Vie Aufficht des Haufes fiel dadurch Augus 


u Theil, und Cornelie, welche es vergebens 
MWandlungen. U. 3 


34 


verfucht hatte, die nun ganz erwachfene Goufine 
für die Richtung ber ©emeinde zu gewinnen, 
legte ihre um fo ruhiger jene ‘Pflichten auf, als 
Augufte felbft die größte Befriedigung darin zu 
haben ſchien. Lange ald Kind behandelt, wie es 
den jüngften Mädchen in den Bamilien zu geſche⸗ 
hen pflegte, in denen ältere und obenein begabtere 
Töchter vorhanden find, fühlte fie es als eine 
Wohlthat, nicht mehr gehorchen zu müſſen, ſon⸗ 
dern anordnen und befehlen zu fönnen, und ohne 
Anlage oder Neigung für geiftige und Fünftlerifche 
Beichäftigung, dabei aber thätig von Natur, ward 
ihr dad Arbeiten und Schaffen im Haufe zu 
einer Nothwendigkeit, wollte fie nicht die Lange⸗ 
weile des Müffigganges empfinden. 

Daß fie nicht. Helenend Anmuth, nicht Cor⸗ 
neliend Bedeutung befige, daß ihre Anfprüche an 
bad Leben denen ihrer Eoufinen nicht gleich fämen, 
hatte fie von Jugend auf fowohl an dem Bench 
men der Gäſte, ald an dem der Dienerfchaft er- 
meflen fönnen, wenn die Liebe ihrer verftorbenen Ä 
Tante und die Güte ber ganzen Familie fie auch 
als Kind ded Hauſes behandelt hatten, und die 


35 


fe ihres Vaters hatten nur dazu beigetragen, 
daran zu erinnern, daß fie eine Fremde fei, 
ihre Zufunft nicht bie ber Heidenbruckſchen 
der ſein werde. 

Dieſer Vater, der Bruder der Baronin, war 
h feinen Leichtſinn früh in ſchlimme Händel 
gikelt, und in Folge einer Heirath mit einem 
ebildeten Mädchen niederen Standes zum Aus- 
aus dem Regimente genöthigt worden, in dem 
18 Lieutenant gedient. hatte. Durch die Vers 
elung ſeines Schwagerd hatte er eine Stelle 
Eubalterns Beamter bei dem Zollamte einer 
nzſtadt erhalten, und dort fih, nachdem Aus 
end Mutter bei der Geburt diefed ihres eins 
ı Kindes geftorben war, zum zweiten Male 
nählt, ohne eine befiere Wahl zu treffen. 
ner zweiten Ehe war eine zahlreiche Familie 
proffen, und da Noth und Sorge, die Folge 
yranfter Verhältniffe und übler Wirthfchaft, fich 
e und mehr jenes Haudftanded bemächtigten, 
e die Baronin das ältefte Kind, Augufte, zu 
genommen, und fid) zur Verforgung deſſelben 
ten, während fie, fo weit ed in ihrer Macht 

3% 


36 


geftanden, dem Mangel und ven Wirmifien ihres 
Bruders redlich abgeholfen hatte. | 

Nur vierteljährig waren Briefe zwifchen ihrem 
Bater und Auguften gewechfelt worden, fie hats 
ten aber hingereicht, einen Schatten über ihr Les 
ben zu werfen, und ihre Augen auf Zuftände zu 
richten, von denen ihre glüdlicheren Couftnen un: 
berührt geblieben waren. Jedes Schreiben ihres 
Baterd hatte von feinem Mangel geſprochen, je 
bes der Kleinen vorgehalten, wie gut fie ed habe 
im Vergleiche zu den Ihrigen. Immer waren offene 
oder verſteckte Forderungen darin enthalten gewefen, 
deren Gewährung zu erwirfen, fie direct oder ins 
direct die Weifung empfangen, und niemals hatte 
bie Ermahnung gefehlt, ſich nicht an die Pradıt 
und Herrlichkeit ihres jetzigen Lebens zu gewöhnen, 
fondern ſich ftetS zu erinnern, daß ihr Vater von 
Rang und Reichthum zum Elend berabgefunfen 
fei, und daß man auf Nichtd weniger zu rechnen 
habe, als auf die Beftändigfeit irdifchen Beſitzes 
und auf die Treue der Menfchen. 

Hatte die Baronin um Auguftend Willen dad 
Abbrechen dieſes brieflichen Verkehres oft ges 


37 


ht, fo Hatte der Baron fich dieſer Anficht 
erjegt, weil Fein Menfch auf Erden das Necht 
, einem Vater, ber nicht für bürgerlich ehrlos 
irt worden fei, bie Anrechte an feine Kinder 
entziehen, ja er felbft hatte die Hand dazu 
ten, als der Vater einft das Kind zu fehen 
zu dieſem Zwecke die Hauptitadt zu befuchen 
ünfcht. Indeß jene Begegnung war für die 
als vierzehnjährige Augufte eine durchaus 
theilige gewefen. Das fchon von Natur nicht 
Wefen ihres Vaters hatte fich in dem langen 
ammenfein mit einer rohen Frau und in dem 
kehre mit ungebilteten Menfchen erniedrigt, 
Kinder find bei der Lebhaftigfeit, mit ber 
frifchen Einne die erften Eindrüde empfan⸗ 
ſcharfe Beobachter und firenge Richter. Der 
rfchied in der Erfcheinung des Zollamtscon⸗ 
eurs und ded Baron, die Scheu, mit ber bie 
ne Schwelter ihn behandelte, der Zwang, wels 
. die Üebrigen ſich auferlegten, ihm rüdfichtd« 
als einem Berwandten zu begegnen, vor 
m aber die Geringichäbung der Dienerfchaft, 
en ihr nicht entgangen, und hatten ihr einen 


38 


unauslöfchlichen Eindruck gemacht. Sie fürchtete ſich 
vor dem Vater, fie ſchaͤmte fich feiner. Es duͤnkte fi, 
als ob alle Augen mitleidig auf fie blickten, als ob 
jeder gewohnte Beweis der Zärtlichfeit ihrer Tante 
fie entichädigen folle für dad Unglüd, bie Tochter 
eined folchen Vaters zu fein, und als ob dad - 
Mädchen, das zu ihrer Bedienung angewieen 
war, fie von Stunde an nicht mehr wie fonf, Ä 
fondern mehr wie ihres Gleichen anfähe und be | 
handelte, worin fie ſich nicht täufchte. | 
Ein Gefühl unverdienter Demüthigung, eine 
mißtrauifche Angft, man könne fie an ihren Vatet 
erinnern wollen, blieben ihr davon zurüd,. und | 
während fie felbft faft niemald von ihm fprad, 
hegte fie doch ein unaufhörliches Mitleid mit feir : 
ner und ber Seinigen Bebrängniß, wenn fie : 
des Ueberfluffes gedachte, der fie umgab und ben ; 
fie theilte, Weil ihre fchmerzlichften Erfahrungen : 
fidh an ihren Vater knuͤpften, wähnte fie, alles 
Leid könne den Menſchen nur von diefer einen 
Seite fommen, und aus diefem Empfinden hatte | 
fie einft an Friedrich, als fie ihn an jenem Weib 
nachtöabende fo niedergefchlagen mitten in ber 


39 


meinen Freude erblickt, die Frage gerichtet, 
er noch einen Vater habe?“ 

Eine frühreife Einfiht in bed Dafeind 
ngfale, eine gewiſſe trodene Altklugheit und 
trauriger Zwiefpalt in ihrem Empfinden, was 
bie Folgen diefer Verhältniffee Die Vorforge 
Baronin hatte fie nicht zu befämpfen vermodht, 
nad) dem Tode der Tante, ald dad Mädchen 
mehr und mehr auf fich felbft gewieſen ſah, 
en biefe Fehler nur um fo tiefer in ihr Wur⸗ 
jefaßt. 

Sie hatte die heitere Gefelligfeit nicht ver- 
n, welche früher das Xeben ihrer Goufinen 
hönt. Da aber weder der Onkel in feiner Zus 
jezogenheit, noch Cornelie in ihrer wachfenden 
tentfremdung daran dachten, ihr einen gleichen 
endgenuß zu bereiten, fo beftärfte fie diele 
zachläffigung in dein Gedanken, daß es für 
in Unglüd geweien, in Berhältniffen erzogen 
verben, für die fie nicht beftimmt fei. Halb 
Nefignation und Vernunft, halb aus trogen- 
Verletztheit, befchloß fie alfo, ſich nicht mehr 
ein gleichberechtigtes, fondern als ein dienft- 


40 


bares Mitglied des Haufes anzufehen. Iene Be 
forgungen, bie fie bisher aus freier Neigung 
übernommen, behandelte fie jetzt als ihr obliegende 
Pflihten, welche zu erfüllen fie fi als eine 
That der Dankbarkeit und Selbftverleugnung 
anrechnete, und während der Baron und die nädj- 
ften Sreunde des Haufes, Augufte um ihrer magd⸗ 
lichen Dienftbarfeit willen liebgewannen und prie 
fen, entwidelte fich in ihr ein befchränfter Hoch⸗ 
muth, der die eigenen haͤuslichen Leiſtungen als 
das Weſentliche, alles geiſtige Streben aber als un⸗ 
weſentlich für eine Frau betrachtete. Unfaͤhig He 
lene oder Gornelie in ihren Vorzügen zu erreichen 
oder bdiefelben vergeffen zu machen, bildete fie in 
ſich mit dem nie fehlenden bewußtlofen Inſtinkte 
enger Frauenſeelen jene Eigenfchaften aus, weldye 
bei den Coufinen niemald in Anfchlag gekommen 
waren, und in denen fie ohne Nebenbuhlerin und 
ohne Bergleihung dad Feld behaupten konnte. 
Sie ward Hausfrau aus Gelbfterhaltungstrieb 
und eigenfüchtig aus demfelben Grunde; benn ber 
Egoismus ift die Waffe, dad Horn, der Stachel, 
ben die Natur dem Menfchen mitgegeben hat. Er 


41 


in dem großen Charakter Bedingung und 
bei feiner Wirkfamfeit, in dem Fleinen Noth⸗ 
r, und diefe NRothwehr des Schwachen wird 
feich der Widerftand für den Starken, damit 
as Material, in und mit dem er arbeitet, nicht 
ſchnell verbrauche. Beichränfte Menfchen find 
ım meift von einer zähen Ausdauer, an ber 
Energie von Riefenfräften ftumpf und mübe wird. 
Auf ſolche Art fanden der Baron fowohl, als 
hard und Georg ſich auf Augufte angewieſen. 
h die Hausfreunde gewöhnten ſich daran, 

junge fiebenzehnjährige Mädchen als bie 
rtbin des Haufed anzufehen, bie überall aus⸗ 
chend, vorforgend und vermittelnd, fich Allen 
ntbehrlihh zu machen wußte. Vor Allen 
rde dem Lieutenant ein Bedürfniß, der die Eins 
nigfeit des Baterhaufes im hohen Grade 
end fand, während die alte Familienordnung 
boch nöthigte, die Abende fo viel als thun⸗ 
in demſelben zuzubringen, und der Wunſch, 
ı Baron die beginnende Bereinfamung des 
erd weniger cınpfinden zu laflen, ihn von felbft 
u vermochte. Rückhaltslos Hatte er bei allen 


42 


Gele genheiten e8 Eornelien zum Vorwurf gemadht, 
daß fie über ihrer perfönlichen Genugthuung, über 
ihre neuen Freunde ihre natürlichen Pflichten und 
ihre Familie vergefle. Er hatte fie getabelt, daß fie 
Auguftend Jugend ohne alle Freude dahinſchwin⸗ 
ben laffe, und wie er ſich dadurch bie Schwefter 
entfrembete, war in dem Herzen ber Goufine eine 
dankbare Hinneigung zu ihm erwachlen, bie alle 
jene Borforge, welche fie den Anderen aus Pflicht⸗ 
gefühl bezeugte, für ihren Beichüger mit freudiger 
Liebe übernahm. Sie Iernte feine Ideengänge 
fennen, fie wußte, wann ber Augenblid gefommen 
war, die Unterhaltungen zwifchen Water und 
Sohn mit irgend einem Scherze zu unterbrechen, 
ehe fie den Punkt erreichte, auf dem die Anfich- 
ten der Männer ſich feindlid) entgegen traten, und 
faft fein Tag verging, an dem fie Georg nicht 
auf irgend eine Weife zu verpflichten wußte, 
Ueberlegt, vorfichtig und fparfam, befaß fie gerade 
die Eigenſchaften, welche dem Lieutenant fehlten, 
der fie bald zur Bertrauten der Verlegenheiten 
machte, in bie fein heftiger Eharafter ihn verwidelte. 

Genöthigt, Zerftreuung außerhalb des Haufes 


43 


ſuchen, wobei der Umgang mit Larfien ihm 
rberbli) war, hatte zugleich die fortfchreitenbe 
reiheitöbewegung im Südweſten des beutichen 
saterlandes ihn in ihre Kreife gezogen, und bie 
nfichten des Doctord in ihm einen gelehrigen 
nd enthuftaftifchen Schüler gefunden, ber ſich 
arin geftel, die neu erworbene Einftcht der ftets 
eundlich zuhörenden Augufte und dem herans 
achſenden Richard zugänglih zu machen, um 
ch lehrend ber erworbenen Erfenntniß deutlicher 
mußt zu werben. 

Bei Mädchen und Frauen gilt aber bie Theil 
ahme für eine Idee häufig nur dem Manne, 
er fie vertritt, und fo vermochte Augufte den 
jeiprächen ihres Vetters mit Freude zuzuhören, 
ine Hoffnungen und Befürchtungen zu den ihren 
u machen, objchon fie die vollftändigfte Gleich⸗ 
ültigfeit hegte für die Fortfchritte des Conſtitu⸗ 
ionalismus, während der jüngere Richard das 
Hedeihen deſſelben als einen Triumph der englis 
hen Geſetzgebung über die deutſche anfah, und 
ih dafür begeiftern Fonnte. Kaum zmölf Jahre 
it bei dem Tode feines Vaters, Hatte der Stolz 


44 


auf die Nation, der er angehörte, fchon fo tiefe 
Wurzel in dem Knabenherzen geichlagen, daß 
die fpätere Erziehung in Deutichland in ihm 
das Selbftgefühl des freigebornen Engländers nicht 
mehr zu unterdrüden vermochte, und mehr, als 
der Kieutenant e8 gewahr wurde, ftachelte des Kna⸗ 
ben ftetd mit Entzüden gefprochenes: „ich bin ein 
englijcher Bürger! * die Unzufriedenheit Georgs mit 
feinen eigenen Berhältniffen auf. 

‚ Wißbegierig, wie Richard ed war, fand er in 
Plefiend Vorliebe für England auf ihren tägli- 
hen Spaziergängen Gelegenheit, fich über bie 
Gefege und Zuftände des Landes zu unterrichten, 
dem er angehörte, und in dad er zurüdzufchs 
ten gedachte, fobald feine Schulbildung beendet 
und cr in dad achtzehnte Xebensjahr getreten fein 
würde, Sein Vater Hatte es angeordnet, daß 
dad Handlungshaus in Liſſabon bid zu des 
Sohnes erlangter Großjährigfeit fortgeführt wers 
den und ihm dann die Beſtimmung freiftehen 
ſollte, ob er es auflöfen oder ald Chef in bafjelbe 
eintreten wolle, wie benn auch die Wahl feines 
Berufes ihm vollfommen freigeftellt und übers 


45 


upt nur die unerläßlichfte Bevormundung für 
ı feftgefegt worden war. Nach einer ausdrüds 
en Beitimmung des Teftamented hatte Richard 
feinem vierzehnten Geburtstage erfahren, daß 
ber Erbe eined großen DBermögens und ber 
ie Herr feines Willens fei, während ihm zu 
icher Zeit ein Schreiben ſeines Vaters uͤber⸗ 
ben worden war, das ihn in den einfachften 
db männlichfien Ausdrüden erinahnte, bie ihm 
wordenen Borzüge würdig zu brauchen. „Du 
teft ohne die Nothmwendigfeit der Dienftbarkeit 
bad Leben,” fchloß es, „es ift Niemand ba, 
: Dir zu gebieten hat, Du ftehft allein unter 
3 Geſetzen Deines edlen Baterlandes, fobald 
u aus der Bormundfchaft Deines Onfeld ent 
fen fein wirft. Benuße beine Jugend, Did) 
f zu madjen für das Leben, und bebenfe, daß 
rade Deine Unabhängigkeit Dir die Pflicht aufs 
egt, fie ald Mann, als Engländer und als 
entleman würdig zu gebrauchen!” " 

Diefe Erziehungsweife, fo fehr fie fih im 
egenfate zu den Anfichten des Barond befand, 
Berte auf Richard die günftigfte Wirkung. In 


46 


einem Alter, in welchem die Knaben in Deutich- 
land faft noch ausſchließlich mit den Spielen ber 
Kindheit befchäftigt find, blidte der junge Eng⸗ 
länder, wenn er fi) mit Luft der Gefellichaft ſei⸗ 
ner Kameraden überlafien hatte, hinüber zu dem 
mächtigen Injelvolfe, von deſſen weltbeherrſchen⸗ 
der Macht, von defien freien Bürgern zu bören, 
ihn tiefer erfchütterte, ihn gewaltiger erhob, ale 
die Gefchichtderzählungen aus der Borzeit es ver⸗ 
mochten. Die Begeifterung, welche und aus ber 
Bergangenheit quilit, ift unfruchtbar gegen ben 
fortzeugenden Enthufiasmus, ‚den eine würbdige 
Gegenwart in und erregt. Bon Jugend auf zu 
wifien, daß auf jedem Punkte der Erde feine 
Perſon unverleglich fei, fo lange er durch Fein 
Verbrechen fich des Schutzes der Gefjege unwerth 
mache, zu wifien, daß die mächtigfte Nation der 
Erde, in ihrer Geſammtheit, jede ihm zugefügte 
Unbill räche, dad waren Gedanfen, welche ber 
Knabe mit freudeftrahlenden Augen ausſprach; 
und auf dem Boote, das er ſich nad) einem engli= 
fchen Mufter hatte bauen laffen, umher zu ru⸗ 
dern, die englifche Flagge über feinem lodigen 


47 


Haupte, das flößte ihm eine Wonne ein, unter 
fein junges Herz fich in ſtolzen Ecylägen fchwellte, 
So ftanden die PVerhältniffe im Haufe, als 
Maskenball, der im Anfange des Winters 
tfinden follte, die allgemeine Theilnahme ers 
te, weil man mit demfelben die Anweſenheit 
es der Prinzen zu feiern gedachte. Der Baron, 
ſich in diefem Falle den Fefte nicht entziehen 
ınte, hatte der Tochter erklärt, dem Balle 
wohnen und fie und Auguſte hinführen zu 
Üen, war aber bei @ornelie auf Widerftand 
toßen. Sie wendete ihm ein, daß fie feit dem 
de ihrer Mutter von dergleichen Zerftreuungen 
wöhnt fei, fie entfchuldigte fi) mit ihrer Uns 
t an denfelben, ald jedoch der Baron auf feinem 
unfche beharrte, und ihr vorbielt, daß es ihre 
licht fei, fich feinem Willen und dem Bergnü- 
t der ſtets bdienftfertigen und felbftlofen Cous 
e zu unterordnen, da brach Cornelie verftums 
nd in Thränen aus. 

„Was fol das?“ fragte der Baron, „Du 
ißt, daß ich an meinen Kindern die Schwäche 
Weinens nicht ertragen mag!” 


38 


unauslöfchlichen Eindrud gemacht. Sie fürchtete fich 
vor dem Vater, fie ſchaͤmte fich feiner. Es dünfte fie, 
ald ob alle Augen mitleidig auf fie blidten, als ob 
jeder gewohnte Beweis ber Zärtlichkeit ihrer Tante 
fie entichädigen folle für das Unglüd, die Tochter 
eined ſolchen Vaters zu fein, und ald ob das 
Mädchen, das zu ihrer Bedienung angewieſen 
war, fie von Stunde an nicht mehr wie fonft, 
fondern mehr wie ihred &leichen anfähe und bes 
handelte, worin fie fich nicht täufchte. 

Ein Gefühl unverdienter Demüthigung, eine 
mißtrauifche Angfl, man könne fie an ihren Vater 
erinnern wollen, blieben ihr davon zurüd,. und 
während fie felbft faſt niemals von ihm ſprach, 
hegte fie doch ein unaufhörliches Mitleid mit fei- 
ner und ber Seinigen Bedrängniß, wenn fie 
des Ueberfluffes gedachte, der fie umgab und den 
fie theilte, Weil ihre fchmerzlichften Erfahrungen 
fich an ihren Vater Inüpften, wähnte fie, alles 
Leid Fönne den Vienfchen nur von biefer einen 
Seite fommen, und aus diefem Empfinden hatte 
fie einft an Friedrich, als fie ihn an jenem Weih- 
nachtöabende fo niedergefchlagen mitten in ber 


39 


weinen Freude erblickt, die Frage gerichtet, 
e noch einen Vater habe?“ 

ine frühreife Cinfiht in des Dafeins 
yfale, eine gewiſſe trodene Altklugheit und 
auriger Ziwiefpalt in ihrem Empfinden, was 
e Folgen diefer Verhältniffe. Die Vorforge 
aronin hatte fie nicht zu befämpfen vermocht, 
ad dem Tode der Tante, ald dad Mädchen 
ehr und mehr auf fich felbft gewielen fah, 
biefe Fehler nur um fo tiefer in ihr Wur⸗ 
faßt. 

ie hatte die heitere Gefelligfeit nicht ver» 
‚ welche früher das Leben ihrer Coufinen 
int. Da aber weder der Onfel in feiner Zus 
wogenheit, noch Eornelie in ihrer wachfenden 
ntfremdung daran dachten, ihr einen gleichen 
dgenuß zu bereiten, fo beftärfte fie Diele 
hläffigung in dem Gedanken, daß «8 für 
ı Unglüd geweſen, in Berhältniffen erzogen 
ben, für die fie nicht beftimmt fei. Halb 
Tefignation und Vernunft, halb aus trotzen⸗ 
erletztheit, befchloß fie alfo, fich nicht mehr 
n gleichberechtigtes, fondern als ein dienſt⸗ 


50 


werben würben, was dem Reichen gegen ben Ars 
men, bem Glüdlichen gegen ben Leidenden zu thum 
obliege. Der Berein follte in biefen Zeiten ber 
Verwirrung und bed Hafles der Stände, ein aus⸗ 
fühnendes Bindemittel zwifchen ihnen berftellen, 
und der Adel ald die Stütze bed Thrones follte, 
dad war mein gegen Deine Mutter ausgeſproche⸗ 
ner Grundfag, ohne Anfprud auf Anerfennung 
im Stillen daran arbeiten, ven fittliden Boden 
zu befeftigen, auf dem allein der Thron in fichrer 
Ruhe fih erhebt.“ 

„Diefer fittlihe Boden grade, mein Vater!“ 
fiel ihm Cornelie in’d Wort, aber der Baron 
ließ fie nicht enden. 

„Unterbridy mich nicht!” fagte er fireng und 
fuhr dann fort: „Ich billigte ed, daB Du bie 
Oräfin an die Epibe,ded Unternehmens ftellteft, 
denn Du Fannteft meine Anficht, daß es einem 
Mädchen nicht gezieme, mit ihrem Namen in die 
Deffentlichkeit zu treten. Ich geftattete Dir, in Deiner 
Lebensweiſe einfachere Gewohnheiten, in Deiner 
Kleidung größere Schlihtheit anzunehmen, weil es 
in unferen Zeiten nüglich ift, fich bebürfnißlos 


51 


adyen. — Aber ich verbiete Dir von Dies 
Stunde ab bie Theilnahme an dem Hülfe- 
te, denn ich fehe, was ich bereitö vermuthet, 
br auf Abwege gerathen feid, daß ihr euch 
ligiöfe Spielereien verfenkt habt, die ich mißs 
e und denen id ein Ende gemacht Haben 
weil fie Deinen gefunden Sinn, weil fie 
Urtheil, dad wir klar erzogen haben, bereits 
veit verwirrten, daß Du Deine nächfte und 
jest einzige" Pflicht vergeffen Eonnteft, bie 
ht des Gehorfamd gegen mid. Du haft 
andere, . Erfülle fie, Cornelie!“ 

Sr gab ihr bei diefen Worten die Hand, 
> Erfolges gewiß und alfo zum Berzeihen 
Borhergegangenen bereit, aber er hatte ſich 
iſcht, denn er hatte nicht auf die Kraft in 
elien gerechnet, die der Fanatismus verleiht. 
Meine einzige Pflicht ift der Gehorfam gegen 
!* fagte fie feft, „und wenn ich geftellt werde 
yen Menfchenwillen und den Willen meines 
pfers, darf mein Herz nicht fehwanfen. Du 
‚ mein DBater! haft mich durch das Sacra- 
der heiligen Taufe zur Nachfolge des Hei⸗ 

4 


52 


landes geweiht, wie darfft Du mich hindern ihm 
nadyzuftreben?” 

„Laß die Phrafen, Eornelie!* rief der Baron, 
„fie mögen Bewunderung erregen vor den Ohren 
Deiner Freunde, mir find fie leeres MWortgepränge. 
Du fennft jegt meinen Willen. Du entjagft von 
heute ab der Theilnahme an dem Vereine und 
Du begleiteft Augufte zu dem Balle! Es wird 
Dir leicht werden, Deine Verblendung zu erkennen, 
fobald Du Dich wieder in dem Dir zufommenden 
Zebendgleife bewegen wirſt.“ 

„Das werde ich nicht, mein Vater!“ 

„Cornelie!“ 

„Ich werde und ich darf es nicht, mein Va⸗ 
ter!“ wiederholte ſie. 

„So werde ich Dich zwingen es zu thun!“ 

„Zwingen?“ fragte Cornelie, „wie iſt das 
moͤglich, Vater?“ 

„Du verläſſeſt von heute ab nicht ohne mein 
Wiſſen das Haus, und empfaͤngſt keine Beſuche 
ohne meinen Willen.“ | 

„Die Einfanfeit ift eine Gnade für den, mit 
dem ber Geift des Heilandes if. Er wird bei 


53 


in und mein Troſt allezeit; ich danfe Dir, 
Vater!“ fagte fie, Tüßte dem Baron bie 
und verließ dad Zimmer, befeligt durch das 
ztſein eined Märtyrihums. 

er Baron blieb zurück mit dem Gefühle 
Mannes, der die Grundpfeiler feines Haus 
t wanfen fehen. Ein Herrfcher, an deſſen 
fein Volk die Hand gelegt, mag fid) immer⸗ 
och ferner von Gottes Gnade nennen, der 
Hlaube an feine Höttlichfeit ift doch verloren. 
hoffte der Baron zu fiegen, aber daß er es 
Nothwendigkeit eines Sieges fommen lafs 
rftörte in ihm das Bewußtſein der Unfehls 
, in der das Geheimniß feiner Kraft ges 
Er hatte fein Kind auf falfhem Wege wan⸗ 
offen, er war nicht die Borfehung feines 
3 gewefen, dad gab Cornelien dad Recht, 
höhern Willen ald den feinen zu verehrten. 
e bereute die Mebereilung, mit der er fich zu 
Drohung hinreißen laffen, welche er auszu⸗ 
; weder gefonnen, noch im Etande war. 
lange konnte er dieſe Claufur über feine 
r verhängen? Sie von dem Orte zu ent 


54 


fernen, würde er ſich um fo weniger entſchloſſen 
haben, je mehr er fie feineg Leitung bebürftig 
glaubte, und fie zwingen, fich den gefelligen Freu⸗ 
ben und ben früheren Lebensgewohnheiten wieder 
zu überlafien, war unmöglicdy, denn der Zwang 
fann Bieled hindern, aber Nichts beförbern, wenn 
er nicht zu phyfifchen Gewaltmitteln feine Zuflucht 
nehmen will. Dem Auge feiner Freunde, dem 
Auge der Dienerfchaft den Zwielpalt funbzugeben, 
der fi zwifchen ihm und feiner Tochter aufger 
than, hieß für ihn eine Niederlage eingeftehm 
und fich der gewohnten Waffen freiwillig beraus 
ben. Wenn er anderfeitd Comelien die Genug⸗ 
thuung des Xeidend für ihren Glauben gewährte, 
erhob er ihr Selbftbewußtfein und ihre Bedeu⸗ 
tung in der Werthfchägung ihrer Sinneögenoffen. 
Zum erften Male entfchloß er fich zu einem Wider⸗ 
rufe, aber fein Schritt dünfte ihn wanfend, als 
er dad Zimmer feiner Tochter betrat, und tiefe 
Bläffe lag auf feiner verbüfterten Stirne. 
Cornelie war mit weiblicher Arbeit befchäftigt. 
Sie erhob fich bei feinem Eintritt mit einer Foͤrm⸗ 
licheit, die ihn Falt berührte, weil fie ihm zeigte, 


55 


ß es Worte und Handlungen giebt, die bem 
rigſten Verhaͤltniß einen nie mehr auszugleichen, 
ı Schaden zufügn. Mit dieſer erzmwungenen 
werbietung hatte noch Feines feiner Kinder je 
e ihm geftanden. Sie erfchütterte ihn auf das 
effte, und mit bewegter Stimme fprady er: 
Ih fomme, Dir zu fügen, daß ich meinen 
fa ändere. Ich will Deiner Einficht nicht 
ewalt anthun, aber ich fordere von Dir ftrenge 
rüfung beflen, was Du Deinen Glauben 
nnft, und ich werde Dir Gelegenheit bieten, 
: zu üben. Du bift Herr Deined Kommend und 
ehens wie zuvor, ich dispenfire Dich für dies⸗ 
al von dem Balle, denn Du bedarfft allerdings 
e Sammlung, um Dir Ear zu machen, wohin 
u Di verirrt haſt. Komm zum Thee ber 
iter.“ 

Damit wendete er ſich ab und ſchritt langſam 
e Thuͤre zu, auf einen Dank, wie auf ein zus 
gendes Wort der Tochter rechnend. Es ward 
ht gefprochen. ornelie felbft erfchraf vor ih⸗ 
m Schweigen. Es war öde und kalt in ihrem 
nern, und mit herazerreißenver Klarheit empfand 





56 


fie, daß man den nicht lieben kann, der unum⸗ 
ſchraͤnkte Macht hat über und. Bor ter Gewalt, 
auch vor der edelften, vermag ber felbftbewußte 
Menſch allenfalls Ehrfurcht zu fühlen, aber Liebe 
erwaͤchſt und befteht nur in der Freiheit. Men⸗ 
fchen und Bölfer, die ihren unbefchränften Herrn 
zu lieben fähig find, geben dadurch ein Zeuge 
niß ihrer Unreife und Unbeftänvigfeit. Der Bas 
ter und die Tochter empfanden ed, daß fie in 
biefer Stunde ſich an ber Orenzicheide ihres bis⸗ 
herigen Berhältnifies befanden, und daß fie über- 
fchritten fei. Indeß Nichts verriet) Außerlich den 
Bruch mit der Vergangenheit, ja es trat jene 
Schonung zwifchen ihnen ein, weldye bie fehlende 
Sicherheit bezeichnet, und als ob gar Nichts vor⸗ 
gefallen wäre, wies ber Baron feine Nichte an, 
bie Vorbereitungen zu dem Magfenfefte für. fid) 
allein zu treffen. 

Augufte hatte ftetd einen felbftquälerifchen Ges 
nuß darin gefunden, von ben Luftbarfeiten fprechen 
zu hören, an denen fie nicht Theil nahm. Jetzt, 
da ber Onfel ihr freigebig eine namhafte Summe 
zur Verfügung ftellte, ihre Garderobe zu beſchaf⸗ 


57 


n, lehnte fie das reiche Anerbieten mit ter Er⸗ 
rung ab, fie wünfche Fein Eoftüm anzulegen, 
deſſen Herrlichkeit fie fich felbft wie eine Maske 
infen würbe, und da man eine Reihenfolge von 
eutfchen, italienifchen und franzöfifchen Opern 
arzuftellen beabſichtigte, bat fie den Lieutenant, 
ie nöthigen Schritte zu thun, damit ihr die Rolle 
es Afchenbrödel überlaffen werde. 

Die fpielende Weife, in ber fie den Wunſch 
usſprach, ftand ihr fo vortrefflich, als fpäter die 
erwählte Tracht. Das fchlichte graufeidene Ges 
wand, dad Käppchen von ſchwarzem Sammet 
paßten vollfommen zu ihrem weichen blonden Haare, 
zu ber mehr frifchen und fräftigen ald eblen Ges 
ftalt, und als fie am Abende des Feſtes zu dems 
felben gefchmücdt, in das Zimmer trat, rief Richard 
gegen Georg gewendet mit Verwunderung aus: 
„Sieh doch, Georg! Augufte ift ja wirklich Hübjch 

Auch der Lieutenant bemerfte es zum erften 
Male, fo daß in Auguftens Freude über die Bes 
wunberung ihrer Vettern ſich ein Fränfendes Ges 
fühl über die Nichtbeachtung mifchte, ber fie feit 
bem Tode ihrer Tante anheimgefallen war. Ihr 





58 


Stolz empörte fi) dagegen, und während das 
bunte Getreibe eines Maskenballes fie umwirbelte, 
während der Glanz, die Luft, die ſich bewegenden 
phantaſtiſchen Geftalten ihre Sinne aufregten und 
verwirrten, Fam ihr urplöglich der Gedanke, dem 
Schickſal abzutrogen, was der jugendliche Leicht- 
finn ihres Vaters ihr entzogen hatte — Uab⸗ 
hängigfeit und den Genuß bed Lebens, 

Jede neue Erfcheinung in der Gefellichaft, 
wenn ihr der Reiz der Jugend zu Hülfe kommt, 
hat den Borzug, die Aufmerffamfeit der Männer 
zu erregen, und das junge Mädchen fah fich in 
einer Weife gefucht, an der die Theilnahme des 
Lieutenants fid, entzündet. Was man gefchäßt 
fieht, wird erftrebenswerth, und fremdes Urtheil 
beftimmt für die Mafle den Preis der Dinge wie 
ben eigenen Werth. Georg huldigte ber Goufine 
mit dem vertraulichen Anrecht ihres gefchmifter- 
lichen Lebens, aber Augufte hielt fi) zurüd. 
Das machte ihn ungeduldig, er ward dringender, 
fie ſah es und lachte über ihn, denn fie erfannte 
die Macht, die jedem Weibe innewohnt und be- 
ſchloß fie zu benugen. Sie fchien hingeriffen von 


59 


‚ae ungewohnten Freude, aber ihr Sinn war fo 
mädtig auf einen Punkt gerichtet, daß Nichts fie 
davon abziehen, Nichts fie zerftreuen konnte von 
dem einen Plane. Sie wollte nicht mehr die Dies 
nende Vertraute ihres Vetters fein, fie wollte 
fein Weib werben, er follte ihr die Stellung und 
ben Genuß bed Lebens geben, die fie begehrte. 
Und war es nicht ſtets unbewußte Liebe geweien, 
bie fie für ihn empfunden hatte? Bedurfte er ih- 
rer nicht? fo fragte fie fih, während ihre Blicke 
heiter leuchteten, als läge jeder ernfte Gedanke 
ihr in weiter Ferne, als fühle fie nicht, welchen 
Erfolg fie gehabt, als hätte dieſer erfte Sieg fie 
nicht zu neuem Siegenwollen aufgeftacdhelt. 

Aber in ihren Träumen, ihren Wünfchen. und 
Planen ward fie durch eine ungewöhnliche Bes 
wegung unterbrochen. Man trat in Gruppen 
zufammen, man lachte, es wurden Worte ber 
Mißbilligung laut, dann plöglid hatten eine 
große Anzahl von Perfonen, Alle faft zu gleicher 
Zeit, geichriebene Blätter ausgetheilt erhalten, 
bie in wisigen Epigrammen bald die Empfän- 
ger felbft, bald andere Perſonen geißelten. Je⸗ 





60 


dem waren fie durch einen Zettelträger überges 
ben, und zwar an ben verſchiedenſten Stellen bes 
Saales und in allen Nebenzinimern auf einmal; fo 
daß viele Perfonen in ber gleichen Maske fidy dem 
Geichäfte unterzogen haben mußten, überall fand 
man noch Blätter auf dem Boden liegen, und 
Eines überbot das Andere in witiger Spötterei, 
in bitteren Surfasmen. Eine Menge befannter und 
doch nur ungern preiögegebener Verhaͤltniſſe war 
in den Epigrammen bloßgelegt, Privat⸗ und öffent 
liche Zuftände fanden ihren Richter, und während 
fie die allgemeinen Inftitutionen vom Standpunkte 
einer fehr radicalen Anfchauungsweife, der fpot- 
tenden Kritik anheimgaben, geißelten fie unbarm⸗ 
herzig die höchften Beamten der Verwaltung und 
des Militairs, 

Die allgemeine Beftürzung mußte den zu bie 
fem Unternehmen Berbündeten die Zeit gelafien 
haben, zu entfommen, Niemand hatte vorher 
bie Maske eined Zettelträgerd wahrgenommen, 
dann war fie an allen Enden aufgetaucht und 
eben fo fpurlo8 verſchwunden. Selbft dem Prin⸗ 
zen hatte man ein Epigramm zuzuftellen gewußt, 


61 


ihm bie empfangenen Huldigungen als eine 
: erlafiener Befehle verdächtigte, und die all- 
ine Mipftimmung ward noch dadurch um ein 
s gefteigert, daß dieſes Ereigniß grade in 
nwart des jungen FBürftenfohnes Statt gefun« 
hatte. Dean verfuchte über die Störung fort« 
iimen, aber e8 war nicht moͤglich. Der Prinz 
6 ben Ball, der fommanbdirende General, 
befonderd heftig angegriffen war, begleitete 
andere Perſonen, welche ähnliche Unbill er- 
n hatten, folgten Jenen, nach furzer Zeit 
der Ballfaal verlafien, das Felt beendigt. 

118 Augufte fih endlich in ihrem Schlafcabis 
‚ dad Herz vol Wünfche, den Geift vol 
‚e, zur Ruhe nieberlegte, trug fie Vermuthung 
ch, die fie nur fich felbft geftand. 


Drittes Kapitel, 


Der Vorgang auf dem Balle brachte die ganze 
Stadt in Bewegung, überall ſprach man von ben 
Spigrammen, und felbft in den Kreifen, welde 
ven Theilnehmern an dem Feſte fern flanden, 
fannte man ſchon am nächften Tage den Inhalt . 
der Spottgedichte und recitirte fie an allen Eden 
und Enden. Noch- in der Nacht des Ballce 
hatte man den Hauswart und die aufmartende 
Dienerfchaft vernommen, man hatte an den fols 
genden Tagen die Lohnkutſcher verhört, die Epi⸗ 
gramme waren gefammelt, die verjchiedenen Hand⸗ 
ſchriften derfelben verglichen worden, ohne daß es 
zu irgend einer Spur geleitet hätte, Trotz dem 


63 


ſtellte fich die allgemeine Vermuthung bahin 
daß ber Streih von Militairperfonen qus⸗ 
ngen fein müffe, weil es beſonders bie uns 
ünftige Strenge des Kamafchendienftes, ber 
rdrüdende Einfluß der Disciplin und die Eins 
zloſigkeit, Pebanterie und fonftigen Mängel 
öheren Offiziere gewefen waren, die ber Spott 
härfften hervorgehoben und gegeißelt Hatte. 
Schon lange war man darauf aufmerffam , 
rden, daß ſich eine Anzahl jüngerer Offiziere 
yaar Mal wöcentlih, angeblich zu wiſſen⸗ 
tlichen Vorleſungen verfammelte, die aber 
; in wilden ©elagen ihr Ende fanden, Georg | 
ber Stifter diefed Vereines, Larfien ber Lec⸗ 
yeffelben, und Vorträge über alte Gefchichte 
Poeſie Anfangs allerdings ber Zwed ders 
n geweien. Indeß nach furzer Zeit waren die 
mäßigen Vorlefungdftunden in freie Unterhal- 
en verwandelt worden, und Larſſen's Beleuch⸗ 
en ber antifen Welt, hatten die Köpfe ber 
en Männer mit einem Gährungsftoffe ange 
‚ ber in ben engen Schranfen der Disciplin 
den Raum zu abflärender Entwidlung fins 


64 


ben Eonnte, und ſich alfo in vielfahen Maßlo- 
figfeiten, in ohnmaͤchtigem Trotz und unmwilligem 
Sehorfam Fund gab. Dur Mittelofigkeit und 
Rückſichten mander Art im Dienfte feftgehalten, 
fi) gegenfeitig fteigernd in ber Unzufriedenheit 
mit ihrer Lage, und wie bie meiſten Menſchen 
geneigt, lieber die Härte des Schickſals als bie 
eigene thatenſcheue Schwäche anzuflagen, warb 
‚eine Theorie der fpottenden Weltverachtung,, jes 
ned wüften Weltfchmerzes, unter ihnen Mode und 
Lord Byron ihr Held. 

Feder von ihnen liebte ed, fi) mit dem Dich⸗ 
ter, dem fürftlichen Grafen, dem freigeborenen 
Engländer zu vergleichen, der trog ber Vorzüge 
jeined Genies, feiner Verhältniffe und feines Va⸗ 
terlandes, ſowohl an den eigenen Mängeln als 
an ben Borurtheilen feines Volkes untergehen 
mußte, und Niemand bebachte, wie fo gar feine 
Aehnlichfeit obwalte zwifchen dem wüften Unbes 
Hagen eined Seconbelieutenantd in einer beutfchen 
Garnifonsftabt, und dem Lebensfchmerze eines 
fürftlihen Genies mitten in dem Strom ber 
Welt und feiner Zeit. Träume von idealen Zu- 


65 


en, in denen ber freien Manneskraft feine 
ranke die Entfaltung wehren follte, wurden 
e der Zucht einer Disciplin verfündet, gegen 
je von den jungen Herren felbft eine um 
; Viertelzolles längere Haarlode ald ein Ver⸗ 
en angefehen wurde, bad zu begehen fie 
wagten. Welt» und Menjchenverachtung, 
tt gegen alle beftehende Ordnung waren in 
Munde, während man die Avancementliften 
'Altig verfolgte, und jene Entfittlichung, welche 
ausbleiben kann, wo die Außeren und inneren 
yaltniffe des Menfchen fi) durch feine Schuld 
:genftehen, hatte fo tief unter den jungen Offi⸗ 
n Play gegriffen, daß man es ihnen wohl 
men durfte, fich felbft und ihre Lebenslage 
nädtig in anonymen Padquillen zu vers 
en. 

Des Barond Widerwille und Verachtung ges 
die Urheber dieſes Vorganges Eonnten den 
ven nicht verborgen bleiben, und der Ge⸗ 
e, Georg könne Theil daran haben, Fönne 
Zorn feines Vaters auf ſich ziehen, ließen 


uften feine Ruhe, Sobald fie fih an einem 
Wandlungen. U. 1») 


66 


ber folgenden Tage allein mit ihrem Better fah, 
trat fie vor ihn hin, nahm feine Hand und fagte: 
„Sch habe eine Frage auf dem Herzen, Georg, 
bie ich nicht wagen würde, Eönnte ein Anderer fie 
Dir thun? Kann ich Dir nicht helfen?“ 

„Mir Helfen? und wozu?” entgegnete ber 
Lieutenant. 

„Haft Du Nichts auf dem Herzen, Georg?“ 
forfchte fie weiter, während mädchenhafte Befan- 
genheit ihre Stimme beben ließ, denn fo fehr 
fie das Alleinfein mit dem Better auch gewohnt 
war, machte ed fie heute verlegen, weil fie es ges 
fucht hatte. 

„Auf dem Herzen habe ich Nichts, Augufte; 
aber ich glaube wahrhaftig, idy habe im Herzen 
was für Di, ich glaube, ich habe mich neulich 
auf dem Balle Knall und Fall in Dich verliebt!“ 

„Scherze nicht, ich bitte Dich,” rief fie, wäh 
rend eine dunfle Röthe ihre Wangen fürbte, „ich 
bin in Todesangft um Di. Haft Du dad Pas- 
quill gemacht?” 

„Hältft Du mich für ſolchen großen Dichter? 
Das jchmeichelt mir, denn ich finde es prächtig!” 


67 


Haft Du das Pasquill gemacht?“ wieders 

fie dringender. 

Kein!" antwortete er ihr. 

Da fei Gott dafür gedankt! das wäre bed 

{8 Tod gewefen und — —“ 

Sie ſah den Lieutenant an, er war blaß ges 

en. „Du haft es gemacht!” rief fie er 

fen. 

Und wenn dad wäre, thörichtes Kind?” 

Dann würdet Du caffrt — —“ 

Und ich wäre freil” unterbrach fie der Lieute- 

mit Falten Tone. 

Aber der Vater! der Vater!“ mahnte das 

hen. | 

Des jungen Manned Stirne verdüfterte fich 

7, Augufte weinte. „Du bift fehr gut, Au⸗ 

“ fagte er. 

Dich caffirt, Dich im Gefängniß zu wiffen, 

ie, „das überlebte ich nicht!” 

der Wehruf tiefen Schmerzes fchlug an das 

bed Dffiziered. Er war im Zimmer umber 

ıgen, jest blieb er plößlich vor dem Mädchen 

ı und fah es betroffen an. Sein forfchendes 
y* 


68 


Auge verwirrte die Aufgeregte bis zum Unertrag- 
baren, und in dem Gefühle, fich feinem Blicke zu 
entziehen, warf fie fi) an feine Bruſt, fafſungs⸗ 
[08 die Worte wiederholend: „ich überlebe ed nicht!” 

Er hörte ihr Herz an dem feinen Flopfen, bie 
ſchoͤne Geftalt hing an feinem Halfe, und als 
entzünde ihn plöglich ein eleftrifcher Funke, fo 
fett ſchloß er fie an ſich. „Liebſt Du mid, Aus 
gufte?” fragte er. 

Sie antwortete nicht, aber fie weinte und 
hatte feinen Kuß gebulbet, als fie Schritte im Vor⸗ 
zimmer hörten. Der Better ließ fie los und fie 
entfchlüpfte, während ed an bie Thüre bes Ge- 
maches Flopfte und Larſſen hereintrat, 

„Hört uns hier Jemand?” fragte er. Der 
Lieutenant verneinte. „Ich komme von Deinem 
Vater, der mich rufen laffen, und habe Dir eine 
Mittheilung zu machen. In einer Stunde fine 
deſt Du mich zu Haufe, fei aber pünktlich!“ 

Damit entfernte er ſich, als wolle er nicht in 
ber Gefellfchaft des Lieutenantd gefunden werden 
und verließ dad Haus. 

Georg folgte ihm um die angegebene Zeit. 


69 


» Larfien im Schlafrod audgeftredt in 
Iten Lehnftuhl liegen, den er, wie das 
Robiliar, aus dem Schiffbruch feines frü- 
bend gerettet hatte, und deſſen funftreiches 
igwerf auffallend gegen das hie und da 
n berabhängende Leder contraftirte, aus 
nwand und Roßhnar durcheinander her⸗ 
en. Auf der Marmorplatte feines Tijches 
und lagen leere Bierflafchen und Bücher, 
und Haarbürften umher, fo daß der Ein- 
die peinlihe Ordnung, welche ber Bes 
feinem Zimmer fonft feft zu halten pflegte, 
vermißte, 

en hatte fih eine Pfeife geftopft und 
ie Rauchwolken behagli in bie Luft. 
Bater ift ein fonderbarer Mann!” das 
ie Worte, mit denen er den Offizier em« 
nd ohne ihm Zeit zu einer Trage zu lafs 
te er hinzu: „Ich denfe fchon die ganze 
über diejenigen Elemente der Menfchen- 
ih, aus denen dad Weſen der Racen be- 
yenn ed ift etwas Myſtiſches um die Ras 
find unzerftörbar!* 


* 


70 


„Aber was hat das mit meinem Vater ges 
mein?“ fragte der Andere gefpannt. 

„Ich ſage Dir ja, daß er mid) grade erft dar⸗ 
auf gebracht hat, liebes Kind! Die Raceneigen- 
thümlichfeit ift unzerfiörbar, Dein Vater ift bie 
Probe von dem Factum. Das gefällt mir an ihm.“ 

„Was gefällt Dir?” rief der Lieutenant noch 
eifriger, „überwinde Deine contemplativen Schrol⸗ 
len, Zarfien! Was ift vorgegangen ?” 

„Es liegt in der ganzen Ariftofratie noch Et⸗ 
was von dem ritterlichen Geifte des: la bourse 
ou la viel und Dein Bater hat diefen Zug in 
einer Weife, die mir Achtung einflößt. Aller 
Radicalismus hat etwas Reſpectabeles!“ 

„Du bift unerträglih, Larſſen!“ fehalt der 
Andere, aber Jener ließ ſich nicht aus feiner Ruhe 
bringen. Mit hoͤchſtem Behagen ftopfte er bie 
Pfeife nah, dehnte fih in feinem Seſſel und 
meinte: „Weil ich endlih ein Mal die Luft ges 
nieße, die aus dem Nichtbefigen entfpringt, weil 
ich zum erften Male mich der philofophifchen Un- 
abhängigfeit mit Freude bemußt werde, zu ber 
mein Leben mich geführt hat, und weil ich nicht 


71 


bereit bin, dies wohlthuende Gefuͤhl um 
twillen aufzuopfern, ſchiltſt Du mich uner⸗ 
ch. Das Gluͤck erzeugt gleich Neider! — 
ic könnte Dir in dieſer Stunde wie Dioge⸗ 
agen: „geh mir aus der Sonne!” 
ein ganzed Geſicht lächelte in dem Ausdruck 
er Zufriedenheit, indeg Georg unruhig im 
er auf und niederging, wohl wiflend, baß 
Larfien in folhen Stimmungen gewähren 
muͤſſe. Auch rauchte er noch eine Weile 
fort, ehe er, gegen den Lieutenant gewendet, 
ınhob: „Heute Morgen, wie id) eben aus 
Schule fomme und die Erercitienblicher meis 
tinderchen vor mich hinlege, kommt Euer 
ann und beftellt mir, Dein Vater wolle mich 
en und zwar wo möglich gleich. Ich ziehe 
nur den Schulrod aus und begebe mid) 
fhuldigft auf den Weg!" — 
ırffen machte paffend und rauchend eine 
, ©eorg trommelte vor Ungebuld mit den 
m auf der alten politurlofen Marmors 
des Tiſches. „AB ich hinkomme,“ 
Jener dann fort, „finde ich Deinen alten 





72 


Herren allein. Er hatte feine ganze landftaͤndiſche 
Phyfiognomie angenommen, und ed ift wahr, ed 
liegt dann etwas Princieres in feinem Weſen. 
Er nöthigte mich zum Sopha, das fiel mir auf, 
und fagte dann ohne alles Preambuliren: „Sie 
wifien, lieber Larfien, weshalb ich Eie fommen 
laffen. Die Sache mit den Pasquillen ift mir 
fehr fatal. Georg ift, das fteht bei mir feft, das 
rin betheiligt, aber und Beiden ift ed befannt, 
daß er nicht Verſe machen fann. Die Berfe find 
von Ihnen!” 
„Run?“ fragte Georg. 

„Run,“ entgegnete Zarfien, „ich fand biefe apo⸗ 
biktifche Verhoͤrsweiſe fehr auffallend, ſo fehr, daß 
fie wirflich nahe daran war, mich perpler zu mas 
hen. Indeß nod) während ich mich befann, vor 
welchem Richterftuhle der alten ober der neuen 
Melt eine foldhe Art ded Verfahrens vorgefoms 
men fein Fönnte, fchnitt er meine Betrachtung 
plöglih ab, „Sch laſſe die Sache an und für 
fi) ganz dahingeftelt fein. Ich erlaube mir auch 
nicht, Ihnen meine Anficht darüber auszusprechen, 
jagte er, ich verlange nur, daß Sie ſich willig 


73 


n laflen, fie zu applaniren, denn mich bünft, 
ald der ältere Dann, ald der Erzieher meis 
Sohnes hätten ſich zu ſolchem Unweſen nicht 
tlaffen follen!“ 
tarfien fuhr fih, als er fo weit gekommen 
‚ mehrmald mit der Hand durdy dad Haar, 
die Weſte zurecht, Flopfte die Pfeife aus und 
» fi, fie neu zu ftopfen. „Und das Ende 
Liede?“ drängte Georg. 
‚Das läßt fi ohne die Zwifchenglieder gar 
geben, lieber Sohn} und Du kannſt es ab» 
n, da es Did Nichts angeht. * 
Da e8 mid Nichts angeht? Ach denfe, Du 
ſt, wie nahe es mich angeht?“ 
eines Weges! warte nur das Ende ab, — 
inte Deinem Vater im Grunde nicht fo Uns 
ben, ich glaube fogar, ich fühlte eine Ans 
g von Neue oder gar von Scham, aber 
fie nicht auffommen in mir, denn Spi⸗ 
Recht, die Scham ift eine Schwäche. 
n ed Deinem Vater gar nicht auf meine 
ıgen anzufommen, fondern nur auf meine 
Er ift coneret in folden Dingen. 


7A 


„Wie die Sachen liegen, fagte er, ift es, da viele 
Perſonen um den Srevel, fo nannte er es, wiſſen 
müflen, unzweifelhaft, daß die urfprünglicen 
Thäter, die Urheber und Berbreiter dieſer Epi⸗ 
gramme, in kürzeſter Zeit befannt werden. Sit, 
als Privatperfon, trifft dabei nur eine gewoͤhn⸗ 
liche Geld» oder Feſtungsſtrafe, die Offiziere aber 
fommen vor das Kriegögericht, und bei der Frech⸗ 
heit, mit der die Pasquille ſich gegen bie Vorge⸗ 
festen, ja felbft gegen die Regierung äußern, droht 
den Theilnehmern des Complots eine weit: fchwer 
tere Etrafe, wo nicht Baffation. Zu biefer Au 
fiht haben Sie Georg verholfen!" — Ich fah 
ihm an, daß bie princiere Phyfiognomie mit 
ber väterlichen Kränfung, ja felbft mit Ruͤhrung 
fampfte, und daß ich Dir es Furz geftehe, ver 
Menfh hat wunderbare Momente, es Fam eine 
Rührung auch über mid, Dein Bater that mir 
leid, man fieht ed, daß Gornelie ihm Kummer 
macht, ich fam mir miferabel vor, daß ih Dich 
nit abgehalten, in diefe Patſche Hineinzulaufen. 
Es war mir opferburftig zu Muthe und idy fragte, 
was ich für Dich thun könne?“ 


75 


Es handelt fich nicht allein um meinen Sohn, * 
er, „die Söhne mehrerer angefehener Yamis 
find von gleicher Strafe bedroht. Eie ha- 
mir vor längerer Zeit den Wunſch ausge⸗ 
yen, in Paris zu leben. Gehen Sie nad) 
z1u 

Was Fannn das helfen, Ercellenz?” erlaubte ich 
ju fragen. 

Es rettet alle Mebrigen!” — 

Wie das, Ercellenz?“ 

Man ift, ich weiß es, nicht begierig, den 
hen Geift zu documentiren, der unter ben 
ieren Platz gegriffen bat, und fo ftrafbar 
verdammendwerth die Sahe war, würde 
ficher den Eclat einer maffenhaften ftrengen 
afung ber Offiziere vor den Gemeinen gern 
eiden. Indeß die Gerechtigkeit und die Ges 
yaft fordern ein Opfer, und Sie follen es ihr 
en!” 

Diefe Intention war klar und deutlich aus- 
ochen, bündig auch, aber noch immer ver- 
ich nicht, wie dad mit meiner Reife nad) 
3 zufammenhängen Fönne, bis Dein Vater 


76 


— — — — 


mir ſagte: „Lehnen Sie die Autorſchaft der Epi⸗ 
gramme nicht von ſich ab. Man iſt auf Ihrer 
Spur und wird Sie zum Verhoͤre ziehen. Laͤug⸗ 
nen Sie nicht, decken Sie die Anderen und gehen 
Sie vor der Entſcheidung nach Paris. Sie haben 
geſagt, mit zweitauſend Franken getrauten Sie 
fi) in Paris zu leben. Ich garantire Ihnen die 
Summe für zwei Jahre!” 

Da der Lieutenant überrafcht war, hielt der Andere 
inne, „Nicht wahr,“ fagte er, das „confternirt Dich 
auch. ES ging mir ebenfo, — — Der Vorfchlag 
leuchtete mir ein, aber id) Eonnte ihn nicht gleich fo 
faffen, wie man feinen gewohnten Bierfrug an⸗ 
faßt, ich mußte mir erft Paris vorftellen und 
mich in Paris. Aber da war ed, wo dad ebels 
männijche la bourse ou la vie! dann plößlich 
burchbrach in dem Alten. Er war ganz ruhig 
und gelafien gewefen all die Zeit. Nun fuhr er 
auf: „Sie Haben zwei Alternativen, fagte er, 
hier dad ©efängniß, denn die Geldftrafe würde 
zu hoch fein für Ihre Mittel, und in Folge des 
GSefängniffes die Unmöglichkeit des fpäteren Wies 
bereintrittes in die Schulen, an denen Sie unterrid)s 


n 


77 


— — — — — 


— dort für zwei Jahre, an dem Orte Ihrer 
hnuſucht, eine geſicherte Eriftenz und die Moͤg— 
‚feit, fih in neuen Berhältnifien eine ehrenvol 
— er fagte nicht ehrenvolle, merfe daß, 

fi) eine ehrenvollere Zufunft zu begründen. 
ihlen Sie!” 

„Und Du haft?“ — — rief ber Lieutenant. 
„Ih Habe mir Bebenfzeit ausgebeten!“ ant« 
rtete Larſſen, fih an der Verwunderung feines 
ıgen Freundes ergößend, während dieſer felbft 
ı über fein perfönliches Empfinden faum Res 
nfchaft zu geben wußte. 

MWie man dazu gekommen war, ben erften 
danfen zu dieſen Spottgedichten zu faffen, wie 
an bie Einfälle des Einen die Maßlofigfeit 
db Tollfühnheit des Anderen gefteigert hatten, 
b Keiner vor dem Unternehmen zu warnen ges 
‚gt, aus Furcht für muthlos angefehen zu wers 
i, dad Alles wußte er fich nur theilweife klar zu 
hen. Es Liegt in ſolchen Handlungen eine 
treißende Kraft, die und fchnell vom Urfprung 
ſeres Wollens entfernt und und immer über 
fer Ziel hinaustreibt. Dieſe Epigramme und 


18 


das Bertheilen derfelben, worauf man fo großen 
Werth gelegt und von denen man fidy eine Auf 
fehen machende und felbft nachhaltige Wirkung 
veriprochen hatte, wurden im Publifum fchon nach 
wenig Tagen von den Einen als ftrafbare Frech- 
heit, von den Anderen als ein thörichter Jugend- 
ſtreich angeſehen, ohne daß irgend Jemand ih- 
nen eine tiefere Bedeutung beizulegen dadjte. Der 
Doctor, an beffen Urtheil dem Lieutenant vor- 
zugsweife gelegen war und von dem er Lob zu 
hören erwartet, tadelte den Leichtfinn, Petarden 
abzufeuern vor dem Angriff und den Feind zu 
alarmiren. Georg felbft aber war zu gut erzo- 
gen, um nicht Reue zu fühlen über die, gegen den 
fürftlichen Befucher verübte Tactlofigkeit, und über 
den Bruch des Gaftrechted gegen denſelben. Ob 
der Lieutenant ſich damit gefchmeichelt, man werde 
die Verfaſſer nicht entdeden, was er fich übers 
haupt gedacht, mochte er fich jegt nicht eingefte- 
hen. Die gewollte und die vollbradyte That fe- 
hen fich in dem Auge des Thäterd oft gar nicht 
mehr gleih. Er fchämte fi vor feinem Bater 
der Rolle eines PBasquillanten, ald hätte er einen 


79 


uchelmord begangen. Selbſt die oft auöges 
ychene Behauptung, er wolle der Entdedung 
) fein, wenn fie ihn nur befreie aus dem 
ange des Soldatenlebend und ihn aus feiner 
terftadt entferne, bünkte ihn jetzt Vermeſſenheit, 
er eine den Sohn entehrende Beftrafung über 
ı Haupte feined Vaters ſchweben fah, und 
juſtens Liebe ihm plögli das Verweilen in 
Heimath wuͤnſchenswerth gemacht hatte, | 
Dennoch fträubte ſich fein Ehrgerühl ebenfo 
dagegen, die Schuld auf fremde Schultern 
wälzen, als ihn die Art verwundete, in wel- 
der Baron, gleich einer allmaltenden Vorſe⸗ 
g, fih der Sache bemeiftert hatte. Er ver: 
hier ihm feine Sorgfalt nicht zu danfen., Es 
fte ihm leichter die eigene Schuld zu büßen, 
ſich willenlos wie ein Knabe, durch das Zus 
n eined Anderen, vor der Strafe bewahrt zu 
n, und bies letztere Gefühl behielt Die Oberhand, 
„Sch hoffe, Du wirft nicht gehen!” rief er 
, ald Larſſen fchwieg. 
Diefer ſah ihm befremdet an. „Weshalb 
t?“ fragte er. 


80 


„Alfo wirft Du gehen?“ 

„Das babe ich nicht gefagt! Denn daß id 
Dir es ehrlich geftehe, es reizt mich grade, fo 
die Wahl zu haben!“ 

Georg zudte die Achfeln, Larfien beadhtete 
ed nit. „Ich habe mir immer gebacht, wenn 
id) einmal dad große 2008 gewönne”, fprady er, 
„9 würde ich erft mit dem Bewußtfein meines 
Reichthums einen Tag noch ganz in der gewohnten 
Weife leben, um mir des Unterfchiebes zwiſchen 
meiner Gegenwart und Zufunft recht fcharf bes 
wußt zu werden. Dann würde ich mich in Chams 
pagner betrinfen, mich jchlafen legen und mit dem 
tefpectabelen Bemwußtfein jedes reihen Mannes 
mid) am andern Morgen als ein ehrbarer Menſch 
von meinem Lager aufrichten. Laß mich heute 
noch der alte Larfien fein, ich werde Dir mors 
gen weiter Antwort jagen!” 

„Keiner von Allen nimmt es an, Did) fort: 
ſchicken und fi) fo begnadigen zu laſſen!“ 

„Ohne Weiteres Seder!” meinte Larfien. 

„Beftände mein Vater nicht darauf,” rief der 
Lieutenant, „ich Fönnte den Gedanken — — —“ 


81 


und fügte Hinzu: „id würde folchen 
für unmoͤglich halten,” 

‚glih, daß Einer Buße thut für bie 
iner Freunde? Was feheint Dir daran 
ih? Hat doch der Heiland die Sünden 
auf fid) genommen, und die Menich- 
fih Gott verföhnt dadurch. Weshalb 
zaubern ein Märtyrer zu werden, unb 
der falfhen Babylon Paris für Eure 
ran dad Kreuz fchlagen zu lafien? Ich 
e ein guter Menſch!“ 

(ug dabei fein heijered Lachen auf, ſtreckte 
. im Xehnftuhl liegend, über die Xehne 
n Stuhle® und blied die blauen Rauch⸗ 
it folhem Entzüden in die Luft, daß 
anfah, wie glüdlich er fich fühle. 
ieutenant ging während deſſen im Zim⸗ 
und nieder, Ploͤtzlich blieb er ftehen. 
ıte der Sache mit einem Schlag ein 
ben!” rief er aus. 

das?“ fragte der Andere, 

n ich hinginge und mid) ald das Haupt 
nehmens nennte.“ 

ngen. IL. 6 


82 


„Welch abgeichmadte Smitation Karl Moor's! 
Wenn man dad Haupt abfchlägt, laͤhmt man bie 
Glieder! Bedenke, lieber Sohn! daß Deine Strafe 
audy- die Deinen träfe, und daß Du mir die Wol- 
luft diefe® Tages, die Ausficht raubteft, in Paris 
ein ehrenvollereß Leben, wie's Dein Bater nannte, 
zu beginnen, Nur in der Grammatif bilden zwei 
Negationen eine Bejahung, im Leben macht man 
eine Dummheit nicht durch die zweite Dummheit 
todt.“ 

Georg ging wieder auf und ab im Zimmer, 
aber was er auch gegen bie Abfichten ſeines Bas 
ters fagen mochte, Larfien wußte es von feinem 
Standpunfte aus zu widerlegen, und man fam 
endlich darin überein, auch die Uebrigen zu bes 
fragen und ed von dem Willen der Mehrheit abs 
hängig zu machen. 

Ad der Lieutenant in feine Wohnung zurück⸗ 
kehrte, fand er einen alten Wachtmeiſter ſeiner 
wartend, der ihm in Dienſtſachen eine Meldung zu 
machen hatte. Nachdem der Rapport zu Ende war, 
blieb der Alte noch ſtehen. Georg hatte ihn lieb 
und die ganze Escadron ſah ihn als ihr Orakel 


83 


. Unerbittlich und felbft tyrannifch im Dienfte, 
r er nacfichtig und mitleidig gegen die Leute 
db half mit Rath und That bereitwillig aus, 
nn ein Burfche außerhalb deſſelben in irgend 
Iche Verlegenheit gerieth. Ohne Neugier oder 
dringlichkeit wußte er Alles, was in der Ess 
ton paffirte, und felbft die Abenteuer der Offi⸗ 
re waren ihm nicht unbekannt, obfchon Niemand 
jugeben vermochte, auf welche Weiſe er fie ers 
tr. Denn er lebte meift für fi), und feine Er⸗ 
ung beftand darin, Hunde zu breiliren und 
gel abzurichten, wenn er am Tage Pferde zus 
itten und Recruten ererzirt hatte. „Er fei eins 
l zum Lehrmeifter geboren,” fagte er von fh 
ft. | 

Den Lieutenant Hatte er ſchon als Fleinen 
Knaben gekannt, denn der Wachtmeifter war einft 
der Burfche feines Onfeld und mit dieſem häufig 
auf dem Stammfchlofle geweien, ehe der Obrift 
von Heidenbrudf dad Regiment verlaffen und ſich 
in Steinfelde niebergelaffen hatte. Daß wieder ein 
Herr von Heidenbrud bei den Euiraffieren eingetres 


ten war, hatte dem Alten zu einer befonderen Genug⸗ 
6* 


84 


thuung gereiht, und wie er dem Onfel, unter 
dem er die Campagne durchgemacht, mit Leib 
und Seele ergeben war, fo hatte er auch den 
Lieutenant von erfter Stunde an in Affection ges 
nommen. | 
Einen Augenblid ſchwieg der Alte, dann fagte 
er: „Der Herr Lieutenant von Maſſenbach hat 
Malheur mit feinem Fuchs!’ | 
„So? was ift ihm gejchehen?‘ fragte Georg. 
„Er war mit ihm am Strande, da haben fie 
ihn nicht abgewartet, wie er ankam, und ba iſt 
bad arme Vieh verfchlagen, daß es ein Sammer 
und 'ne Schande iſt.“ 
„Iſt denn Nichts damit zu machen?“ 
„Glaub's kaum, er wird Faput fein; und 
fo 'n prächtiges Thier. Er konnte noch vorige 
Woche fiebzig Friedrichsd'or dafür Friegen |” 
Damit ſchien die Sache erledigt zu fein, und 
Georg, der in fich beichäftigt war, hatte Feine 
Neigung, weiter mit dem Wacdhtmeifter zu verkeh— 
ren. Diefer bemerkte dad wohl, ohne fich jedoch 
zu entfernen, fo daß Georg ihn endlich fragte, 
ob er ihm noch Etwas zu fagen habe? 


85 


3a, Herr Lieutenant!’ antwortete er näher 
d und den Helm abnehmen, „ich hab’ was 
em Herzen, was ber Wachtmeifter freilich 
icht raus nehmen darf, dem Herrn Lieute⸗ 
zu fagen, aber ich benfe, ihr alter Exerzir⸗ 
e vom Gut darf es Ihnen wohl jagen!‘ 

r legte den Helm auf einen Stuhl, als 
er mit der Aufhebung der reglementsmäs 
Tracht auch fein Dienftverhältnig ab, und 
n dad Fenſter tretend, an dem Georg fi 
gelaffen hatte, fagte er: „Herr Lieutenant! 
it gar Nichts zu fagen, wenn die jungen 
n über die Schnur hauen, das fchadet gar 
3144 

Wie fommft Du darauf? If Etwas pafs 
fragte Georg, der außerhalb ded Dienftes 
Bachtmeifter, wie als Knabe, auch jest noch 
u nennen liebte, 

Baffirt fo recht eigentlich ift Keinem Etwas, 
Lieutenant! — Aber wenn der Bulldog, 
ch jest für den Hauptmann von Werns⸗ 
n Drefjur genommen babe, merkte, daß mir 
mmen ift, jo wol’ ich nicht mehr einen 


86 


Groſchen für meine alten Hände geben, Wenn 
fo ein Vieh weiß, daß es beißen Tann, fo beißt 
es auch, und ber Soldat, der gemeine Mann, ift 
nicht viel beſſer!“ 

„Was bat das aber mit den Dffizieren zu 
thun?“ 

„Sehen Sie, Herr Lieutenant! der gemeine 
Mann denkt: leben und leben laſſen. So 'n Han⸗ 
bel mit einem Frauenzimmer, oder einmal Lärmen 
und Sfandal, oder ein Glas über den Durft, 
das gefällt ihm gut, er thät ed auch, wenn’ 
ginge. Aber da oben, da muß Nichts gerudt 
werden und gerührt! Wenn die Herren Offiziere 
nicht mehr an den General wie an ihren lieben 
Herrgott glauben, da ift im Regiment der Satan 
08, und der Teufel holt die Mannszucht, halten 
zu Gnaden!“ 

Der Lieutenant war betroffen. „Was fagt 
man davon?’ fragte er. 

„Das Sagen wollt ich ihnen wohl verboten 
haben !’’ rief ver Alte, „aber feit die Kerle leſen 
fönnen und alles ungewafchne Zeug in den ver 
bammten Zeitungen gebrudt wird, ba friegen fie 


87 


fahren, mehr ald ihnen Nutz ift, und id) 
te den Herm Lieutenant bloß gebeten haben, 
tachen, daß es davon ftil wird. Das Exem⸗ 
ft Alles im Regiment!’ 

Sr nahm bei diefen Worten feinen Helm wies 
wf, und fchicte fich zum Fortgehen an. Da 
teutenant ſchwieg, drehte er nochmals um, 
hts für ungut, Herr Lieutenant!’ fagte er. 
‚Im Gegentbeile! ich danfe Dir, und Du 
Recht!“ entgegnete der Lieutenant, dem bie 
te des Wachtmeifters das Blut in die Wans 
trieben, 

Nie einfache Ermahnung dieſes Mannes 
te ihn erſchrecken. Sie wirkte tiefer auf ihn, 
yätte fein Vater oder einer feiner Vorgeſetzten 
bie Unmöglichkeit vorgeftellt, die militairifche 
nifation ohne Disciplin aufrecht zu erhalten, 
trotz feines alten Widerftrebend gegen bie 
drigung des Menfchen zu willenlofer Folg⸗ 
it, überfam ihn zum erftenmale der Refpect, 
alles in fich organifch Beftgegliederte dem 
unen Betrachter einflößt. Diefe Organifation 
perfönlihen Mißempfinden angetaftet zu has 


88 


ben, ohne daß er ein Beflered an ihre Stelle zu 
fegen gewußt hätte, beihämte ihn und bünkte ihn 
ſelbſt jet Enabenhafter Leichtfinn. Er fühlte, daß 
er feinem Eide zu nahe getreten fei, und baß ed 
nicht immer darauf anfomme, durch einen Act ber 
Buße feinem Gewiſſen und feinen Ehrbegriffen zu 
genügen, fondern daß es hier feine Pflicht wäre, 
ſich fchweigend felbft zu vergeflen, wo es galt, 
die mangelnde Achtung der Offiziere. vor dem 
Chef, die fehlende Ehrerbietung vor ben Inſti⸗ 
tutionen zu verbergen. 


Biertes Kapitel, 


— — — 


Faſt um dieſelbe Zeit, in welcher dieſe Ereig⸗ 
die Ruhe in ihrem Vaterhauſe ſtörten, war 
in Helenens Leben einer jener Wendepunkte 
etreten, die innerlich lange vorbereitet, dennoch 
ploͤtzlich zu kommen ſcheinen. 

Mehr als ſechs Jahre waren nach ihrer Ents 
ung aus dem Baterhaufe, nach ihrer Ankunft 
Reapel vergangen, das fie nur einmal verlafs 
hatte, um die Familie ihres Gatten in Frank⸗ 
ı fennen zu lernen. Weder ihren Water nod) 
8 ihrer Befchwifter hatte fie wieder gefehen, 
Erich auf feiner großen Reife fie im erften 
re ihrer Ehe in Neapel befuchte, und nur ein 





s 


90 


häufiger Briefwechfel Hatte fie mit den Ihrigen 
zufammengehalten, ber mehr und mehr an Ber 
traulichfeit verloren, je fchwerer die Sinnesart 
bed Barond und Corneliens religiöfe Richtung 
mit den Berhältniffen der Gräfin zu vereinen 
waren. 

Jetzt, da die heiße Jahreszeit vorüber, hatte 
fie ihren Sommeraufenthalt in Caſtel a Mare 
beendet, und wieder das Geſandtſchaftshotel in Nea⸗ 
pel, den jchönen Palaft an der Riviera bezogen, ber 
gegen den PBaufilipp hin gelegen, die Vorzüge ber 
Refidenz und die vollen Reize der Natur zugleid 
zu genießen geftattete, 

Der October, der im Norden ſchon den Wins 
ter ahnen läßt, bringt in jenem glüdlichern Clima 
neued Leben und Werden, wenn bie Regengüfle 
den vom Sonnenbrande burcdhglühten Boden ger 
tränft und zu frifcher Thätigfeit erfräftigt haben. 
Die Bäume grünen wieder in glänzender Blätter 
fülle, die Orangen bringen ihre Blüthen in we 
nig Tagen neu hervor, die Palme hebt ftolzer 
ihre Fächerarme in die Luft, Alles treibt, wächft, 
blüht, duftet und funfelt in Farben, und felbft 


91 


Meer fcheint voller und reicher zu wallen, 
er und höher binaufzufchäumen an den Fuß 
Felſenſtrandes. 

56 war die fechöte Abendſtunde und die Hitze 
Tages vorüber, als man alle Fenſterthuͤren 
Palaſtes öffnete und die Gräfin, von einem 
ne gefolgt, auf die Terraffe trat. Die Sonne 
Südens hatte auch fie gereift, ihre Anmuth 
zirkliche Schönheit verwandelt. Ihre Züge 
n an Feſtigkeit gewonnen, der Teint an Farbe 
Kraft, die Kippen waren voller, die Augen 
jender geworden und bie ganze Geftalt zeigte 
; feltenen Adel und eine ftrahlende Lebens⸗ 


luch betrachtete ihr Begleiter fie mit Entzüs 
wie fie bahinfchritt in ihren luftigen, weißen 
ändern, hie und da an einem Blumenbeete 
eilend, um jene dunfelrothen Nelken zu bres 
bie Lieblingsblume der Neapolitaner, bie fie, 
Strauß vereint, an ihren Buſen ſteckte. 

118 fie dann auf und niederwandelnd ihre 
n weithin ſchweifen ließ über das blaue 
, hinüber zu dem ruhenden Vulkane, veffen 


92 


Rauchfäule ſich im Lichte glänzend und weißröthlich, 
wie eine japanifche Lilie zu dem tiefblauen Hims 
mel erhob, fagte fie: „Diefe Stunde ift mir ftets 
eine der liebften ded ganzen Tages, denn immer 
wieder überwältigt mid), wenn ich aus dem Füh- 
len Schatten meiner Zimmer Abends hinaustrete, 
die wundervolle Schönheit diefer Natur. Dies 
Land jemald zu verlaffen, dieſe Ratur zu entbehs 
ren, wäre mir der größte Schmerz!“ 

„Das Geſtaͤndniß ift verrätherifh Frau Grä- 
fin!* fagte der Cavaliere mit jener einfchmeicheln- 
den und doch beherrichenden Baritonftimme, die 
den Stalienern eigen und des Eimdrudes auf Frauen 
fo gewiß ift. Ä 

„Verrätheriſch?“ wiederholte Helene y „und 
weshalb?’ 

„Wer, fo jung, fo ſchoͤn wie Sie theure Graͤ⸗ 
fin! feine ganze Befriedigung aus der Natur zu 
Ichöpfen fi gezwungen fieht, dem bietet das Le⸗ 
ben fein Glück. Vor dem Zauber der Liebe er⸗ 
blaſſen die Reize der Natur.“ 

Die Gräfin wendete das Auge ab. „Und doch lie⸗ 
ben Sie dieſe Natur ſo tief als ich!“ entgegnete ſie. 


93 


‚Sch bin ein Mann, Signora! und dies ift 
Vaterland !’‘ 
‚Stauden Sie das Weib weniger empfänglich 
eine Schönheit, weniger gemacht, ſich zu er- 
ı.arn den Wundern der Natur, der Kunft und 
Yefchichte, die ung in Italien umfangen ?” 
Der Gavaliere war ihr näher getreten und 
fi) wie fie auf die Baluftrade geftügt, fo 
feine Hand faft die ihre berührte, „Wozu 
zhraſe, theure Gräfin!’ ſprach er, „die an jene 
franzöftfche Schule erinnert, welche das Weib 
Manne machen möchte. Für Emancipas 
gedanken find Sie zu jung und viel zu ſchön!“ 
‚Wozu die Phrafe, Don Camillo? Für Coms 
ente, wie jede Goldonifche Komödie fie und 
t, find Sie nicht gemacht, und ich wenigftend 
e, von ſolchen emancipirt zu werden!” ahmte 
hm nad). 
‚Run denn, Gräfin! da Sie den Scherz nicht 
n laffen, eine ernfte Frage, Wie fonnten Sie 
Ihre Hand vergeben ohne Ihre Neigung ?‘‘ 
‚Das geht zu weit!‘ rief die Gräfin beftürzt, 
er gab Ihnen ein Recht zu diefer Frage?’ 


— 


94 


„Ihre leivenfchaftliche Begeifterung für Ratur 
und Kunft, und meine Theilnahme!“ erwiberte 
er und ergriff ihren Arm, den er in ben feinen 
legte, während er fie langfam mit ſich fortführte, 
um ihre beabfichtigte Entfernung zu verhindern. 

Trotz ihrer Weltgewandtheit fühlte die Gräfin 
fi) verwirrt, denn die unberechtigte Gewalt, die man 
gegen einen Menfchen ausübt, hat etwas Bannen- 
bed. Noch ehe fie ihm zu antworten vermochte, fagte 
er: „Wären Sie ein Weib wie alle anderen, ed 
ſollte mich nidyt kümmern, daß Ihe Leben fi 
von bleihen Träumen, von Gebilden der Phan⸗ 
tafie emährt; aber Sie find Künftlerin, Signora! 
und der Künftler kann nicht fchaffen ohne bie 
Sonne ded Glückes!“ 

„Eine Frau fol Nichts fein, ald das Weib 
ihres Mannes!’ fpottete Helene, 

„Der Sraf hat Recht,‘ fagte der Cavaliere, 
der diefe Behauptung felbft aus dem Munde ih—⸗ 
red Gatten vernommen hatte, „Eine Frau braucht 
Nichts weiter zu fein, wenn fie das glüdliche 
Weib ihres Mannes if. Sind Sie glüdlid, 
Signora?” 


95 


Ihre Farbe wechſelte ſchnell, fie fchwieg einen 
zenblid, fah ihn dann feft an und ſprach mit 
reßter Stimme ein entfchiedened „Nein!“ 
„Und waren Sie e8 je an feiner Seite?” 
„Nein!“ wiederholte die Gräfin, „und id) 
de es nie fein. Ich habe verfucht, es zu vers 
en, ich babe mich zu überzeugen geftrebt, daß 
nicht zum Glücke geboren, daß Entfagen, 
den, fi) mit Unvollfommenen begnügen unfer 
8 ift. Aber Hier, hier‘ — und fie legte die Hand 
das Herz — „lebt die unwiderlegliche Gewiß- 
t: der Menſch ift zum Slüde gefchaffen, und 
re ed nicht fennen lernt, wer, ohne es vol und 
genofien zu haben, durch dad Leben gehen 
ß, der hat fein Xeben verfehlt, wie ich das meine |’ 
Ihre Wangen glühten, ihre Augen leuchteten. 
war nicht die Wehmuth, fondern der Zorn 
en ihr Geſchick, der aus ihr fprechend fie über- 
ltigte. Sie felbft erfchraf darüber, als fie ges 
et hatte, Der Cavaliere fchwieg, ed entftand 
: lange Pauſe. Sie laftete auf der Gräfin, 
„Warum fchweigen Sie,” fagte fie zornig, 
ı Sie mich zum Sprechen hingeriffen haben!” 





96° 

„Weil ich Ihnen die Ruhe gönnen möchte, 
ſelbſt den Schluß zu ziehen. Das ausgefprochene 
Wort klaͤrt und innerlich auf, und macht uns zum 
Betrachter unferer ſelbſt!“ - 

„Sch hafle die Gewalt, die Sie über mich aus⸗ 
zuüben ſtreben!“ rief die Gräfin ungeduldig, „auch 
wenn Sie fie in die befchönigenden Formen eine 
ftügenden Rathes Eleiden 

„Cosi äl’ egro fanciul porgiamo aspersi 
Di soave licor gli orli del vas 


Succhi amari ingannato intanto ei beve 
E dal’ inganno sua vita riceve!“ 


antwortete der Cavaliere, feinen Lieblingsbichter 
eitirend. 

„E dal’ inganno sua vita riceve !“ wieberholte 
die Gräfin nachdenfend, fehüttelte dann das Haupt 
und fagte: „Aus der Täufchung erwädhft fein 
Leben, Täufchen Sie mich nicht! wohin wollen 
Sie mid leiten ? 

„Durch die Kiebe zur Kunft; durch mein Glüd 
zu dem Ihren!’ rief er, und blidte zu ihr hinab, 
nicht wie ein Liebe begehrender Mann, fondern wie 
ein Herricher, der eine Gnade verfündet, welche 
man anzunehmen durch feine Macht gezwungen wird. 


97 


Er war .vollendet ſchön in feiner ſtol⸗ 
Männlichkeit. Sein Auge ruhte ernft und 
nnend auf der Gräfin, feine Hand hielt 
ihre feft umfchlungen, fie wagte nicht zu 
ı empor zu fehen, denn fie fürdhtete ihn, 
d doch ftrömten elektriſche Wellen eines ihr 
nden Entzüdend durch ihr ganzes Weſen. 
it dem Bemwußtfein, einem Zauber bingegeben 
fein, fehlte ihr die Möglichkeit, ſich demfelben 
entreißen. Gebannt durch feinen übermädhs 
en Willen, bob fie endlih um Erbarmen fles 
id die dunflen Augen zu ihm empor, in denen 
chtende Perlen fchwammen, und mit leiden- 
aſtlicher Kraft zog Camillo dad bebende Weib 
feine Arme. Mit glühenden Lippen trank er 
Ihränen, welhe Schmerz und Liebe ihr er- 
Bten, bis fi) ein dumpfer Schrei ihrer Bruft 
rang und fie fich losriß, in eiligem Schritte 
n zu entfliehen. 

Erft in der Stille ihres Gemaches fchöpfte 
Athen. Sie hatte fih in einen Seffel nieders 
vorfen und verhüllte das Gefiht mit den Hän- 
. Ein fliegended Schaubern riefelte erh ihre 


Wandlungen. I. 





98 


Glieder, ihr Bufen bob ſich krampfhaft, bis end» 
lih ein Strom von Thränen ihrer Erfchütterung 
zu Hülfe fam, und alle ihre Gedanken ſich auf 
löften in dem Gefühl des Mitleides mit fich ſelbſt, 
bie fchmerzlichfte Empfindung, deren bie Seele 
fähig if. 

Camillo war der erfte Maler Staliend und 
Helenend Lehrer. Bald nad ihrer Ankunft hatte 
er im Auftrage des Grafen ihr Bild gemalt, der, 
ſtolz auf den Belig des jungen, fchönen Weibes, 
es durch Pinſel und Meißel der erften Kuͤnſtler 
verherrlicht fehen wollte. Und wie Helene als bie 
junge rau eines älteren Gatten jchnell der Gegen: 
ftand der Galanterie ihrer männlichen Alteröge, 
noffen geworden war, fo machte ihre Schönheit 
und ihr Intereſſe für die Kunft fie bald zum 
Mittelpunfte der Künftlerwelt, die der Graf in 
feinem Haufe befhügend zu verfammeln liebte. 

Gefchmeichelt durdy die Bewunderung, welde 
man Helenen zollte, hatte er ihr eine große 
reiheit verftattet, und feit Jahren war in 
feinem Geſandtſchaftshotel ein Salon gleich dem 
der Gräfin St, Brezan zu finden geweſen. Sie 


99 


hatte fidy in diefes ihr neue Leben mit als 
Glückesdurſt der Jugend, mit der Vergeſſens⸗ 
eined unbefriedigten Herzend hineingeftürzt, 
fortgezogen durch die freien Sitten ber neapo⸗ 
iſchen Ariftofratie, Zerftreuung gefucht, da fie 
Gluͤck gefunden hatte. 

denn mit jedem Tage, ben fie an ber Seite 
Brezan’d verlebt, war in ihr das Bewußt⸗ 
mehr und mehr gewachlen, daß fie niemals 
geiftige Gemeinfchaft mit ihm haben fönne, 
die Unterfchiede des Alters, der Erziehung, 
yerfchiedenen Nationalität, auszugleichen wo 
nzeln auftreten, hier, wo fie fich vereint beis 
ven fanden, eine unüberfteiglihe Schranfe 
hen ihnen bildeten. Der Graf nannte Helene 
nental und überfpannt, fie hielt ihn für herzs 
ınd jeder wahren Liebe abgeftorben, er bereute 
eine Frau ohne Xebenserfahrung geheirathet 
aben, fie empfand feine Welterfahrung, welche 
r Ehe ohne Liebe ein bürgerliched Ueberein- 
ven zu gegenfeitiger Förderung zu ehren ver- 
te, als eine Unfittlichfeit. Während ber 
, eiferfüchtig auf Helene, diefe Eiferfucht ver- 

7* 





100 


ſchwieg, verargte fie ihm bie Freiheit, die er ihr 
gewährte, obfchon fie diefelbe nicht entbehren mochte, 
und mitten in den leichtfertigen Xebendgenüffen des 
Kreifes, deſſen gefeierte Schönheit fie war, bem 
fie Mode und Geſetze vorfchrieb, widerte ihr eige⸗ 
ned Dafein fie al8 ein leered und zerftörted an. 
Troft bedürftig hatte fie Zuflucht gefucht in ber 
Kunft, fie hatte gehofft, ſchaffend ſich über ſich 
felbft zu erheben und ein ideales Dafein in ders 
felben zu gewinnen. Ihre Studien waren vom 
glüdlichften Erfolge gekrönt, ein Bild, das fie auds 
geftellt, mit hoher Anerkennung aufgenommen wor 
den. Die Bewunderung, welche man ihrem Ta 
lente gezollt, hatte ihr wohl gethan, fie war reis 
ner, felbftlofer gewefen als bie Huldigungen, bie 
man ihrer Schönheit dargebracht. Sich ploͤtzlich 
von den Künftlern als eine Genoſſin angefehen 
zu wiffen, ihnen mehr ald nur ein begehrendwer- 
thes Weib zu fein, hatte fie in eine neue Sphäre 
erhoben und ihr eine Energie des Strebend geger 
ben, die ihr ganzes Weſen fehnell veränderte, Sie 
glaubte auf Liebe verzichten zu können, da fie die 
Möglichkeit einer Fünftlerifchen Bedeutung vor fid) 


101 


Ihre Lebendgewohnheiten wurben ernfter, ber 
ihred vertrauten Umganges gewählter. 
ien in den Galerien, Arbeiten in ihrem Ate⸗ 
ahnen den ganzen Morgen hin, und mehr 
mehr verlor ſich ihr raſtloſes Hafchen nad) 
euung, feit ihr der Tag zu kurz erfchien für 
Ihätigkeit. Ein edler Ehrgeiz war an bie 
e ihrer Glücks- und Liebesfehnfucht in ihr 
geworden. Aber diefem Chrgeize trat ber 
ihres Oatten hemmend gegenüber. 
‚eitel und zu ftolz, feine Kränfung zu verrathen, 
age die Gräfin Herz und Phantaſie mit geſel⸗ 
Liebeständeleien ausgefüllt hatte, machte 
Eiferfucht fich unverhohlen gegen alle Erfolge 
d, welche fie ald Künftlerin errang. Ein 
neben ſich zu wiflen, das einer perfönlichen 
tung genoß, brüdte ihn ald eine Verkleine- 
feines Werthes. Die Schönheit feiner Frau 
ndert zu fehen, hatte ihm gefchmeicdhelt, denn 
Schönheit war fein Eigenthum geworden, 
Lalent, der Ruhm der Gräfin aber gehörten 
ein, und man muß ftarf fein, um ohne 
jefühl eine Macht neben fid, dulden zu Fön» 


102 


nen, und großherzig, um fi) daran zu freuen, 
bag ein von und abhängiged Weſen eine freie 
Selbftthätigkeit gewinnt. Männer von dem Cha 
tafter und den Anfichten ded Grafen ertragen leich⸗ 
ter die Untreue, als die Berühmtheit einer Frau, 
und faum hatten die Kunfturtheile in der Preſſe 
den Namen ber Gräfin St. Brezan mit Auszeich⸗ 
nung hervorzuheben begonnen, als er ihr unter 
dem Borwande, daß es einer Frau ihres Standes 
nicht gezieme, fich dem Lobe oder Tadel ber Kris 
tif zu unterwerfen, die Studien in den Muſeen 
und das öffentliche Ausftellen ihrer Arbeiten vers 
boten, 

Ein ſolcher Schritt, doppelt ungerechtfertigt in 
einem Lande, das feine Künftlerinnen auf dem 
Capitole Frönt, Hatte Helene empört und ihre 
ganze Hoffnung auf Don Camillo gerichtet, defien 
lehrender Rath, deſſen Anerkennung ihr jett Erfah 
gewähren mußten für bie verfagten Studien, für 
die freudige Theilnahme des Wublicums, die fein 
ſchaffender Künftler ohne Schmerz und Nachtheil 
zu entbehren vermag. 

Ein Wefen, in deſſen Hand bie Erfüllung un- 


103 


Wünfche gelegt ift, müſſen wir aber lieben 
yaffen, je nachdem wir demfelben vertrauen, 
es fürchten. Darin ruht dad Geheimniß 
Irundvorftellungen aller pofitiven Religionen, 
f beruht in vielen Fällen auch die Entftehung 
ebe, Bon ber erftien Stunde ihres Begegs 
mit dem Gavaliere, hatte die Gräfin mit Ers 
n eine Willendfraft in ihm bemerkt, welche 
folhem Grade an feinem anderen Manne 
nommen. In den Sibungen zu ihrem 
war ed ihr geweien, als gehe fie fich felbft 
en, wenn fie von ihm dargeftellt werde, und 
llo's Empfinden hatte dem entfprochen. 

zas der fchöpferifche Menfch fo tief in ſich 
wmmen hat, daß er es lebendig wiederzuges 
ermag, das ift ihm einverleibt, und bie 
ıende Kraft bed Kuͤnſtlers ift gewaltig und 
rkend wie der Magnetismus. Camillo bes 
te die Schönheit der Gräfin als einen koſt⸗ 
Erwerb für feine künftigen Werke, und ganz 
ı wollen, was er in fih als fein geiftig 
thum befaß, mußte für einen Mann natürs 
cheinen, welcher fich feiner Gewalt über 


104 


Frauenherzen nur zu wohl bewußt war, Ein 
glühende Leidenfchaft für die Gräfin, ber et fi 
nicht Worte gegeben, hatte feit lange in ihm ge \: 
lovdert, während Scheu vor dem Manne, Liebe | 
für den Meifter, der ihr die Geheimniſſe der Kun 
erichloß, fich in ihr zu einem Gefühle der Abhaͤn⸗ 
gigfeit verfchmolgen, über das ſich Flar zu werden 
feine Herrfhaft fie verhinderte. Er fannte die 
Frauen und er fannte bie Gräfin. Er wußte, 
daß die Phantafte eines Weibes wirkſamer fpricht 
zu Gunften ‘eines fchweigenden Verlangens, als 
das berebetefte Wort des Liebenden, und auch jetzt 
hatte feine Erfahrung ihn nicht getäufht. Was 
er ber Gräfin nie geftanden, hatte fie vernommen, 
was er ihr heute befannt, hatte fie in ihren Träus 
men fchon von feinem Munde gehört. Sie hatte 
bei dem Beginne ihrer Unterredung mit zitternder 
Gewißheit den Ausgang derfelben vorhergefehen, 
fürchtend und hHoffend hatte ihre Angft felbft ihn 
befchleunigt, und doch fand fie ohnmädhtig ba 
und vol Entfegen vor der Wirklichkeit. 

Ihre Ehe war ein Treubruch gegen ihre Ju⸗ 
gendliebe, dieſe Liebe für Camillo war ein Che 





105 


uch. Wohin fie blickte in ihre Vergangenheit, 
die Gegenwart oder in die Zufunft, fie fah ſich 
mldig, ſchuldig ohne die Fähigkeit, fich bereuend 
verdammen. Ihre Aufregung, ihre Angft gins 
n in eine tiefe Traurigkeit über, Die fürftliche 
usſtattung ihres Gemaches, ihre gewählte Kleis 
ng, ſelbſt ihre Schönheit und der Glanz ber fie 
ngebenden Natur vermehrten nur ihre Niederges 
Hagenheit, Plaſtiſch felbft in ihrem Schmerze, 
g fie die Smaragbnadeln aus ihren Flechten, 
arf fie die Spangen und Bänder von fi, daß 
r Schwarzes, aufgelöftes Haar ſchmucklos hernies 
rfloß auf ihr filberweiß Gewand, und mit em⸗ 
rgehobenen Händen, wie zum Gebete nieberfin- 
ad in die Kniee, weinte fie mit erftickter Stimme: 
Muß ich denn elend fein durch Liebe!“ 
„Glückſelig folft Du fein und machen!” rief 
neben ihr, und mit zärtlicher Gewalt hob Bas 
Klo fie empor. 
„Sie hier?” fragte fie bebend, fprang empor 
® wollte fi) entfernen, aber der Maler hielt 
zurüd, und ihr felbft ſchien ein anderer Gedanke 
fommen, 


106 


„Bleiben Sie und erwarten Sie mid!” fagte 
fie, „ich Eehre wieder, ed muß Tag und Friede 
werben zwifchen und!* Damit war fie der Thüre 
zugefchritten, weldye in das Innere des Hauſes 
führte, als ter Graf, den fie erſt am folgenden 
Tage von Caſerta zurüderwarten durfte, wo ber 
König Hof hielt, ihr entgegentrat. 

Ihr aufgelöfted Haar, ihre Verwirrung, ihre 
thränenfchweren Augen konnten ihm nicht entgehen, 
ein feharfer, Falter Bli flog nah Camillo hin⸗ 
über, Der Eavaliere aber verlor die Faffung nicht. 
Ruhig und ftolz wie immer fchritt er dem Grafen ent 
gegen, und auf Helene zeigend, riefer: „Nicht wahr, 
Graf! die Gräfin ift anbetungswerth ald Desde⸗ 
mona! Nur noch einen Augenblid diefelbe Poſe!“ 
— Damit führte er fie zu einem Divan und bat 
fie, Haupt und Arme in einer Stellung zu erhes 
ben, die er angab. 

St. Brezan blieb ftehen, betrachtete feine Ge: 
mahlin und fagte dann: „Unübertrefflich audges 
dacht, Don Gamillo! wer aber fol den ago, 
wer den Othello machen im Tableau?“ 

„Sch werde nur die Desdemona malen,” ants 


107 


ttete der Künftler, „gerade darum durfte ich die 
Afın bitten, mir für wenige Secunden die Gunft 
fer Stellung zu gewähren! * 

» Das trefflichfte Modell für das reine, fchuld- 
: fterbende Weib!“ bekräftigte der Graf, und 
jen Helene gewendet fügte er hinzu: „Ich muß 
ch aber bitten, Deine Toilette arrangiren zu 
en, ber Herzog von St. Angelo, der mich von 
ferta herbegleitet, erwartet Dich mit einem Auf- 
”e der Königin im Salon!” 

Mit diefen Worten öffnete er die Thüre, nös 

te den Maler ihm voranzugehen und verließ, 

e Gemahlin weiter feined Blickes würbigend, 

Gemach. 


Fünftes Kapitel, 


— — —— 





Der Abend war in gewohnter Weiſe vergan⸗ 
gen. Bis tief in die Nacht hinein hatte die Graͤfin 
die Beſuche ihrer Freunde annehmen muͤſſen, die 
von ber nächtlichen Spazierfahrt auf dem Toledo 
und auf ber Riviera zu raften, in ihrem Haufe 
vorgefprohen waren. Der Gavaliere hatte ſich 
unter ben Letzten befunden, welche fich entfernten, 
und ohne ein Wort der Erörterung hatte der Graf 
am Abende Helene verlaffen. 

Auch der Morgen verftrih, ohne daß fie ihn 
fah, und doc fühlte fie, daß es fo nicht zwifchen 
ihnen bleiben fönne, daß eine fefte und entfcheis 
bende Erflärung nothwendig geworden fei. Aber 


109 


Graf war ausgefahren, und fie felbft hatte 
m beutfchen Künftler ihren Beſuch in ben 
rgenftunden zugefagt, den zu machen fie nicht 
ich unterlaffen konnte. 

Mer fie fo durch die Straßen fahren fah, jung, 
n, von dem gefhmadvollften Luxus umgeben, 
nte nicht ahnen, wie fehmerzlich zerrifien fie 
fühlte, Die Scene ded geftrigen Abendes, 
Grafen Falte Verachtung, ded Malers fte bes 
igender Schuß, das Verhalten diefer Männer 
meinander und ihre eigene Stellung zwifchen 
m beiden, flößten ihr ein Grauen ein. Diefe 
erbrückten Leidenfchaften, die unter glatter Hülle 
nur um fo vernichtender in dad Innere graben 
Sten, je mehr ihnen der Ausdruck entzogen ward, 
ngftigten fie, als läge eine Riefenfchlange 
iſch Tauernd in ſcheinbarem Schlafe zu ihren 
zen zufammengefauert, In dieſe Gedanken ver- 
ft merfte fie plöglih, daß ihr Wagen ftille 
id. Sie hatten Santa Lucia paſſirt und bes 
den fich auf dem Wege nach dem Molo, deſſen 
ändige Xebhaftigfeit ihr den Laͤrm nicht aufs 
end gemacht hatte, welcher fie umgab, 





110 


Es war ein völliger Auflauf. Schreiende Las 
zaroni, bie rothen Müsen auf dem ſchwarzen 
Haar, in höchfter Leidenfchaft gefticulirend, Frauen 
mit Zeichen des Entſetzens, des Mitleids in ben 
Zügen, Polizeibeamten und die nie fehlenden Bet- 
telmöndye drängten ſich durcheinander, daß man, 
ohne ein Unglüd anzurichten, nidht vorwärts fah- 
ren fonnte. Der Jäger war abgeftiegen und an 
den Schlag getreten. Die Gräfin fragte, was es 
gäbe. 

„Ein Lazarone hat den Liebhaber feiner Frau 
erftochen!* meldete der Diener, die geöffnete Was 
genthür in der Hand; aber er hatte diefe Worte 
noch nicht geendet, ald der ganze Strom der Volks⸗ 
maſſe ſich nach dieſer Seite richtete. „Nette Dich ! 
Kette Dich!“ Freifchten die Weiberftimmen, eine 
Gaſſe ſchien in der Menge geöffnet zu werben 
und fid) wieder zu fchließen, Slüche, Ermuthiguns 
gen, Drohungen, Worte des Mitleids und Schimpf- 
namen fchallten wild durcheinander, und wie aus 
dem unerfaßbaren Aufruhr der Elemente plößlich, 
als ihr hödyfter Ausdrud, der Blig herniederfährt, 
jo ftürzte ein junges Weib fi) auf den Wagen 


_ 41 _ 


‚ gefolgt von einem Manne, der wuthfchäus 
id, fein Meſſer in der Rechten, ihr mit ben 
rungen eined Tigerd folgte. Che der Diener 
Schlag zumerfen Eonnte, hatte das Weib ben 
gen erreicht, und fid) unter feinen Arın ges 
tiam durchdraͤngend, fehrie fie, die Hände fles 
d in den Wagen hineinftredend: „Retten Sie 
), Erellenza!* Da zudte dad Meſſer hernieder 
ber Oberkörper des Weibes fiel blutend in 
Wagen hinein, 
Man riß den Mörder zurüd, der Diener hob 
Weib empor, deſſen ſich die Nächftfolgenden 
lächtigten. Der Stoß hatte gut getroffen, ber 
per war leblos, dad Blut floß in reichem 
ome nieder. Der Wagen war fo umtingt, die 
fregung fo furchtbar, Helenend Entfepen fo 
6, daß fie weder audfteigen noch vorwärts 
imen konnte. AB die Wachen Play gemacht 
ten, der Diener aufgefeflen war und die Equis 
je weiter rollte, da brach die Gräfin zufammen, 
) vor dem Haufe ded Malerd anlangend, lag 
in tiefer Ohnmacht. 
Als fie erwachte, war es fühl und ftil um 


112 


fie ber. Des Malers Frau faß an ihrer Seite. 
Die grünen Jaloufien ded befcheidenen Zimmers 
waren gefchlofien. Leife flimmernde, fchmale Lichts 
ftrahlen fpielten auf den blonden Locken eines vier- 
jährigen Mädchens, das mit feinem Bilderbuche 
an einem feinen Tifche faß und ab und zu nad) 
ber bleichen Geftalt der Gräfin hinüberſah, beren 
Günftling die Kleine war. Bei Helenend erfter 
Bewegung ftand fie auf und eilte zu ihr. Die 
Gräfin ftreichelte mit matter Hand ihre goldenen 
Löckchen. 

„Du bift doch nicht tobt?” fragte die Kleine, 
und wollte fih nicht abweiſen laffen von ber 
Mutter, die ihr bedeutete fich zu entfernen, „Wer 
ift denn tobt, Mama?" 

„Eine arme rau, mein Liebfted! und darüber 
hatte die Tante fich erſchreckt, fei ftille und laß 
fie ruhen!“ 

„Nein, Mama!” fiel die Kleine ein. „Todt 
ift die arme Frau nicht, ihr Mann hat fie nur 
todtgeftochen! Warum hat ihr Mann fie tobtge- 
ſtochen?“ 

„Weil ſie etwas Unrechtes gethan hat!“ 


113 


die Kleine fehwieg nachdenfend. Die Gräfin 
auf, da fielen ihre und die Augen bes Sins 
gleichzeitig auf die Blutfleden am Saume 
Gewandes, fie fehauderte zufammen. 
Hat Dich auch wer todtgeftochen?” fragte 
Mädchen mit der Beharrlichfeit, mit welcher 
er fih an Worte heften, deren Einn fie abs 
ohne ihre volle Bedeutung zu erfaffen. 
Die beiden Frauen achteten nicht darauf; aber 
Kind ließ fich nicht abjchreden. „Dat Di 
wer todtgeftochen?“ wiederholte e8 und fügte 
1: „Thu' nichts Unrechtes, Tante! fonft ftes 
fie Dich auch todt und dann bift Du 
Ach! dag ich's wäre!” rief die Gräfin und 
fi) in Thränen ausbrechend der jungen Mut⸗ 
n die Bruſt. Das Kind betrachtete fie ver- 
yert, trat erft leife an fie heran, da es aber 
benterft ward, zog es fich zurüd und verließ 
Zimmer, als fürchte e8 fih. Großer Schmerz 
etwas Unheimliched für Kinder, das fie mit 
gem Inftinfte fliehen. 
‚Beruhigen Sie Sich, liebe Gräfin!“ bat die 


andlungen. IL. 8 


114 


junge Frau, „Sie find jo fehr erfchüttert. Was 
fann ich für Sie thun?“ 

„Mich weinen laſſen! recht Herzlich weinen 
laffen, und ausruhen bier bei Ihnen, wo Alles 
Frieden ift!“ 

Sie hielt die Hand der jungen Mutter gefaßt, und 
feste fich auf den Sopha mit ihr nieder. Frau 
Feldheim betrachtete fie mit wehmüthiger Liebe, fie 
hatte die Gräfin nie für glüdlich gehalten, den⸗ 
noch überrafchte fie die Tiefe des Leides, das fie 
vor fich fah. 

„Könnte ich Ihnen helfen!“ feufzte fie. 

„O!“ rief die Gräfin, „Sie helfen mir immer! 
Sie geben mir immer Muth und Glauben wieder, 
wenn ich Sie und Feldheim fehe, Euer friedliches 
Leben, Eure fruchtreiche Arbeit, Euer Glück thut 
mir fo wohl! Und Euer Anblid mahnt mid an 
die Heimath, an meine glüdliche Jugend!“ 

„Ja!“ fagte Jene, „ed mag nicht techt fein, 
fich feined Glüded zu rühmen, wenn ein Anderer 
leidet, aber wir find glüdlih, und id) danke Gott 
auch alltäglich dafür. Feldheim fühlt fih fo er- 
hoben in dem Gelingen feiner Arbeit, unfere Kin- 


115 


eihen und. Ich bin gefund, fann Alles 
ir fie befchaffen, und es bleibt mir doch 
nug, für meinen Mann zu leben, mid) an 
Werken zu erfreuen, was follte und da in 
fchönen Rande fehlen? Wir haben es ja 
e die Fürften, und Gott weiß, wie wenig 
3 zu erwarten hatten, ald wir heiratheten! * 
Feldheim fprechen hörte, trat er aus feis 
tudio in dad Zimmer, die Gräfin zu bes 
und fich nach ihrem Ergehen zu erfundigen. 
r ein Bruder der PBaftorin aus Wogau, 
tte die nähere Befanntfchaft zwifchen ihnen 
vermittelt, als der Ruf feiner Arbeiten fie 
Atelier geführt, und der Maler fowohl als 
rau waren durch ihr einfach geſundes MWes 
Gräfin auch als Freunde werth geworden. 
3 hat mir leid gethan, Frau Gräfin!” 
, „daß Sie Sich die Sache auf dem Molo 
Herzen genommen haben, Sie haben viel 
erloren!“ 

erloren?“ fragte die Gräfin. 

icherlich! die ganze Betrachtung der Situa- 
nd hier liegt auch der Unterſchied zwifchen 

8* 


116 


ben Gefchlechtern, der die Frauen ewig hindern 
wird, groß ald Künftler zu werden, Sie haben 
zu viel Weichheit, um ruhige Beobachter zw fein!“ 

Helene, gewohnt fich zu beherrfchen, war Aus 
Berlich ihrer jelbft wieder Meiſter geworben, ben- 
noch fchaubderte fie innerlich zufammen bei dem 
Gedanken an jene Mordthat. „Wohl Ihnen,” 
fagte fie, „daß Sie den gräßlichen Vorgang nicht 
erlebten. Er wird mir nur zu unvergelich fein!“ 

„Mid würde er höchlich intereffirt, aber nicht 
weiter angefochten haben,” meinte der Maler. „Was 
ift denn daran gelegen, ob ein Menfchenvafein 
endet oder nicht?“ 

„Wie Fannft Du das jagen?” tadelte die Frau, 
„Du, der nicht einen Wurm leiden, nicht eine 
Pflanze welfen fehen fann, ohne Hülfe zu ver 
ſuchen?“ 

„Grade darum, weil ich Wurm und Pflanze 
ebenſo berechtigt halte, als unſer Einen. Man 
ſoll helfen, fo lange Huͤlfe moͤglich, und unterge⸗ 
hen laſſen, was unrettbar iſt. Klagt man doch 
nicht ſo lamentabel um einen Hirſch, der ſtirbt, 
um einen Baum, der umgehauen wird, um alle 


117 


en und Blüthen, die der Sturm verweht. 
ſt impertinent vom Menfchen, der fo viel 
8 bat, auch noch ganz befondere Anfprüche 
ne Lebensdauer zu machen. Das Weib auf 
Nolo war ſchön — fo fagt mir Ihr Stefano 
war ficher glüdlich mit feinem Liebhaber, 
ig auc einmal glüdlich mit feinem Manne 
n fein, — es hat alfo Freude genofien und 
» gewährt — und hat den einen ehrlichen 
ud mit einem ehrlichen Dolchſtich gebüßt, 
ft Alled in der Ordnung, und nur zu bes 
t, daß ich den Vorfall nicht ftatt Ihrer ans 
n habe. Es ift eben eine ſchoͤne Blüthe 
Baume abgefallen. Denken Sie nicht mehr 
und fommen Sie in mein Studio, ic) muß 
: heute doch mein Myfterium enthüllen!” 
amit öffnete er die Thüre des Atelierd und 
te die Gräfin einzutreten. Eine gewaltige 
and war auf der Staffelei mit einem Vor⸗ 
bedeckt. 
Das iſt meine heilige Familie!“ ſagte er, 
og die Hülle fort. 
ar Linken im Bilde faß an einem mit Wein, 
* 


118 


Blumen und Früchten befegten Tifche, feine Frau 
in einem weißen, lojen Kleide, ihr jüngfted Kind 
auf dem Schooße, während dad ältere Töchterchen 
an ihrer Seite bemfelben nedend einen Lorbeer 
zweig entgegenhielt. In ber Mitte ſtand der Mas 
ler felbft in feiner Arbeitsbloufe an der Staffelei, 
die Gruppe malend: „und“ — fagte er — „dur 
mit meiner Madonna die alte Heilige nicht fehle, 
habe ich mir hier im Hintergrunde meine alte 
Mutter gemalt, die grade fo zufrieden ausfehen 
würde, Fönnte fie eintreten und und betrachten!” 

Die Gräfin war überrafcht. Seit vielen Mo- 
naten hatte Feldheim ihr erzählt, daß er eine hei⸗ 
lige Familie male. Sie, wie alle Anderen, hatten 
ed geglaubt, da bie Hiftorie fein Fach war, und 
fi) nur über die Wahl ded Gegenftanded gewun⸗ 
dert, der. ganz außer dem Bereiche feiner früheren 
Schöpfungen lag; aber grade deshalb hatte man. 
ed natürlich gefunden, daß er dies Bild vor der 
Vollendung Niemand fehen laffen wollte, 

Dem Maler entging ihre Befremdung nicht. 
„Run,“ fragte er, „was fagen Sie von dem Bilde?“ 

„Es ift vollendet fhon!" rief die Gräfin, „und 


119 


mid am wunderbarften darin trifft, ift feine 
ſieden hiftorifche Bedeutung. Wie haben fie 
gefangen, diefe in den Gegenſtand zu legen; 
ich nad) Gehalt und Compoſition nicht über 
Familienportrait und das Genre erheben zu 
en ſcheint?“ — 
jeldheim antwortete ihr nicht gleich. Er ließ 
zeit, das Gemälde zu ſtudiren, und weidete 
an ihrem immer ſteigenden Intereſſe. Der 
ru ſeliger Mutterliebe, mit dem Eliſabeth 
m Bilde auf die unbefangen ſpielenden Kin⸗ 
yerabfah, madyte ihr Geſicht fehön erſcheinen, 
on ed.nur gemöhnlih mar, und auch Feld⸗ 
mußte jedes Auge fefleln, jedes ‘Herz für 
jewinnen, wenn man 'das ruhig ernfte Antlig 
Malenden betrachtete, bad fo freudeſrahlend 
zie Seinen ſchaute. 
Seit den Familienbildern der alten Nieder⸗ 
r ift fol ein Bild nicht mehr gemacht!“ 
ie Gräfin. „Und: e8 hat noch einen Zauber 
Snnerlichfeit, der Olüdeöheiligfeit, die ihm 
eigenthümlich find, vor jenen Werfen voraus, 
ift wirklich eine heilige Familie!“ 





20 





„Darin liegt auch der Zauber, Signora Eon 
teffa!” fagte der Maler und blidte mit Wohlges 
fallen auf. fein Werl. „Wenn die Razarener fih 
daran machen, eine heilige Yamilie zu malen, fo 
meinen fie ed mit einer Yamilie son Heiligen zu 
zwingen, mit denen Nichts gethan if, denn biefe 
unbefledten Sungfrauen, und der verwunberte St. 
Joſeph, und der Johannes mit dem Tigerfelle und 
der kleine glorienbeſchienene Chriſtus ſind uns und 
unſerm proteſtantiſchen Bewußtſein jetzt Nichts 
mehr. Sie ſind abſtract und transcendent, und 
damit lockt man in der Zeit des Realismus keine 
Katze hinter dem Ofen hervor und kein rechtes 
Gefühl aus einem ehrlichen Herzen!“ 

„Das iſt wahr!“ bekraͤftigte die Graͤfin. „We⸗ 
ber. die ganz -abftracten Nazarener, wie Overbeck 
und Schadow, noch die Stein, und wie fie fonft 
noch heißen, ja nicht einmal die Fatholifchen mo» 
bernen Staliener haben eine Madonna fchaffen 
fönnen! und an die Heiligen der franzöftfchen 
Schule muß man gar nicht denken!“ 

„Sie können aud) feine Heiligen mehr malen 
und Niemand wird ed wieder können, es hat eben 


121 


feine Zeit,” fiel ihr der Maler in das Wort, 
jeiligen Familien find für uns fo unnatürlich 
ben, wie die Allegorien eined Veroneſe, denn 
d auch Allegorien und wir haben es mit 
Birflichkeit zu fchaffen. Nicht eine Familie 
Jeiligen follen wir jegt malen, fondern eine 
ie von Menſchen, die geheiligt ift durch Liebe 
mftrahlt von der Glorie ihres Glüdes. Und 
fich in dem Glüde des Familienleben der 
Ausdruck erfüllter Liebe, der vollendete Bes 
es Menichen offenbart, fo muß ein folches 
eine tief ımenfchliche, eine für alle Zeit güls 
alſo auch eine Biftorifche Bedeutung haben 
i, wenn ed aus dem rechten Sinne hervors 
zen ift, der die volle Göttlichfeit erfannt hat 
milienleben, in ber Sorge der Eltern für 
jefchöpfe ihrer Liebe, in dem gemeinfamen 
fen an den gemeinfamen Pflichten und Freu⸗ 
nd Schmerzen, die alle aus ber reinen, uns 
yaren Quelle der Natur entipringen! Was 
m fo ein lumpiger König im blanfen Or⸗ 
mit ein Baar geharniſchten Nittern gegen 
und Weib und Kind? AU die hiftorifchen 


122 


Zufälligkeiten, die wir malen, find ja reine Ber: 
gänglichkeiten gegen die urewige Wahrheit ſolcher 
Liebe!“ 

Er hatte dabei ſeine Frau um den ſchlanken 
Leib gefaßt und fie an ſich gezogen. Sept Füßte 
er fie herzhaft und ſtrich ihr dann bie Thränen 
aus den Augen, die fie zu verbergen ftrebte, 
„Das Bild rührt mi fo!“ ſagte fie zur 
Gräfin. | 

„Ja!“ rief Feldheim, „und doch mochte fle Nichts 
davon wiſſen, ald ich noch für ein Baar Kinder 
Platz lafien wollte auf dem Bildel” - 

Die Frau wies ihn lachend zurüd, die Gräfin 
aber blickte finnend bald auf das Bild, bald auf 
bie glüdlichen Gatten, 

„Was mid) im hoben Grabe wundert, ift, 
daß unfere Tracht nicht ftörend einwirft!” fagte 
fie nach einiger Zeit, 

„Darüber habe ich auch meine eigenen Ges 
danfen!“ meinte Feldheim. „Ich glaube, im Grunde 
ift feine Tracht gut oder böfe, nur bie, welche fie 
tragen, maden fie dazu. Sehen Sie dody mits 
unter. die wahrhaft ſcheuslichen Berunftaltungen 


N 


123 


die Kleidung, denen wir auf alten Bildern 
ven und die und gar nicht ftören. Die Zopfs 
ı im dreizehnten Jahrhundert, die Puffaärmel, 
: faft bis zur halben Höhe ded Kopfes fi 
n bei den alten Rittern und Edelfrauen, 
wieder die fchwarze, mumienhafte Kleidung 
lbein's Zeiten, oder den buntflitternden Putz 
Gefchlecdhter in den Tagen des Vandyk. 
n al den Eoftümen find vortreffliche Bilder 
ıden — Portraits und Familiengruppen, bes 
ein Menfch in der Welt ihre hiftorifche Bes 
ig aberfennen wird !* 
ber woran liegt ed denn,* fragte die Graͤ⸗ 
daß wir in unferer Tracht uns fo fihlecht im 
barftellen? * 
In unferer eigenen Zumpigfeit, nicht an der 
ing!“ lachte der Maler, „denn fehen Sie, 
Gräfin, ed-find meift nur die Männer, die 
ımpig ausnehmen — und audy nicht Alle, 
t ein honnetted ‘Bortrait zu Stande komme, 
n zwei honnette Bewußtjein dazu. Das 
Btfein des Driginald und. das ded Malers!” 
Was meinen Sie damit?“ 


124 


„Achten Sie einmal auf die Portraits ber 
Fürften, der berühmten Gelehrten, der Künftler, * 
fagte er, „und Eie werben finden, daß ihnen diefes 
Gepräge ter Erbärmlichkeit, welches über fo vies 
len Fracks und Gravatten und bald verlegen, bald 
arrogant, ftumpffinnig entgegenlächelt, felten eigen 
if. So dumm oft ſolch ein König oder Fürft, 
fo verhuzelt ein Gelehrter, fo wunberlid ein 
Künftler ausfehen mag, fie haben die Empfindung 
ihrer inneren Berechtigung, eine gewiſſe Selbſt⸗ 
berrlichkeit. Ich möchte fagen, fie fühlen das Recht, 
fo wie fie eben find, auf diefer Welt zu fein und 
alfo auch nad ihrem Tode noch im Bilde auf 
derfelben fortzubauern. Fühlt dad der Maler aus 
ihnen heraus, malt er fie im Bewußtfein ihrer 
perfönlichen Berechtigung, fo wird es immer ein 
guted Bild werden, mögen nun bie Bormen edel 
öber gemein fein, denn nur der Geiſt, der in ihr 
nen waltet, ift bie bleibende Kraft in einem Bilde. 
Die. Idee, durch die abfolute Formenfchönheit has 
tafteriftifch zu wirken, ift ein vollſtaͤndiger Irrthum, 
von dem bie alten Staliener, Niederländer und 
Spanier auch Nichts wußten!“ 


n 


125 


ber woher denn die Menge fader, nichts» 
tr Bilder, von denen unfere Ausftelungen 
1 find?“ 

ch ſagte es Ihnen ja, Frau Gräfin, von 
;onntagsbewußtfein der Originale!” lachte 
m. „Die Menfchen efien, trinfen, arbeiten 
dankenlos und wie Maſchinen. Sie vegetis 
ne innere Erhebung und ohne jenes Selbft- 
‚ wie e8 im Mittelalter ſchon die fcharfe 
: der Standedunterfchiede und das von 
en und Gefahren mancher Art bewegte Les 
harafteriftifch in ihnen auspraͤgen mußte, 
ıben fich in befonderen Lagen, fie ‚hatten 
nheit ihre Leidenfchaften zu entfalten, und 
8 Individuen auszubilden. Nehmen Sie 
hakeſpear'ſchen Dramen und überall finden 
ıter den leidenschaftlich Kämpfenden, Helden 
otive für Bilder aller Art. Sekt, wo bie ent⸗ 
Leidenſchaft für Rohheit gilt, wo die Staates 
fie faft unmöglich macht, find die Kunfts 
und die Menfchen ftumpf geworden. Sie 
innerlich an allen möglichen Miferen, aber 
ch verziehen fie Feine Miene und hüllen 


= 


126 


fh in das todte Grau ber Wohlerzogenheit. 
Kommt biefen modern nivellirten, polizirten Mens 
[hen dann ber thörichte Einfall, ſich einmal ma 
fen zu laſſen, fo befinnen fie ſich auf ſich ſelbſt, 
erfchreden vor ihrer Xeerheit, feßen fich zuredt 
und putzen fich mit irgend einer Eigenfchaft her 
aus, mit Gutmüthigfeit, Erhabenheit, oder was 
ihnen fonft an ſich wahrfcheinlih dünft — und 
dad Fleidet fie denn eben fo, wie der abgelegte 
Balpug der Frau Gräfin eine Magd am blauen 
Montag. Die Mehrzahl unferer Portraits hat 
Sonntagscharaftere zum Originale. * 

Er war in befter Laune, und auch die Gräfin 
hatte ſich etwas erheitert. 

„Died Bild wird fortleben und die Menfchen 
erfreuen, wie die fchöne Familie Karl's des Erften 
und NRembrand von Rye's mit feinem Weibe!“ 
wiederholte fie, auf ihre erſte Bemerfung zurüd: 
fommend. 

„Und babe ich nicht eben fo gut ein Recht, 
meine ftolzge Freude an meinen Kindern zu ver 
ewigen, ald König Karl vie feine? Habe ich nicht 
oft eben fo glüdlich als Rembrand die Schultern 


127 


ner Eliſabeth gefüßt und die Fröhliche auf 
nen Knieen aus meinem Glaſe trinfen laffen? 
in Stolz, meine Freude find von Gottesgnaden 
die ihren!” rief er, „aber was mich heute 
n ganz früh fo fröhlid machte, ift Camillo’s 
sde an dem Bilde. Er war am Morgen 
mir und konnte fih nicht fatt daran fehen. 
h glaube ich, jo Hoch ich ihn verehre, hätte 
yon mir zu lernen, daß man vergefien muß!“ 
„Bergefien?” fragte die Gräfin, „was denn 
jeffen?” 
„Er muß die Convenienz und Tradition vers 
en lernen, Das Herfömmliche bindet ihm bie 
zel, wie faft allen unferen Zeitgenofien. Er 
$ zur Duelle, zur Natur zurück. Nicht zu jener 
ur, die in Loͤwenfellen und mit Seigenblättern 
verläuft, denn grade dieſe ift eine reine Sache 
Convention, fondern zu jener Wahrheit der 
bachtung, die in der Gegenwart das Zufällige 
dem ingeborenen unterfcheidet. Daß er 
Wahrheit der Beobachtung in fich nicht aus» 
(det Hat, darin liegt aucd, der Mangel Ihres 
ihm gemalten Bildes. Er malte die wunders 





128 


fhöne Gräfin St. Brezanz aber das gute, liebe 
volle Weib, das hat er in Ihnen nicht gefehen, 
nicht verftanden !” 

Helene war zufammengefahren und zerftreut 
geworden, ald er den Namen des Cavaliere aud- 
geiprochen hatte, fo daß fie ihm Nichts auf feine 
Behauptung zu entgegnen vermochte. 

„Camillo wird Sie wieder malen?” bemerkte 
Feldheim nad) einer kurzen Pauſe. 

„Mich?“ fragte die Gräfin. 

„Sa! er fagte mir, Sie hätten ihm geſtern 
zur Skizze für eine Desdemona gefeflen!” 

Die Gräfin erbleichte, alle ihre Schmerzen er: 
wachten wieder. Sie erhob fich plöglih, um fid 
zu entfernen, und aufathmend, wie Einer, ber 
nach Furzer füßer Raft fich wieder zu neuem 
ſchwerem Gange anfchidt, fagte fie: „das war 
eine Ichöne Stunde! haben Sie Dank dafür!” 

Die Eheleute blickten fich betroffen an. Feldheim 
geleitete fie anihren Wagen. Als er zurüdfam, fchüts 
telte er leife dad Haupt, und gegen feine Frau gewen⸗ 
bet, fprach er: „der wäre es beſſer geweſen im Bas 
terlande zu bleiben, ihr Herz paßt nicht hieher!“ 


Sechstes Kapitel, 





ie furchtbare Scene, weldje fie am Morgen 
‚ und dad Glüd ihrer Landsleute, deſſen 
: fie gewefen war, hatten Helene tief erfchüts 
Dort der Kampf ungezähmter Leidenfchafs 
hier der Friede der Liebe, aber Wahrheit 
und bier, und ihr eigenes Leben Falter Schein 
nnerliche Züge. 
Es muß anders werben!” rief fie, und ald 
fie fchnell den Kelch leeren, der nit an 
orübergehen konnte, fo eilig begab fie ſich 
8 Zimmer ihred Manns, 
sie fand ihn arbeitend an feinem Schreibtifche. 
Störe ich Dich?" fragte fie. 

Ich bin augenblidlich zu Deinen ienften! 


adlungen. IL 


130 


antwortete er mit der ihm eigenthümlichen Hoͤf⸗ 
lichfeit der Form. 

Sie feßte fich nieder zu warten, aber bie we⸗ 
nigen Minuten wurden ihr lang und fchwer. 
Als er den Brief gefaltet und gefiegelt hatte, 
wendete er fich zu ihr, und um nicht feine Frage 
nad dem runde ihre® Kommend zu hören, 
fagte fie fehnel: „Ic habe mit Dir zu fprechen. 
— Hippolyt! es muß anderd werben zwifchen 
und. Der geftrige Abend — —“ 

„Der geftrige Abend,“ unterbrad) fie der Graf, 
„iſt mir wieder ein Beweis Deiner Unvorfichtigfeit 
geweſen. Welche Frau giebt einem Maler Si» 
dung in ihrem Boudoir und tete & tete!” 

Der fchwerfte Tadel hätte fie nicht fo tief ge⸗ 
troffen, als diefe Kälte ihre® Mannes, und mit 
leidenfchaftlicher Bewegung rief fie: „Müſſen wir 
diefe Lüge durch das Leben fihleppen? Muß ich 
denn unglüdlich fein? * 

Es war das erfte Mal, daß fie in folder 
rüchaltlofen Weife zu dem Grafen ſprach, den 
der plögliche Ausbruch ihres lang verhaltenen 
Schmerzes erbleichen made, 


131 


n heftiges Weh zudte durch feine Züge. 
leide auch! * fagte er, „und id) beflage mid) 
»Dann ſchwieg er, fi) gewaltfam fafjend, 
nd die Gräfin, den Kopf auf den Arm ges 
regungslos da faß. Die Stille wurde 
a immer drüdender, St. Brezan fing an 
immer auf und nieder zu fchreiten. Ends 
lieb er ftehen und begann wie im Selbſtge⸗ 
e, das ſich erft fpäter gegen die Gräfin richs 
Menichenfenntniß und Erziehung find Nichts! 
laubte fie zu fennen, mich zu fennen, die 
dſätze ihrer Familie bürgten für fie, und nun 
überfpannte Durft nah Glück! — „Glück! 
n Glück glauben ift fo thöricht, ald Wolfen 
ı wollen! So thöricht, ald verlangteft Du, die 
n Fortuna folle hier eintreten und Dir ihr 
oın vor die Füße fchütten. Deine Sehnſucht 
Glück ift unfer Unglück! — Es giebt fein 
! Sid) wohlbefinden, das ift Alles! und 
efinden hätten wir und können!“ 
Rein, Hippolyt! ich habe es nicht gefonnt, 
wir haben uns nie verftanden! Schon an 


n Hochzeitötage kannte ich mein Unglüd.” 
9% 


2 


AN 


132 


Beide verfiummten; die Eine ploͤtzlich ergriffen - 
von der Schwere des eigenen Geftänbnifles, ber 
Andere fchmerzlich betäubt, weil er fich in feinem 
Stolze verwundet fühlte. „Das ift hart!” fagteer 
mit einer Tonlofigkeit, durch die Helene feinen bittern 
Schmerz erzittern hörte, 

„Und doch mußte ih es Dir endlich fagen, 
damit ich Dir nicht fchuldiger erfcheine ald ic 
bin. Ja! ich glaube noch an Glück, ich glaube 
an eine Liebe, die ausreicht, und glüdlich zu 
mahen — —" 

„Und fie ward Dir leider nicht zu Theil!“ 

„Sa! fie ift mir geworden! aber ich war ein 
Kind, und meine eigene Schwäche brachte mid 
darum!" 

„Und?* fragte der Graf. 

Sie antwortete nicht. „Und was verlangft 
Du jebt?" fragte er wieder, „denn wir müflen 
fertig damit werden!“ 

„Sieb mich frei!“ 

„Das ift Wahnfinn, Helene!“ 

„Wahnfinn nennft Du es, wenn ich das 
Scheindaſein diefer unglüdfeligen Ehe nicht weiter 


133 


will? Unſere Herzen find einander fremb, 
eißt es, daß ich Dich nicht liebe, Du Tiebft 
richt, ih bin Dir Nichts, als die Dame, 
bie Honneurd Deined Haufe macht. Du 
mich für untreu gehalten, vie Welt hält 
yafür — ich war Dir niemald untreu, aber 
cklich, unglüdlich bin ich gewefen immerbar, 
Männer, welche Du heimlich eiferfüchtig be⸗ 
,oͤhnteſt, waren mir gleichgültig, wie die 
wmfpieler auf der Bühne, von denen ich mir 
elfen laſſe über die tödtliche Dede meiner 
ıden —“ 
‚Und Camillo?” fragte der Graf mit ſchmerz⸗ 
Bitterkeit. 
‚Er war mir eine Stütze und ein Troſt. 
ts mehr! Geſtern erft hat er mir feine Liebe 
nden — —" 
‚Und heute forderfi Du von mir getrennt zu 
en!” 
Weil ich nicht dad Weib eines Mannes 
en will, der fich verrathen von mir glaubt 
dazu ſchweigt!“ 
‚Meint Du, ich folle wie ein Wilder bie 


134 


Treue meines Weibes bewachen? Ich folle wie 
der Poͤbel meine Kraͤnkung in alle vier Winde 
hinausfchreien und mid) brandmarfen mit Deiner 
Thorheit? Mein Name wird nicht angetaftet, fo lang 
ich ihn nicht angetaftet nenne. Mein Schweigen 
ſchützt Did und mid. Du wirft mid nidt 
zum Abfall von mir felbft, zum Spredyen bringen!” 

Es entftand eine neue Pauſe. St. Brezan 
ging nachdenfend umher, endlich fette er fi 
neben feiner ©attin nieder. „Laß und wie ver 
nünftige Menfchen handeln,” fagte er, „nicht leere 
Vhrafen wechfeln.” Seine Stimme klang milder 
ald zuvor, fein Ausdrud hatte das Eifige verloren, 
„Ein Irrthum ift nicht ungefchehen zu machen, 
unfere Verbindung war ein folcher; wir müffen 
trachten, fo wenig ald möglidy von demfelben zu 
leiden. Wäre ih ein unbeachteter Privatmann 
und ein Proteftant, vielleicht fchiene mir der Aus 
weg, den Du wünfceft, annehmbar, Sept ift 
er's nicht.” 

Seine Ruhe brachte die Gräfin zur Berzweif- 
lung. „Ich fage Dir, daß id unglücklich bin, 
daß ich mic, fehne nad) einem Athemzuge ber 


135 


baß ich es ſtets als Schmach empfun- 
je Liebe Dein Weib zu fein, und — —“ 
handle wie ein Mann,” unterbrach fie 
f, plöglich wieder zu der früheren Kälte 
nd, „der feine Pflichten kennt — felbft 
ich in Deiner unfeligen Verblendung. Ich 
ein Weib, das fich gezwungen mein nennt!” 
Beben flog durch alle feine Züge bei den 
— „aber entehren ſollſt Du weder Dich 
ch. Du bleibft bei mir, im Schuße meis 
fe, meined Namens!" — 

ar aufgeftanden und in die Thüre des Bals 
seten, um ihr den Anblick feines inneren Kam⸗ 
ntziehen. Als er ſich wendete, war er ruhis 
den. „Mit Deinem Durſt nach Glüd, mit 
Herzen mußt Tu fertig werden — wie 
dein meinen!” fagte er. — „Was wir 
nder auszumachen hatten, ift gefchehen — 
e find gefchieden ! möge e8 Dich nicht reuen!“ 
» aufgerichtet verließ er dad Gemad). 
Gräfin blieb allein zurüd. Sie fah ſtumm 
r zum Boden nieder. So hatte fie das 
fer Unterredung nicht erwartet. Es war 


136 


ihr Wunfch geweſen, frei zu werben; biefe errun 
gene Freiheit aber drüdte fie ald eine tiefe Schmach. 

„Auf Lebenszeit!“ feufzte fie, während ein 
Schauer durch ihre Glieder riefelte und Falte, große 
Thränen ihr in die Augen traten. 

Bald demüthigte e8 fie, einem Manne gehört 
zu haben, der fie auf ihre erfte Forderung frei gab, 
bald fühlte fie fich gedrungen, des Grafen mit 
größerer Achtung zu gedenken, als je zuvor. Er 
hatte wie ein Eavalier gegen fie gehandelt, aber wie 
fern war feine Auffaſſung der Verhältniffe von dem 
wahren Sinn ber Ehe! Welch eine Stellung für 
fie, ven Schuß eined Manned anzunehmen, der fie 
innerlidy mißachten mußte! Eine Freiheit zu befigen, 
bie zu gebrauchen eine Schande war. — Geneigt, 
fih ihren Empfindungen zu überlaffen, hatte fie 
nie zuvor mit folcher Klarheit fi) die Einzelheiten 
und Folgen ihrer Lage deutlich gemacht, nie fchärfer 
als jeßt die Scheidewand erfannt, welche Sahrhun- 
berte alte, überlieferte Begriffe und Vorurtheile 
zwifchen den Anfichten der fogenannten großen 
Welt und zwifchen ber natürlichen Empfindung 
wahrer, gefitteter Menfchen aufgerichtet hatten. 


137 


Sie fannte den Grafen und wußte, er werde 
n, was er ausgeſprochen habe, und doch faßte 
8 nicht, wie ed ihm wünfchenswerther fein 
e, eine Frau unter diefen Derhältniffen an 
zu feffeln, als fie durch eine wirkliche Schei⸗ 
; frei zu geben, eine Verantwortung zu tras 
ftatt fie auf die Schultern derjenigen zu 
, bie ihr Schidfal in die eigene Hand zu nehs 
forderte, und mit feinem Namen eine Frau 
hüten, die diefen Namen ftetS mit Wiberftreben 
yet hatte, die ihn jest nur noch zum Scheine 
rn follte, 
Ihr Stolz empörte fich gegen eine Großmuth, 
an Verachtung gränzte, gegen einen Schuß, 
fo nahe mit der Knechtfchaft verwandt war, 
n das Beifammenfein mit einem Manne, der 
edem Augenblide feine oberherrlihen Rechte 
n fie geltend machen konnte, nachdem er freis 
g auf alle jene Anſpruͤche verzichtet, welche 
e und Achtung heifchen und gewähren. Unter 
Laft eines fortdauernden Mißtrauend zu leben 
n ihr unerträglich, und der Gedanke, fich durch 
rernung aus dem Haufe ihres Mannes gewalts 


138 


fam ihre Freiheit zu erringen, tauchte in ihr auf. 
Aber fih vom Grafen auf foldye Weife trennen, 
hieß fi) von ihrem Vater, von ihrer ganzen Fa⸗ 
milie, von ihrem ganzen früheren Leben trennen, 
und wenn diefer Außerfte Schritt gethan war, wos 
hin dann und was beginnen? 

In ihre Vaterhaus zurüdzufehren, daran burfte 
fie nicht denken, und jene Zeit lag ihr fo fer, 
ald trennten fie Dezennien davon, Sie hatte neue 
Anfchauungen, neue Bebürfniffe Fennen Ternen. 
Ein Leben vol geiftiger Erregung, vol wechſelnder 
Greigniffe, vol heftiger Empfindungen, war ihr 
zur Gewohnheit geworden, und wenn ihre Blide 
fi in diefer Stunde auf ihre Jugend, auf ihre 
erfte fchuldlofe Liebe zurückwendeten, gefchah ed 
mit jener Wehmuth, mit der man ein unwieder⸗ 
bringlich verloreneds Gut betrauert — um fo 
unmieberbringlicher, als fein Beſitz aufgehört haben 
würde und noch ein Glüd zu fein. Sie empfand ben 
Verluſt deſſelben nicht fo fchmerzlich, als die Ueber⸗ 
zeugung, daß fie die Bähigfeit verloren, es zu ge 
nießen und fid daran genügen zu laflen. Ihr 
Herz blutete, wenn fie Sriedrich’8 gedachte, Was 


139 


ms ihr geworden, die ihm ein Ideal zu 
n verheißen? Und doch fah fie mit einem 
id, das fie felbft überrafchte, auf fein ftilles, 
ch begränzted Leben hinab, 

Ich kann nicht mehr zurück!“ rief fie auß: 
Gewißheit lenkte ihre Blicke plöglic nach 
anderen Seite, von der ein phantaſtiſch 
endes Licht ihr entgegenglaͤnzte. 

reiheit, Selbſtaͤndigkeit, Ehre und Anerken⸗ 
‚ ja Liebe und Freude winkten ihr entgegen 
ver Hand der Kunſt. Ein einziger, muthis 
schritt konnte ſie an die Schwelle ihred Tem⸗ 
führen, und Camillo, der Künftler, den fie 
verehrte, der Mann, welcher fie liebte, ftand 
3riefter da, die Erfehnte einzuführen in das 
zthum. 

liehen, unter fremdem Namen arbeiten und 
, bis der ihr eigene angeborne Name ruhm⸗ 
hlt durch ihr Talent aus dem Dunkel her⸗ 
hen konnte, und dann leben, ſchaffen, arbei- 
vereint mit einem Manne, der dies heilige 
in ihr begriff und pflegte; Niemand Etwas 
nfen als fich felbft, Feines Schutzes bebür- 


140 


fen, fondern gefchügt fein durch die eigene Bedeu⸗ 
tung, und frei bleiben durch das felbftändige 
Talent fogar neben dem geliebten Manne, dad 
waren Bilder, begeifternde Borftellungen, die in 
fchneller Reihenfolge an ihr vorüberzogen. 

Camillo hatte ed auögefprocdhen: Sie war 
Künftlerin! Sie durfte fidy nicht von bleichen Träus 
men, von Gebilden der Phantafie ernähren, denn 
der Künftler Fann nicht fchaffen ohne die Sonne 
bed Glückes! Darum hatte fie dad Verlangen 
danach niemald zu befiegen vermocht, die fhaf 
fende Kraft hatte gebieterifch ihr Necht verlangt 
— jetzt follte ed ihr werden. 

Ein Trog gegen den Grafen erwachte mit 
diefem Vorfage in ihr. „Er meinte mich zu bin- 
den mit jener Gewährung einer freiheit, die 
mich an ihn feffelte,” fagte fie ſich. „Eine Freige⸗ 
laffene follte ich fein und bleiben, mit meinem Thun 
und Laſſen ihm verantwortlid für jenen Schein 
ehrlofer Freiheit, die ich tief verachte. Es foll 
anders werden, anders Hippolyt, ald Du's ers 
wartet haft!“ 

Ihre Geftalt gewann plößli ihre Spann- 


141 


wieder, fie ftand auf und ging in ihr Zims 
ih für die Mittagstafel anzufleiden, zu ber 
größere Geſellſchaft ſchon feit vielen Tagen 
aden War, 
[8 fie in den weißen Gewändern vor ihrem 
jel ftand, einen Kranz von grünem Weinge⸗ 
mit goldenem Gceäber in den fchwarzen Locken, 
hr felbft die eigene Schönheit wohlthuend 
iberraſchend aus dem Glaſe entgegen. Mit 
Freude wies fie die Armbänder und Spans 
urüd, bie ihre Kammerfrau ihr brachte. 
vollte die Gefchmeide, die Koftbarfeiten nicht 
tragen, welche fie dem Grafen verdanfte, 
Nadelgeld, dad er ihr feftgelegt, nicht mehr 
en. Die Zinfen eines Kapitales, welches 
In ihrer Mutter ererbt, ſollten fortan ihren 
rfniffen genügen, und ihr Auge leuchtete 
in der Gewißheit, daß dieſe Schultern, 
Arme jedes Schmudes entrathen fonnten, 
[8 betrachtete fie eine vollendete Statue, fo 
: fie in Selbftgenügen die eigene Formen⸗ 


ine halbe Stunde fpäter waren die ©äfte 


142 


bei der Tafel verfammelt, und Nichts in dem Wer 
fen der Wirthe verrieth, welche Erfchütterungen 
fie erlitten, welche Entfchlüffe fie gefaßt hatten. . 
Noch am Morgen war die Gräfin entfchieden ge | 
wefen, den Cavaliere zu vermeiden, jegt empfing 
fie ihn mit einer Aufgefchloffenheit, bie er fi 
nad) ihrem Verhalten am vorigen Abende nicht * 
zu deuten vermochte, und als verftände die Sadıe 
fihh von felbft, fo unbefangen ſprach der Graf 
von dem zu malenden Bilde der Desdemone. k 
Helene follte nicht glauben, es Fofte ihn ein Opfer k 
fie zu verlieren, die ihn nie geliebt. Ein Miß 
geſchick ohne Zeichen der Klage zu erleiden, fi 
fo weit thunlich abzufchliegen gegen alle Berüh— 
rungen und Beobadhtungen und ſich durch dieſe 
Adgefchloffenheit vor fremden Antheil und Urtheil 
möglichft zu bewahren, darin hatte der Graf ftetd 
feine Ehre gefegt, darin erblickte er die Weisheit, 
welche die Erfahrung dem Weltmanne zum Be 
dürfnig und zur Richtſchnur feined Handelns ma- 
chen, und auch in diefem Falle blieb er fid 
getreu. , 


Da aber der Menſch nach einer Löſung alled 


143 


jelhaften trachtet, fo erklärte der Dialer fich 
h das ihm auffallende Betragen des gräfli- 
Ehepaared auf die ihm günftigfte und fürs 
te Weiſe. Er fagte fih, die vielfachen 
igungen, deren Gegenftand Helene feit ihrem 
einen in Neapel gewefen, die jugendliche Uns 
nenheit, mit welcher fie diefelben Anfangs an- 
nmen hatte, und dad leichtfinnige Spiel ber 
terie, das ihr allmählidy zur Natur geworden 
fönnten dem Grafen nicht gleichgültig ges 
n fein. Freilich hatte man fie bisher nicht 
beurtheilt, aber die Menge und der Wechfel 
Verehrer waren doch fehon biöweilen ein Ge- 
ind der Unterhaltung und jenes leife fort- 
enden Tadels geworden, der an der eigenen 
erholung feine Waffen zum tödtlihen Stoße 
t und probt. Es mußte dem Grafen daran 
', feine Gattin gegen den Vorwurf der Ga⸗ 
ie bewahrt zu fehen, und Camillo, grund» 
8 den Frauen gegenüber, ohne alle Achtung 
ver Ehe, verderbt durch die leichtfertigen Sits 
ed Kreifes, in dem er lebte, fand ed ganz 
lich, daß St. Brezan lieber einen erklärten 


144 


@icidbeo, als ein ganzes Gefolge junger Män- 
ner neben feiner Frau ertragen wolle, 

Eine Freundfchaft für ihren Lehrer war ohne 
bin natürlich, eine Liebe auf Breundfchaft und 
Bewunderung gegründet, fehr verzeihlich, und bie 
Melt, in der fie lebten, eine Welt, in ber bie 
Discretion oft die Stellvertreterin der Tugend und 
der Ehrenhaftigfeit machen muß. 

Hatte Camillo geftern, feiner Leidenfchaft fols 
gend, nur an den Beſitz ded von ihm begehrten 
Weibes gedacht, fo empfand er fich jetzt ploͤtzlich 
ald Helenend Beſchützer, ald Theilnehmer des 
Grafen in der Sorge für ihren Ruf. Er glaubte 
durch St. Brezan’d Verhalten eine Verpflichtung 
gegen ihn, ein Anrecht an feine Frau zu haben, 
und ed war ihm Chrenfache dem Cavaliere gegen. 
über auch als Cavalier zu handeln. 

Weit entfernt, die Gräfin abermals durch feine 
Heftigkeit zu Ängftigen, oder feine Leidenfchaft 
dem Auge eined Beobadhterd zu verrathen, nahte 
er fi) ihr feit diefem Tage mit jener anbetenden 
Bewunderung, mit welcher der Kunftliebhaber ein 
Iangerfehnted und endlich erworbenes Kunftwerf 


145 


Bt, defien Herr zu fein, ihn felbft faft noch 
mblih dünkt. Unermüdlich für fie beforgt, 
ind er mit Entzüden ihr ſteigendes Vertrauen, 
wachfende Hingebung an feinen Rath und 
Anfichten, während Helene nicht bemerfte, 
fie in dem Beftreben, fich einer fie drüdenden 
ytichaft zu entziehen, nur den Herrn gemwechfelt 
Entfchiedener als der Graf es je gethan, 
jte Camillo ihr feinen Willen zum Gefeße auf. 
füchtiger als Jener, bewachte er jede Regung ihs 
seele, und was fie dort gedrückt, verzieh fie bier 
iebe, die fie mehr und mehr zu theilen begann. 
ber energifch feurigen Natur des Cavaliere wie 
tind geleitet, wie ein Weib gefeflelt, blieb 
vicht einmal die Freiheit, fich zu fragen, was 
ir ihn empfinde, was er ihr geworden, was 
ber fie befchlofien? Tauchte auch hie und da 
MWiderftreben gegen die Gewalt in ihr auf, 
ſe er über fie gewonnen hatte, fo wendete 
Zorn ſich nicht gegen den Geliebten, fondern 
gegen ihren Gatten, ver fie dem fremden 
en kampflos hingegeben hatte. 
Bon jenen Planen für ihre Unabhangigkeit, 


andlungen. II. 


146 


von ihren Ruhmesträumen war bald nicht mehr 
bie Rebe. Der Wille des Grafen und die Wünfche 
bed Gavaliere trafen zu wohl zufammen, ald daß 
ber Letztere nicht feinen ganzen Einfluß hätte dazu 
benugen follen, bie Entfernung Helenend aus bem 
Haufe ihred Gatten zu verhindern. Taͤglich 
weiter fortgerifien von Camillo's, wie von ke 
eigenen Liebe, hatte fie felbft alles Andere vergeir 
fen, einem Gefühle, einem Gedanken ausſchließlich 
bingegeben — dem finnverwirrenden Entzüden ge 
theilter Zeidenfchaft, vor deren Allgewalt felbk 
ihr Schulbbewußtfein ganz verſtummte. Sie ſagte 
fih, daß fie jung und unerfahren, überredet wors 
ben fei, einen ungeliebten Dann zu heirathen, 
und daß ein Berfprechen fie nicht binden Eönne, 
welches fie ohne die nöthige Einficht in die Vers 
hältnifje, ohne Welt» und Menjchenfenntnig, ja 
ohne die richtige Erfenntniß ihres eigenen Weſens 
gegeben. Sie machte fich ein Berwußtfein daraus, 
bie Scheidung verlangt zu haben, und da ber 
Graf ihr diefe feit verweigert, fah fie fich als bes 
rechtigt an, dad Glüd zu fuchen und zu genießen, 
das fich ihr geboten hatte, 


N 


147 


In der Theilnahme an den Arbeiten, in den Er 
en bed Gavaliere fanden die Liebe und ber 
iſtſinn Helenens gleichmäßige Genügen, und 
nald waren feine Schöpfungen bebeutender ges 
m, als feit der Graͤfin Schönheit, als feit 

täglich neue Anmuth ihn zu immer neuen 
würfen antrieben. Jetzt erſt fchien er die 
e Höhe feiner Meifterfchaft zu entfalten, bie 
ifin den vollen Glanz ihrer Schönheit zu ent 
ein, und jest erft glaubte fie Italien zu vers 
n, da die warme Liebesfülle ihres Herzens 
wieberfpiegelte in ber heißen, jubelnden Herr⸗ 
eit ber füdlichen Natur. Hatte fie früher 
08 nad) immer neuen Zerftreuungen gehafcht, 
Dede ihres Innern zu vergeffen, fo verlangte 
iegt nur Ruhe und Zurüdgezogenheit, um in 
etrübter Stille ihres Glüdes ſich bewußt zu 
den. Auch der Cavaliere ward feltener gefehen 
den Sälen ber großen Welt, deren gefeierter 
aftling er war, und ſchon nad) wenig Wochen 
e die Gefellfchaft fi) in den Gedanken eins 
bt, in der Gräfin St. Brezan die begeifternde 
fe des großen Meifters zu ſehen und zu ver- 

10* 


148 


ehren. Camillo erhob ben Euftus ihrer Schön 
heit zur Mode unter den Italienern, und die Um 
nahbarfeit, in welche feine Eiferfucht die Gräfin 
bannte, kam jener Huldigung zu Gute, bie tt, 
den Grafen in feinen Anfichten zu unterftügen, 
wie einen reichen Vorhang über fein Verhaͤlmiß 
zu Helene auszubreiten wußte, 


Siebentes Kapitel, 





Unter den Bäften, welche in jener Zeit das 
aus ded Grafen St. Brezan befuchten, hatte 
h auch ein junger Ruffe befunden, der ein halb 
ıhr fpäter, bei einer Opernaufführung, in ber 
embenloge bed Berliner Opernhaufes faß. 

„Seit wann find Sie hier?“ fragte ihn ein 
terer Mann, der den vordern Plag neben ihm 
igenommen Hatte. _ 

„Seit vorgeftern, Excellenz!“ 

„Und Sie fommen?“ 

„Don Neapel! Ic habe im vorigen Herbfte 

seichen überbracht, darauf die Ordre erhalten 

t zu bleiben, weil der dortige Attache Urlaub 





150 


hatte, und will nun morgen mit dem Dampfe 
von Stettin zurüd.* 

„Sind viele Fremde in Reapel?* 

„Sa! aber bis jest noch wenig Ruffen und im 
Grunde Nichts von Diftinction. Die einzige Frau 
von Bebeutung ift überhaupt die Gräfin St. Brezan! * 

Die Unterhaltung, auf deren legte Worte ein 
anderer junger Mann, welcher fid) neben den Spre⸗ 
chenden in der Loge befand, plotzlich aufmerkfam 
geworden war, hatte durch den Beginn des neuen 
Actes ihr Ende erreicht. Als fi der Vorhang 
wieber jenfte, nahm jedoch der Ältere Herr bad 
Thema wieder auf. 

„Was ift die Gräfin St. Brezan für eine 
Geborene?* fragte er. 

„Ich habe ven Namen vergeflen, indeß fie ift 
eine Deutfche und eine prächtige Brünettel Die 
Staliener haben einen wahren Fanatismus für fie. 
Ihre Liaifon mit dem befannten Cavaliere Ca 
millo, von dem Ercellenz das große Bild im Zim- 
mer der Kaiſerin gejehen haben werben, und für 
ben die Gräfin jetzt ausfchließlich lebt, Hat fie 
unter den Künftlern zum Idol gemacht! * 


151 


Die alte ruffifche Excellenz that lächelnd noch 
Frage, ber Petersburger Geſandtſchaftsat⸗ 
‚ antwortete ebenfall® lächelnd und die Schul 
ziehend, indeß die legte Rede und Gegenrede 
ve fehr leiſe geführt, fo daß der britte Anwe⸗ 
: fie unmöglid verftanden haben konnte. 
och zudte er zufammen und verließ bie 


Kannten Sie den Herrn?“ fragte der Alte, 
Ich bin jehr fremd in Berlin, Ercellenz! und 
: faft Niemand außer unferer Gefandtichaft! * 
gnete ber Attahe, während Erich von Hei⸗ 
ruf die Corridors durchfchritt und in die ers 
tete Fruͤhlingsnacht hinaustrat. 

ir hatte nichts ihm Neues erfahren, aber 
erſten Male war ein Urtheil gegen Helene 
einer Nähe ausgeſprochen worden, und es 
te ihm ein Troſt, daß er, und nicht fein Bas 
zeuge jener Worte gewefen war. So wenig 
Baron die ehelichen Verhältnifie feiner Toch⸗ 
m Geheimniß geblieben, hatte er ihrer gegen 
and, felbft nicht gegen Erich, jemald mit einer 
utung erwähnt. Es wiberftand feiner Selbft- 


132 


adtung, cin ſolches Unrecht vor einem Mitgliede 
feiner Familie einzugeüchen, fobalb er bemfelben 
fen vermochte, unt Helene war grabe bei ben 
Anñichten des Baromd, jedem Eingriffe ber väter 
lihen Herrjchaft entzogen, fo lange ber Rame 
und tie Anerfennung ihres Gatten fie befchüsien. 
Weit entfernt, ſich ſelbſt anzuflagen, daß er bie 
Tochter gegen ihre Reigung einem ihm felbft nur 
oberflaͤchig befannten Manne hingegeben habe, 
wenbeten jeine Unzufriedenheit und jein ganzer 
Zorn fid) gegen St. Brezan, treu bem Grund» 
fate von der Aufrechterhaltung ber Yamilie in 
den Augen der Welt, wie in bem eigenen Herzen. 
Während man ſich der bevorzugten Außeren Bers 
hältniffe der Gräfin in ihrem Baterhaufe zu er- 
innern liebte, während man ihrer felbft und ihrer 
Eigenſchaften zu gedenken nicht ermüdete, ſchwieg 
man, aus dem gemeinfamen Inſtincte bed patri⸗ 
archaliſchen Familienfinnes über ihre unglüdliche 
Ehe und die aus ihr entfprungenen BVerirrungen. 
Der Achte Familienfinn und der Monarchismus 
befchränfen das Urtheil ihrer Anhänger, weil beide 





Y 


153 


verpflichtet glauben, die unbedingte Tadelloſig⸗ 
der Gegenftände ihrer Verehrung zu behaup⸗ 
‚ und fie nehmen ſich die Fähigkeit wirffamen 
ndelnd, da fie durch ihre abfichtliche Verblen- 
ig dem Unparteiifchen nicht ald urtheilsfähig 
heinen koͤnnen. 

Erich felbft hatte bisher die Schwefter mehr 
auert als befchuldigt. Er war fein Neuling 
er in den Berhältnifien der großen Welt, und 
und da felbft für den mehr oder minder be 
ftigten Verehrer verheiratheter Frauen anges 
n worden. Oft genug hatte er mit gleichgüls 
r Reichifertigkeit über folche Verhältniffe ges 
schen, fie verdammend oder entjchuldigend, je 
hdem feine Theilnahme ſich dabei angeregt ges 
den. Set, da er die eigene Schweſter an 
ntlihem Orte, von fremden Männern, eines 
ben Liebeshandeld anklagen hören, erfchienen 
e Zuftände ihm plößlich unter einem veränders 
Geſichtspunkte, weil feine Stellung zu den⸗ 
en eine andere geworden war. 

Mit quälender Deutlichfeit traten ihm bie 
le entgegen, in denen feine Galanterien und 





154 


Tänbeleien die Ruhe einer glüdlichen Che ober 
eines Mädchend vorübergehend oder dauernd 
geftört. Er hatte fich Fein eigentliche Unrecht 
vorzumerfen, aber er hätte body Manches unges 
fchehen machen mögen, und wie es Menſchen fer 
ned Charakters leicht begegnet, die zur Selb 
prüfung nicht geneigt, ihr durch einen Zufall un 
terworfen werden, gelangte er dahin, ſich ſtrafba⸗ 
ter zu finden als er wirklid war. Mit Rüb 
tung wendeten feine Blide fih auf das greile 
Haupt feined Vaters zurüd, Die friedensvolle 
Ehe feiner Eltern, die eigene und ber Gefchwifler 
ungetrübte Jugend, der Abend, an dem ber Vater 
ihn und Helene freigefprocdhen für das Leben, 
traten ihm mit herzbewegender Klarheit wor dad 
Auge, um ihm die Verhäftniffe im Haufe feiner 
Schweſter, deren Zeuge er in Neapel geweſen 
war, noch trauriger und unwürbdiger erfcheinen zu 
machen. 

Er mußte die Gedanfen abwenden von ben 
Derirrungen Helenend, von dem eigenen Leicht- 
finn, und fchnellfräftig in der Phantaſie, ging er von 
bittrer Selbftanklage zu guten Borfägen, zu Bors 


155 


ungen einer Ehe über, wie er fie für ſich ers 
te, um in ihr jenes patriarchalifche Familien⸗ 
n fortzufegen, deſſen Vorbild feine Eltern 
gegeben. Er hatte ein ſolches nur noch in 
Haufe einer Frau von Werdeck wiederge⸗ 
ven, die, obfchon begütert, mit ihrer einzigen 
hter in großer Zurüdgezogenheit lebte, feit fie 
ihren Gatten verloren hatte. Sie war eine 
mbin feiner Mutter geweſen und fchon bei fei- 
erften Aufenthalte in Berlin, hatte er in 
m faft fohnlichen Verhaͤltniſſe zu ihr geftanden, 
fih mehr und mehr befeftigt, fo daß es ihm 
Bedürfniffe geworben war, ſich mit ihr aus⸗ 
rechen, fobald irgend Etwas ihn innerlich 
aft befchäftigte. Auch jest hatte er vorgehabt 
ihr zu gehen, nicht um ihr das Erlebte zu 
rauen, fondern um fich in ihrer Nähe zu be- 
gen, als er ein junges Mädchen angftvoll an 
vorüber eilen ſah, das von einem älteren 
nne offenbar verfolgt ward. 
Das helle Gaslicht, welches unter den Linden 
den Magazinen auf die Straße fiel, ließ den 
n ſchlanken Wuchs und die gefchmadvoll ans 





156 


fländige Kleidung ber jungen Perſon erkennen. 
Aber folcher ſich täglidy wiederholender Scenen 
nur zu fehr gewohnt, achtete Erich Anfangs nicht 
darauf, bis ber Verfolger dad Mäbchen, welches 
ihm mehrmald ausgewidyen war, wieber erreicht 
hatte, und demjelben in einer Weife den Weg vertrat, 
welche es gradezu zwilchen ihn und Erich ſtellte. 
Das Mäpchen ſchrak zufammen, aber plößlich ents 
ſchloſſen, ſagte es, fih an Erich wendend: „ Schaf 
fen Sie den Menfchen fort!“ 

Der Klang ihrer tiefen Stimme, ber Zorn, 
mit dem fie ſprach, Hatten etwas Gebietendes. 
Ihr Verfolger, dem ed nicht erwünfcht fein konnte, 
einen Auftritt zu veranlaflen, trat zurüd, und bad 
Maͤdchen ließ es ruhig gefchehen, daß Erich ihm 
den Arm bot und ed mit ſich führte. 

Auf feine Frage, ob fie fhon lange von ber 
Zubdringlichfeit de8 Mannes zu leiden gehabt Habe, 
antwortete fie ein trodened Ja, und verfiel dann 
in ein Schweigen, welches Erih in dieſer Lage 
nicht von feiner Begleiterin erwartet hatte, beren 
edle, majeftätifche Züge ihn überrafchten, als fie 
einmal ihr Haupt vol gegen feine Seite wen. 


157 


Daß er hier Feine jener Teichtfertigen Ges 
fe vor fi) babe, welche um dieſe Zeit bie 
‚Ben zu burchichwärmen pflegen, war ihm 
t allem Zweifel. Dennoch wußte er nicht, 
er eigentlich aus feiner neuen Bekanntſchaft 
ven folle, 

Ihrer Erfcheinung, ihrer Kleidung und Spra 
nach, mußte er fie zu den gebildeten Claſſen 
wen, und boch hatte ihr Betragen mehr: und 
‚ger Freiheit, ald den Töchtern diefer Stände 
ı zu fein pflegte. Die Sicherheit, mit der fie 
in den Straßen umfah, die Art ihres Gehens 
haupt, machten es ihm wahrfcheinlich, daß 
8 gewohnt fei, fih auch zu folder Stunde 
a in denfelben zu bewegen. Er dachte, es 
e eine Handarbeiterin fein, die von ihrem 
ewerke zurückehre, indeß er wußte mit folcher 
rgeorbneten Stellung in der Welt nicht jenen 
‚lenden Ton zu vereinen, mit dem fie feinen 
a8 gefordert, und in dem dad volle Vertrauen 
licher Würde gegen die männliche Ehrbarkeit 
ausgefprochen hatte. Somohl die Art und 
je, in der fie feinen Arm losließ, fobald fie 





158 


fih aus dem Bereiche ihres Verfolgers glaubte, 
als die Ruhe, mit der fie, feinen Fragen auswei⸗ 
chend, neben ihm herfchritt, hatten etwas Eigen⸗ 
thümliches. Während Eric) aber noch darüber grüs 
belte, wer und was fie fein fönnte, blieb fie 
plöglich fliehen, als fie eine Strede in der Char 
lottenftraße hinaufgegangen waren. 

„Wohnen Sie hier?” fragte Erich. 

„Kein! aber ich kann jept allein gehen, und 
ic, danfe Ihnen, daß Sie ſich meiner angenoms 
men haben! * 

Auf Erich's Vorftellung, daß fie ihm erlauben 
möge, fie nun bis zu ihrem Haufe zu geleiten, 
antwortete fie ablehnend: „Ich bin es gewohnt, 
allein zu gehen!“ dankte ihm nodymald und ent 
fernte ſich mit folcher ruhigen Feſtigkeit, daß ihr 
Begleiter nur um fo begieriger wurde, ihr zu fols 
gen und zu erfahren wer fie fei. 

In immer gleicher Entfernung hinter ihr her 
gehend, gelangte er endlich in einen ber entleges 
neren Stabttheile, und fah fie in ein Haus eintres 
ten, da, nach feiner Bauart zu urtheilen, nur von 
Familien der arbeitenden Stände bewohnt fein konnte. 


8 


159 


ine Weile blieb er davor fliehen, um bie 
und Ausgehenden zu beobachten, aber es kam 
and. Nur vie plögliche Erleuchtung eines 
ſtübchens gab ihm einen, wenn auch gerin⸗ 
Iuffhluß über des Mädchens Wohnung und 
: über ihren Stand. 
n die Friedrichsſtadt zurüdgefehrt, war es zu 
geworden, Frau von Werde zu befuchen. 
ing alfo nady Haufe, abwechſelnd befchäftigt 
em Erlebniß in der Oper und mit der jun 
Schönen, bis er fich niederlegte und in feis 
Träumen die Legtere die Oberhand gewann. 
18 er am folgenden Morgen, feine Cigarre 
end, im Fenſter lag, und die lange Fries 
traße hinabfchaute, überrafchte e8 ihn, daß 
jedem zur Arbeit gehenden Frauenzimmer 
Unbefannte zu entdeden glaubte. Er lachte 
lich über die Jugendlichkeit dieſer Neugier 
dieſes Antheils, ald fie mit einemmale 
ih aus der ihm zunaͤchſt liegenden Quer: 
hervortrat, und mit ihrer ruhigen, fichern 
ing wieder ihren Weg nad) den *inden 





160 


Man braudt eine Phyfiognomie nur einmal 
gefehen zu haben, dachte er, um ihr immer wie 
ber zu begegnen, und doch that es ihm, während 
er diefe gleichgültige Bemerkung machte, leid, nicht 
angefleidet zu fein und ihr nicht folgen zu koͤn⸗ 
nen. Selbſt als er ſich zur Arbeit niedergefeht 
und fi in den Acten feiner Proberelation für 
das Affefforeramen vertieft hatte, fand er, daß feine 
Gedanken bei ihr weilten, und er erinnerte ſich 
nun, daß ihm im Traume ihr Bild mit alten 
fernliegenden Jugendeindrüden in wunberlicher 
Weiſe zufammengefloffen war, 

Hatte er Anfangs gelacht über den Antheil, 
ven fie ihm einflößte, fo fing diefer ihn zu ver 
brießen an, weil er im Wiberfpruche mit feis 
nen Plänen ftand. Sein Vater wiünfchte ihn 
verheirathet zu fehen, er felbft hatte es fid 
oft gefagt, daß es Zeit für ihn fei, an die Ehe 
zu benfen, weil er ded Herumfchweifend und ber 
Abenteuer fatt fei, die allen Reiz für ihn ver- 
loren hatten. Sich jebt von einer fo gleichgüls 
tigen Begegnung lebhaft befchäftigt: zu fühlen, 
war ihm ärgerlih. Und um aller Neugier umd 


161 


ntheil ein Ende zu machen, beichloß er, 
bmittage in die Wohnung der Schönen zu 
ih nad ihr zu erfundigen, und dann bie 
uhen zu laffen, wenn er der jugendlichen 
ber thörichten Aufwallung, die in biefem 
ı etwad Befondered zu ſehen gewähnt, 
Aufchendes Genüge gethan haben werde, 

mochte vier Uhr fein, als er von feiner 
mahlzeit fommend, dad Haus erreichte, 
er geftern das Mädchen Hatte gehen fe 
)as Gebäude war vierftödig und nur vier 
breit, In jeder Etage wohnten nach den 
an den Thüren zwei Yamilien, aber Ylus 
Treppen waren auffallend fauber gehal- 
> die Wohnungen alle verfchloffen. Im 
Stode, in dem er an beiden Wohnungen 
t, und in vorfichtiger Weife Auskunft zu 
verfucht, hatte man von einer Näherin 
fe Nichts zu wiſſen behauptet, In der 
Stage war ihm nicht geöffnet worden, und 
d mehr gewann dad Haus ein Elöfterlis 
jehen für ihn, das ihn in Verwunderung 
d feine Theilnahme erhöhte, „wei es jo 


ıngen. I. 


162 


felten ift, daß man in den Häufern ber Armuth 
Ruhe, Sauberkeit und Schiclichkeit begegnet. 

Er hatte jeßt nur die Wahl, unverrichteter 
Sache umzufehren, und ſich, wollte er durchaus 
feine Neugier befriedigen, in dem nächften Polis 
zeibüreau einen Ausweis zu verfchaffen, ober bi 
rect zu dem Mädchen felbft zu gehen. Das Er 
ftere konnte ihn als einen Roue erfcheinen lafs 
fen, das Letztere hoͤchſtens das Mädchen beleidi⸗ 
gen. Bei allem Intereſſe aber, das er an ihrem 
gefitteten Wefen genommen hatte, meinte er ben 
noch, ein Frauenzimmer, das in ber Erferftube 
eined entlegenen Reviered wohne und Abends 
fpät allein dur die Straßen gehe, koͤnne im 
Grunde eined folchen Begegniffes nicht unge 
wohnt fein und nicht eben ſchwer durch baffelbe 
beleidigt werden. Seine Meinung von den Mäb- 
chen veränderte fi, durch die Art, in der er nad} 
bemfelben forfchte, und weil er es niedrig behan- 
bekte, fchien es ihm plöglich erniedrigt. 

Als er anklopfen wollte, fühlte er ein Wider⸗ 
fireben, Er hätte es eine üble Ahnung nennen 
mögen, hätte er fich folcher Schwäche nicht ge- 


163 


mt, Aber fchon im Begriffe fortzugehen, fagte 
ich, daß die Bewohnerin am Morgen bei ihm 
hbergefchritten, daß fie alfo nicht zu Haufe 
. werde, und daß ed daher ohne alle Bebeus 
g fei, ob er anklopfe oder nicht. Sei fie aber 
) zu Haufe, nun fo fei es eben auch gut, 
das ganze Vorhaben das gleichgültigfte von 
Welt. Im diefer Ueberlegung pochte er ſchnell 
— fuhr aber doch zufammen als e8 „herein!“ 
‚ mit der Stimme, bie er geftern fo anziehen 
ınden hatte, 

Die junge Perfon Iffnete die Thüre, trat ers 
et zurüd, als fie ihn gewahrte, und fchien 
ıt gleich zu wifjen, wie fie ihm begegnen ſolle. 
‚glich jedoch zudte eine wunderbare Bewegung 
ch ale ihre Züge, und faft athemlos fragte 
ihn, was er wuͤnſche? während fie zurüdtrat, 
in dad Zimmer einzulaffen. 

Es war ein mäßig großer Raum. Auf einem 
jtritt in dem weit hervorfpingenden Eifer, 
mit einer Gardine von buntem Kattune bes 
gt war, ftanden ein Nähtifch und ein beque- 


Strohftuhl. Ein Vogelbauer mit Epheu 
11* 





164 


umranft, glänzte in der Abendfonne, hellgelb wie 
das Gefieder ſeines Bewohners. Ein Eopha, 
über dem eine Buitarre hing, einfache, hoͤchſt faus 
ber gehaltene Möbel und eine Menge alter Bil 
derchen an den Wänden gaben der Stube einen 
Anftrih von Wohnlichkeit und feſſelnder Zierlid- 
feit, mit dem das ſchwarze Wollfleid und ber 
weiße Kragen ber Beftigerin in vollem Einklang 
ftanden. 

Erich, von dem lieblichen Bilde angenehm bes 
rührt, fühlte fi außer Stande, fein Kommen 
durch irgend einen Vorwand zu erflären. Es 
dünfte ihn unmöglich), der Elaren Stimme biefed 
Mädchens, ihren gewaltigen Augen gegenüber 
eine jener gewöhnlichen Unwahrheiten auszuſpre⸗ 
hen. Und faum hatte er auch den Fuß über ihre 
Schwelle gefest, ald fie ihn mit dem Ausrufe: 
„Wir haben und fchon gefehen!” der Nothwen- 
bigfeit entzog, die Unterredung zu beginnen. 

„Ja!“ antwortete Erih, „und weil Sie mir 
geftern — —“ 

„Geſtern? — O! nicht von geſtern ſpreche 
ich!“ fiel ſie ihm in's Wort, wendete ſich nach 


165 


— — — — 


ı Nähtifh, nahm aus einem ſaubern Kaͤſt⸗ 
eine Bruftnadel heraus, deren Kopf eine 
yoolle Perle bildete, trat mit flammen⸗ 
Erröthen vor ihn Hin, und fragte, ins 
fie ihın die Nadel zeigte: „Kennen Sie bie 
[2% 

Regine!” rief Erich im Tone der Veberras 
ıg und des Entzüdend. Und ohne zu wiffen, 
es gefchah, hatte er fie in feine Arme gezos 
hing fie an feinem Halſe, weinend und la 
», verfhämt und zutraulich, vol Schreden 
vol Hingebung. 

‚Darum mußte ich immerfort an Di, den- 
' rief Erich endlich, als fie Beide ihrer Aufs 
ig Herr geworden waren. „Es ließ mir 
t und Tag nicht Ruhe. Haft Du mid) denn 
nt, als Du mich geftern anfpradhft?” 
Nein!” fagte fie, „aber ich erkannte Sie 
er, fobald Sie zu mir fprachen !” 

Und Du fagteft es mir nicht?” 

Was mußten Sie von mir denken, hätte ich 
in dem Augenblide an unfere frühere Be: 
Schaft erinnert! Sie fonnten fie lange vers 


* 





166 


gefien haben! — Es war ja auch möglich, daß 
ih mid irrte!“ — 

„Und Du haft mich nicht vergefien?“ fragte 
er, ded Gegentheild gewiß. 

Sie antwortete ihm nicht, aber fie faß an 
feiner Seite auf dem kleinen Sopha, und das 
volle Sonnenlicht, das durd den Erfer drang, 
war nicht fo freubeftrahlend, als ihr fchönes An 
geficht, das ihm in vollem Liebedglanz entgegem 
leuchtete. 

Sie hatte ihn nur einen Augenblid gefehen, 
fie hatte feinen Namen nie erfahren, und bob 
war er ber Traum ihrer Nächte, der Gedanke 
ihrer Tage, fein Geſchenk ihr Eoftbarfter Beſitz ge 
wefen, feit aus der Phantaſie ded Kindes feine 
märchenhafte Erfcheinung in das Herz der Jungs 
frau übergegangen war. Es fiel ihr nicht auf, 
daß er gefommen war, daß er fie Du nannte, 
iwie an jenem erften Abende, daß er ihre Hände 
in ben feinen hielt und wieder ihre Stirne kuͤßte, 
wie er einft gethan. Unzählig oft hatte fie in 
ihren einfamen, arbeitövollen Tagen fich bie 
Wonnen eines folchen Wiederfindens ausgemalt, 


167 


Gläubige fi) in Hoffendem Vertrauen die 
t des Paradieſes vorftelt.e Wie follte 
yefremden, daß fo vieler Liebe, fo vielem 
ı, ſolch feftem Hoffen endlich auch die ers 
Srfüllung befchieden ward? 

erzählte von ihrer Ankunft in Berlin, von 
en an ded Vaters Seite, von dem neuers 
tfolgten Tode deſſelben, von ihrem erften 
nad) ihrer Vaterftadt zurüdzufehren, ben 
hren die großen Koften fie gehindert, „und, ” 
3 fie, „wie danfe ich es jet dem Himmel, 
nicht die Mittel befaß, die Stabt zu ver- 
n der ich Sie wiederfinden mußte!” 
nählidy erfuhr Erich von ihr, baß fie feit 
er geftorben fei, fich von ihrer Hänbdearbeit 
daß fie reichlich erwerben könne, was fie 
en Unterhalt bebürfe, daß fie ohne alle 
ichaften fei, weil des Vaters trübfinniges 
ßtrauiſches Wefen jeden Umgang von fid) 
fen und fie in Höfterlicher Einſamkeit ge 
yabe, 

id num lebft Du bier ganz allein?” fragte 
‚ift Dir das nicht drüdend ?” 


168 


„Sch bin ja faft alltäglich aus, vom frühen 
Morgen bis zum Abende, und es ift auch eine 
Gnade von Gott,“ fagte fie, „daß ich grade 
heute nur den halben Tag in Arbeit fein mußte.“ 

„Haft Du es gut in den Häufern, in bie 
Du geht?” forſchte er, weil ed ihn ſchmierzte, fie 
fremden Launen oder gar übler Behandlung aus⸗ 
geſetzt zu denken. „Möchteft Du nicht lieber hier 
in Deiner Behaufung arbeiten?“ 

„Nein!“ entgegnete fie, „der Menfch Hat es 
doch nöthig mit anderen Menſchen zu verkehren. 
Sch werde gut behandelt wohin ich Fomme. Die 
Damen find meift freundlich, die Kinder hängen 
an mir und ich nehme meinen Theil an Allem, 
was bort vorgeht. Da habe ich was zu denken, 
bin ich dann allein zu Haufe!” 

„Und fonft hatteft Du nichts Anderes!” 

Sie lächelte. „Immer fort Fonnte ich doch 
an Sie nicht denfen!” rief fie mit einem Ausdruck 
verfchämter Schelmerei, der an diefer majeftätifchen 
Schönheit fo reizend erfchien, daß Erich nit 
müde werben Fonnte, e8 ihr nachzufprechen und 
ſich daran zu beraufchen. 


. 169 


Es war fpät geworden, die Lampe hatte 
yon mehrere Stunden gebrannt, ehe e8 ihm eins 
1, daß er gehen muͤſſe. Sie hatten Speife und 
ranf vergefien. Als er aufitand und von ihr 
ſied, fragte er nicht, ob oder wann er wieder 
mmen bürfe? Er fühlte,. daß er Herr in dies 
n Raume fei. Und fehwindelnd vor Aufregung 
ıd Freude eilte er die engen, dunkeln Treppen 
nunter auf die Straße, um ſie fortan alltäglich 
jeder zu betreten, 

Ale feine guten WVorfäße, feine Heirathöplane 
wanden in ein Nichts dahin vor der Liebe, 
e ihm bier fo unerwartet und in einer ihm 
ig neuen Schönheit begegnet war, Als fände 
in einer Wüfte fich plöglich von dem Schatten 
1ed erotifchen Blumenbaumes verhält und ab- 
trennt von der Welt um ihn her, fo fanft glit« 
ı feine Stunden in der füßen Einfamfeit mit 
egine vorüber, für die feine Leidenfchaft bald 
ne Grenze mehr kannte. Ein Tag, an dem er 

nicht fah, war feinem Leben verloren, Er 
nnte ed bald nicht mehr ertragen, fie in frems 
n Häufern arbeitend zu benfen, und ohne Wis 


1770 


derſtreben allen feinen Wünfchen fügfam, gab fie 
ihre bisherige Ermwerbsthätigkeit auf, um aud 
fchließlich für ihn zu leben. 

Nur mit ihm allein befchäftigt, von dem Ges 
danfen an ihn allein erfüllt, fah fie die fpöttifchen 
Blicke ihrer Nachbarn nicht, wenn alltäglich ber 
fhöne junge Mann fie beſuchte. Sie hatte in 
ſich Nichts zu überwinden, ald er ihr vorfchlug, 
eine Wohnung zu beziehen, die er für fich und 
bie Geliebte einrichten laſſen, fte fragte fich nicht, 
wohin er fie geführt? nicht, wie das enden folle? 
Sie fah ihn glücklich, fie war es felbft, und fie 
Fannte dad Leben, fie kannte die Menfchen nicht. 
Woher follten ihr Zweifel oder beunruhigende 
Vorftelungen fommen? So wenig man an ben 
Tod denkt im Vollgefühl der Jugend, fo wenig 
zweifelt man im Vollgefühl der Liebe, 

Die gänzliche Abgefchiedenheit, in der fie ers 
zogen war, ihre eigene reine und fefte Natur hats 
ten ihr eine Einfalt de8 Herzens und eine Unbe: 
rührtheit der Seele erhalten, wie Erich fie an Fei- 
nem Mädchen jener Stände wahrgenommen, in 
denen bie Mütter ed ſich zur Aufgabe machen, 


171 


e das Gemüth ftörenden Einflüffe von ihren 
schtern zu entfernen. Mit einer Falten Theil 
‚bmlofigfeit Hatte fie in den Monaten, nad) 
red Vaters Tode, fi) in fich felbft zurüdgezos 
n und gläubig dem Augenblick entgegengelebt, 
dem nach ihrer feften Meberzgeugung der Ges 
bte ihr erfcheinen mußte Nun er gekommen 
ar, legte fie ihre Zufunft mit gleicher Zuverficht 
nz in feine Hände, 

Und wie Regine in ihrer Liebe nur die Ges 
nwart empfand, fo verfenfte fih Erich bemußt 
id unbewußt in den Zauber berfelben. Alle 
ergnügungen der Reſidenz waren Regine fremb, 
le Quellen der Bildung ihr verfchloffen geblie- 
n. Bon ihm erhielt fie den oft erfehnten Un- 
richt in jenen Wiffenfchaften, den die Kinder 
r Reichen in der erften Jugend empfangen. Mit 
m zuerft befuchte fie die Promenaden und öffent- 
he Luftbarfeiten. An feiner Seite betrat fie an 
zen Abende, ald die Schröder » Devrient die 
olle des Nomen fpielte, zum erften Male das 
heater. 

Schon bie erften Zöne der Ouvertüre erfchüts 


172 


terten ihr ganzes Weſen. Bleich und zitternd 
faßte fie die Hand des Geliebten, ald müßte fie 
einen Halt fuchen, nicht unterzugehen in bem 
wogenden Meer der Töne, bie fie umraufchten, 
und ihrer felber nicht länger Meifter, Hüllte 
fie ihre Gefiht in ihre Hände, die Thraͤnen 
zu verbergen, die .eine ungeahnte Macht ihren 
Augen entlodte, AS dann der Vorhang fich hob, 
ald der Ehor erfehien, und endlich die Devrient als 
Romeo hervortrat, das ſchwarze Barett auf den 
prächtigen, blonden Locken, den bligenden Degen 
in der Rechten, um mit ber fiegenden Alfgewalt 
ihrer glorreichen Stimme den Racheſchwur zu fin- 
gen, da erſt trodneten Regina’d Augen. Was fie 
jest empfand war zu groß für Thränen. Athem- 
08 hörte fie die Arie: 


Vor Romeo’3 Rächer: Armen, 

Sol kein Gott, fein Gott Euch fchügen, 
Und von feined Schwertes Blitzen 

Treffe Euch der Todesſtrahl. 


Wie einer Offenbarung Hingegeben, folgte fie 
dem Verlaufe der Oper bis zu ihrem Ende, wo 


173 


h fie erinnern mußte, aufzuftehen, fo regungs⸗ 
in fich verfunfen ſaß. fte da. 
Sie hatten ven Heimweg zurüdgelegt, fie was 
in ihrer Wohnung angelangt, und immer 
, fchwieg Regine, wie unter einem Banne, 
dem felbft Erich's Fragen fie nicht empors 
ißen vermochten. Mit einer Art von Angft 
ahrte er den Eindrud, welchen die Oper und 
Meifterfchaft der erſten Künftlerin ihrer Zeit 
die Geliebte gemacht hatten. Ihre Seele war 
ıt abgeftumpft durch die ſchädliche Gewöhnung 
Kunftgenüffe, in einem Alter, in welchem wir 
ſt fähig find fie zu verftehen, und in dem, 
t entfernt unfer Empfinden und unfer Urtheil 
üben, fie und nur jene Gleichgültigfeit aners 
t, die und fpäter achtungslos und ohne Hin- 
ung vor den Schöpfungen der Kunft vorüber: 
en läßt. 
Endlich fuhr Regine wie aus einem Traume 
yor, ftrih mit den Händen über ihr Haar und 
te gegen Erich gewendet: „Das wird mit 
te Ruhe lafien von heute ab!” 
„Was?“ fragte Erich verwundert, 


174 


„Die Sehnſucht, auch fo dazuftehen wie fie, 
und al die Liebe, al die Wonne, für die dad 
arme Menfchenherz zu eng ift, binaus zu fingen 
in die Welt, daß fie: Alle mir helfen fie zu 
tragen!" 

Dabei Hatte fie begeiftert die Hände empor 
gehoben, die Arme audgebreitet, und fand in 
einer Stellung vor ihm, um deren natürliche 
Großartigfeit jede Künftlerin fie beneiden Fonnte, 
Erich ftaunte fie an und vermochte ſich dennoch 
nicht daran zu freuen. 

„Bas fiht Dich an, Liebfte!” fragte er, fie 
zu fich nieberziehend, „Du, Du möchtet Schaus 
fpielerin werden ?* 

„Sat ich möchte es!“ rief fie mit berfelben 
Begeifterung. 

Erich fehüttelte zweifelnd das Haupt. „Du 
möchteft Deine Tage damit hinbringen, Rollen 
einzuüben, mir Deine Zeit entziehen, um am 
Abende Dich den frechen, neugierigen Bliden all 
ber Männer hinzugeben? Diefe geliebte Stirne, 
diefer Naden, bdiefe Arme — und er bebedte fie 
mit feinen Küffen — die mein eigen find, bie 


. 175 


Uteſt Du entweihen lafien durch ein frembes 
ige?“ — Er ließ fte los, ftand auf, wendete 
von ihr ab und fagte mit fchmerzlicher Klage: 
Ju liebſt mid) nicht, Regine! * 

Es bedurfte nur diefes Wortes, fie in feine 
me zu führen und ihr die Erklärung zu ents 
fen, daß fie nicht gewußt, nicht überdadht, was 
gefprochen, daß fie erfchrede vor dem bloßen 
:danfen ſolcher Schauftellung und daß fie Nichts 
jehre, Nichts verlange, als ihm zu gefallen und 
a zu fein. 

Indeß trog der Wahrheit diefer Berficherungen 
wand der Gedanke an die Oper nicht aus ihrer 
:ele, und fchon nach wenig Tagen bat fie den 
liebten, fie in der Mufif und namentlich im 
fange unterrichten zu laſſen. Erich's Etirne 
düfterte fich bei der Forderung, die zu erfüllen 
verweigerte. So oft fie auch bald fiherzend, 
ſd ernfthaft, auf dieſelbe zurüdfam, immer 
eder trat ihr feine Mißbilligung beftimint ents 
ven, bis fie fich endlich genöthigt fah, auf bie 
währung dieſes Wunfches, des erften, ben fie 
vn Erich ausgefprochen hatte, zu verzich- 


176° 


ten, ohne ihn jedoch in ſich unterbrüden zu 
fünnen, 

Eiferfüchtiger, als er ſich's eingeftand, hatte 
Erich eine Abneigung gegen ihre Vorliebe für die 
Muſik gefaßt. War e8 ihm früher ein Genuß 
gewefen, fie mit ihrer Elangreichen Sopranftimme 
ihre Eleinen deutſchen und franzöfifchen Lieber zur 
Guitarre fingen zu hören, fo vermied er das jekt 
geflifientlih, und fuchte ihre Theilnahme mehr 
auf die Werke der Litteratur zu richten. Indeß 
troß der Freude, welche fie daran empfand, blieb 
ihre alte Sehnfucht unvermindert, und ward nur 
lebhafter durch die Hinderniſſe, welche ſich ihr ent- 
gegenftellten. Sie forderte nicht mehr bie Oper 
zu befuchen, fie fang nicht mehr in Erich's Ges 
genwart, aber fie entfchädigte fich in den Stun⸗ 
den, die er fern von ihr verleben mußte, für ben 
ihr auferlegten Zwang, und mit dem glüdlichften 
muftfalifchen Gedaͤchtniſſe begabt, wußte fie ſich 
bie fehwerften Melodien anzueignen, die fie Gele 
genheit zu hören fand, 

Wochen und Monate flogen an ihnen in im» 
mer gleicher Luft, in immer gleicher Liebe vorüber, 


177 


ch hatte fein Eramen gemacht, ohne daran zu 
fen, daß er beabfichtigt habe, gleich nad) dem⸗ 
en in bie Heimath zurüd zu kehren. In Ber: 
aber hätten die Familien, in denen er fonft ges 
‚ an feine Abreife glauben müflen, wären fie 
ı nicht bißweilen an’ öffentlichen Orten mit 
t Dame begegnet, deren Schönheit dad Staus 
der Männer erregte, welche ihm die reizende 
liebte beneideten, 
So fehr er fi) durch feine Liebe gleichgültig 
en die Gefellichaft glaubte, fand er doch ein 
Bed Genügen daran, der Gegenftand ihrer Neus 
: zu fein. Durch feine Leidenfchaft gezwungen, 
ı öffentlichen Urtheil troß zu bieten, machte er 
ein Bewußtfein daraus, daß er ed that, und 
; er Herr geworden war über feine Scheu 
der öffentlichen Meinung Unfähig eine 
hre innere Freiheit zu gewinnen, ftellte er ſich 
Nothwendigkeit, der er erlegen war, fo lange 
eine That der Selbftbeftimmung vor, bis er 
endlich dafür hielt, und gemartert von der 
nen Abhängigkeit, befaß er grade Energie ger 
1), ſich dieſelbe weg zu läugnen. 
Wandlungen. I. 12 


178 


Am auffallendften mußte fein Sortbleiben im 
Haufe der Frau von Werbe bemerkt werben, bad 
er fonft faft täglich befucht hatte. Da man ihn ftets 
ald den Fünftigen Gatten ihrer Tochter angefehen, 
beeiferte fc) jene Theilnahme, welche Luſt daran 
findet, unangenehme Nachrichten möglichft fchnell 
zu überbringen, Frau von Werdeck über die Ber 
hältniffe des jungen Mannes in Kenntniß zu 
fegen. Betroffen über ein Ereigniß, welches fie 
weder mit Erich's Achtung vor den Geſetzen Aus 
Berer Schidlichkeit, noch mit feiner unverhohlenen 
Bewerbung um Sidonie zu vereinen wußte, Hatte 
fie lange beabfichtigt, einmal ruhig ! mit ihm 
darüber zu fprechen, als ein Zufall dieſen Plan 
vereitelte, 

An einem Abende, ald Eric) nad) langem 
Ausbleiben wieder einmal am Theetiſch feiner 
Freundin erfchien, waren ein Baar junge Damen 
zum Beſuche gefommen, welche mit großer Leb⸗ 
haftigfeit die Reize eines Maskenballes im Opern: 
haufe jchilderten, fo daß Fräulein von Werbed 
ſich von der Luft ergriffen fühlte, die gleiche Herr⸗ 
lichfeit zu genießen, und ſich deshalb mit ber 


179 


je an die Mutter wendete, ob fie ſich nicht 
chließen Fönne, fie einmal hinzuführen? 

Frau von Werdeck ſah Tächelnd auf ihren 
errod von ſchwarzem Taffet und auf die weißen 
ider ihrer Haube herab, da fie feit dem Tode 
8 Mannes fi aller farbigen Kleidung ents 
en hatte, und fragte: „Haft Du Dir wohl 
jeftellt, wie dieſe dunkle Tracht fich unter den 
öfen machen würde, oder meinft Du, daß id) 
n einem Domino verhüllen ſolle?“ 

Sidonie und die jungen Mädchen lachten, 
ı ed hatte wirklich etwas Komifches, fich die 
te Frau in einer ihrem Weſen ganz entgegens« 
bten Umgebung zu denken. Die Sehnſucht 
ı dem Fefte war nun aber einmal angeregt, 
fchmeichelnd fagte die Tochter: „Ich verlange 
zar nicht liebe Mama, dag Du Dich hinbes 
ft, laß mich nur mit der Tante gehen, die 
nächften Ball beſucht!“ 

Ihre Freundinnen baten fuͤr ſie, auch Erich 
te der Mutter zu, ihr das Vergnügen zu 
itten, fo daß Jene halb befiegt, nur noch 


Einwand machte, Sidonie müffe, wenn fie 
12* 


180 


es erlauben folle, einen männlidhen Begleiter 
haben. | 

Unwillführlich wendeten der Tochter Augen 
fi) auf Heidenbrud, und ſogleich machte er ben 
Vorſchlag, Frau von Werde möge ihn zum Car 
valier derfelben annehmen, 

„Sie?" fragte die Mutter, in einem Tone, 
der Erich unangenehm befremdete, und fich dann 
ſchnell bemeifternd, meinte fie: „Wenn Sibonie 
zu dem Balle gehen follte, will ih Sie darum ers 
fuchen!” aber auch dieſe begütigenden Worte Elans 
gen ſcharf und Falt. 

Er glaubte, daß fie eine Ablehnung enthielten, 
und mit jenem fonderbaren dämonifchen Zuge, ber 
in ſolchen Lagen oft grade die zurüdhaltenbften 
Menfchen treibt, eine unangenehme Berührung 
herauszufordern, fragte er, als Sidoniens Gäfte 
fih entfernten, und fie felbft dad Zimmer verließ 
ihnen das ©eleit zu geben: „Warum wollen Sie 
mir Fräulein Sidonie nicht für den Abend anver- 
trauen, gnädige Frau?” 

Eie fah ihn einen Augenblid an, fehwieg, 
ſchien nicht mit fich einig zu werben, und -fagte dann 


181 


en ihre Gewohnheit von einer leidenfchaftlichen 
fmallung fortgeriffen: „Weil man eine Masfe 
Ihrem Arme — nidt für meine Tochter 
ten würde!” 

Eine dunfle Röthe überzog Erich's Geficht, 
ie Freundin aber erbleichte vor ihren eigenen 
ten, und als habe das Ausſprechen bed lang 
haltenen Grolles ihr die alte Freiheit und die 
» Zuneigung für ihn wiedergegeben, reichte fie 
ı die Hand und fragte klagend: „Mußte e8 dahin 
amen? Mußte ich Sie verlieren, lieber Freund?“ 
Er fah, daß ihre Augen fih mit Thränen 
ten, fein Zorn entf hwand vor dem Klagelaut 
Stimme, die bisher nur Worte der Güte für 
: gehabt hatte. Sein Herz ſchwoll auf, und zum 
en Male empfand er, daß er auch hier ein Glüd 
effen und daß er es für Regina hingegeben habe, 
„Verdammen Sie mich nicht ungehoͤrt!“ fagte er. 
„Ich Eie verdammen? Ich beflage Sie nur, 
n Sie thun Sich Unrecht, Erich! in der öffents 
en Meinung und in dem eigenen Bewußtfein, 
e, grade Sie find nicht gefchaffen, Befriedigung 
Zuftänden zu finden, in denen — —“ 


182 


Der Tochter Eintritt unterbrach fie, aber ihre 
Bewegung und des Freundes Befangenheit fonn- 
ten berfelben nicht verborgen ‚bleiben. Unent⸗ 
ſchloſſen, ob fie verweilen ober fich entfernen folle, 


ftand fie da, die hohe ſchlanke Geftalt, die tief 


zur Taille herabfallenden röthlicy blonden Locken 
vom Licht der Lampe beleuchtet, und die heil blauen 
fharfen Augen fragend auf die Mutter gerichtet, 
von ber fie, trog ihrer ein und zwanzig Jahre, 
in volftändiger Abhängigfeit gehalten warb. 
Eine überlenfende Bemerkung ber Frau von 
Werdeck brachte die Unterhaltung auf einen ans 
bern Gegenftand, aber fie wollte in Feinen red. 
ten Fluß mehr fommen. Eric fonnte das uns 
berechtigte Gefühl nicht los werben, ald ob nidt 
nur die Mutter, fondern auch Sidonie ihn mit 
dem Ausdruck des Mitleides betrachteten, als ob 
man ihn mit jener Vorficht behandle, mit welcher 
man einen Berirrten auf den rechten Weg zu füh- 
ren fucht. Seine Eitelfeit empörte fich dagegen 
eben fo fehr, als fein Ehrgefühl von der Selbſt⸗ 
erfenntniß litt, daß Frau von Werbed ihm in ben 
jegigen Berhältniffen wirflic die Begleitung ber 


nn. DD, a1 a — nn 


183 


Lochter nicht geftatten Fönne, bie ihm plöglich als 
ine wünfchenswerthe Gunft erfchien. 

Berftimmt erhob er ſich endlih um fich zu 
erabfchieden. Der liebevolle Händebrud der 
Rutter, Sidoniens unbefangenes: „auf baldig 
Viederſehen!“ thaten ihm fo wohl, daß es ihm 
rs Herz fchnitt, fich einer folchen Ermuthigung 
ebürftig gemacht zu haben, und zum erften Male 
am er verbüftert, Falt und ſchweigſam zu ber 
n erwartenden Geliebten zurüd, 


Achtes Kapitel, 


Erft eine geraume Zeit, nachdem Erich Regine 
wiedergefunden, hatte er erfahren, daß fie Fries 
brich Fenne, und in einem gefchwifterlichen Ber 
hältniffe zu ihm geftanden habe. Schwer von 
diefer Mittheilung getroffen, unfähig feine Ders 
bindung mit ihr ungefchehen zu machen, Hatte er 
es vermieden, Friedrich’8 ferner gegen Regina zu 
erwähnen, bie ohnehin ſich faum noch in einem 
Zufammenhang mit ihren alten Freunden befand. 
Aber mitten in dem Rauſche feiner Leidenfchaft, 
mitten in dem Genuſſe feines Glückes, Hatte dad 
ernfte Bild ded Freundes vor ihm gefchwebt und 
Rechenſchaft von ihm gefordert für den Mißbrauch 


185 


ewalt, bie bed Maͤdchens Unerfahrenheit 
ebe ihm über daſſelbe eingeräumt, 
kannte die Strenge von Friedrich's ſitt⸗ 
Begriffen, er hatte ihn ftets unnachfichtig 
en gegen jene MWeberfchreitungen berfelben, 
an ſich gewöhnt hat mit Nachficht zu ber 
n, weil man ihnen bei unferer verfehrten 
ation feine Schranfen zu ſetzen vermag. 
ebanfe, ein Mädchen, weldyes feinem Freunde 
war, verführt zu haben, machte es ihm 
d, ihm zu fchreiben. Vergebene fuchte er 
t dem eigenen Bewußtfein mit der wuns 
n Liebe und Hingebung Reginen’d zu ents 
zen. Vergebens fagte er fi, daß nicht 
ein Mann dem verlodenden Zauber viefes 
‚ümlichen Begegnend wiberftanden haben 
Was ihn rechtfertigte in den Augen 
MWeltmannes, diente nur dazu, ihn vor 
ch noch ftrafbarer erfcheinen zu laflen, und 
: ihm eine Erleichterung, daß Regina, ganz 
en in die Gegenwart, ihrer Vergangenheit 
red Jugendfreundes bald gar nicht mehr 
e. 


186 


Friedrich, mit ſich felbft bejchäftigt, hatte es 
wohl bemerkt, daß bie Briefe Erich's feltener 
und flüchtiger wurden, aber auch er fühlte in bie 
fem Augenblide feine Neigung zu ſchriftlichem 
Verkehr, und fo fonnte ed um fo leichter gefchehen, 
daß ihre gegenfeitigen Mittheilungen endlich vollig 
unterblieben, da fie Beide durch die Heidenbruck⸗ 
fche Familie doch in einem oberflädhigen Zufams 
menhange erhalten wurben. 

In dem Leben jedes ftrebfamen Menſchen 
fommen Zeiten vor, in denen feine geiftige Ent 
widelung aus ihrem gleihmäßigen Gange her- 
ausgeriffen und zu gewaltfamen Fortfchritten ges 
drängt wird, bie meift durch Äußere Ereignifle, 
durch das Herantreten freinder Naturen hervor⸗ 
gerufen werden. Mit dem erften Befuche ber 
Erbauungsftunden bei der Gräfin hatte eine 
folhe Epoche für Friedrich angehoben, und der 
Zwiefpalt, in welchen Cornelie zu ihrem Vater 
gerathen war, hatte dazu beigetragen, bie Krifis 
entfchiedener und fchärfer audzuprägen. 

Der Baron naͤmlich, durchdrungen von bem 
Grundfage, daß wer den Zweck will, auch bie 


187 


ittel wollen müfle, Hatte fi) offen gegen ben 
octor über die bedenkliche Richtung ausgefpros 
n, welche Gornelie genommen, und mit Er 
unen bemerft, daß Iener ihren Thun und 
reiben mit großer Achtfamfeit gefolgt war. 
sh der Doctor ſchien über Cornelie beforgt zu 
n, ohne wie der Baron, an die Möglichkeit 
glauben, dag man fie durch Gründe der Ver⸗ 
ınft von ihrem Srrthum überzeugen Fönne, 
„Religiöfe Ueberfpannungen*, fagte er, „wols 
n ihren ungeftörten Verlauf haben wie die Kin⸗ 
rfranfheiten, bei denen die gefunde Natur das 
iefte thut, wenn nicht Zwifchenfälle ihre Thä- 
gfeit verhindern. Und fo feft ich an bie innere 
taft Ihrer Tochter glaube, fo fürchte ich, daß 
e, durch ein anderes mitwirkendes Element ges 
indert, nicht frei ift, ihre Kraft zu brauchen!” 
„Was meinen Sie damit?" fragte der Baron, 
„Bräulein Eornelie hegte ſchon bei den LXebs 
iten ihrer Mutter eine große Theilnahme für 
yerrn von Pleffen, und der Spiritualismus des 
'reifes, in dem fie fich beivegen, hat, nach allem, 
a8 ich davon weiß, ein gutes Theil überfinnlis 





188 


her Sinnlichkeit in fih, die ganz dazu geeignet 
ift, ein Mädchen von drei und zwanzig Jahren 
aufzuregen und an irgend einen ihrer Glaubens⸗ 
brüder zu feſſeln. Bräulein Cornelie liebt den 
Herren von Pleſſen!“ 

Der Bater fhwieg. Er wußte, daß ber Dow 
tor niemald eine Behauptung aufftellte, für bie 
ihm die Beweife fehlten, aber man konnte an ber 
heftigen Bewegung, mit welcher der Fuß bes Bas 
rons leife und fchnell den Boden trat, feine Stim⸗ 
mung erfennen. 

Es liegt etwas Schmerzliches darin, einen 
Mann von den Folgen feiner Irrthuͤmer Teiden 
zu fehen, wenn wir wiffen, daß er im guten 
Glauben an die Wahrheit feiner Anfichten gehans 
belt hat. Der Doctor fühlte Mitleid ‚mit dem 
Bater, und fam dem Kummer deſſelben durch bie 
Bemerkung entgegen: „Ed wird Ihnen in bie 
jem Falle Nichts zu thun bleiben, ald nad) dem 
Beiſpiel Ihres Göthe zu verfahren! * 

„Daß heißt?” fragte der Baron. 

„Sie müffen die Irrende ihre Straße gehen 
laffen, aber wie der Abbe im Wilhelm Mkeifter 


189 


jeinen Lehrlingen thut, ihr alle gefährlichen 
tenwege verfperren, fo baß fie mit dem Ges 
‚ ber Freiheit fich gezwungen fieht, das rechte 
zu finden.” 
Dem felbfiftändigen Menfchen ift ein Aufruf 
feine Thätigfeit die beſte Stübe gegen fein 
». Die Ausficht, vorforgend für Eornelie ein, 
seten, bob ten Vater über ſich und fein Ems 
ıden hinaus, und mit der gewohnten Ruhe 
te er: „Es dringt ſich mir täglich klarer bie 
em Menfchen fchmerzliche Erfahrung auf, daß 
älter werde, daß dad Alter und die Jugend 
nicht mehr verftehen, und daß die Scheides 
nd zwifchen der Vergangenheit und Gegenwart 
unferen fehnelllebenden Tagen größer ift, als in 
heren Zeiten. Ich Hatte gehofft, mir in meis 
: Kindern gleichgelinnte Freunde zu erziehen, 
en mit der Erfahrung meines Lebend zu nuͤtzen, 
» ih muß finden, daß die Saat jener Ueber⸗ 
zungen, bie ich von ihrer Kindheit an in ihre 
zen zu ftreuen mich bemühte, nicht die erwars 
n Früchte trägt, Woran liegt das, Doctor?” 
„Mein verehrter Freund!” entgegnete dieſer, 





‘ 1% 





N 


„muß ich Ihnen, dem erfahrnen Landwirth jagen, 
daß dieſelbe Saat auf verfchiedenen Boden ge 


| 
| 
| 
| 
| 


freut, von einem verfchiedenen Klima groß gezo⸗ 


gen, auch eine von der Saat verfchiedene Frucht 
erzeugen muß?” 

„Daraus folgt?“ fragte der Baron, 

„Daraus folgt, daß man jedes Gewäͤchs in 
feiner Eigenthümlichfeit und nad) feinen Außeren 
Bedingungen ſich entfalten lafien muß, will man 
überhaupt eine Frucht davon erzielen!“ 

Es entitand eine Pauſe. Der Baron Fannte 
den Grundfag wohl. Er hatte ihn in der Bes 
handlung von Pflanzen und Thieren mit dem glüds 
lichften Erfolge geübt, ihn auf ven Menfchen anzus 
wenden, dem Menfchen gleiche Rüdficht und Ge⸗ 
rechtigfeit angedeihen zu laffen, fträubte fich feine 
Herrfchfucht, Denn wunderbar genug, erfennen wir 
leichter die innere Berechtigung der Wefen an, welche 
wir die willenlofen, die mit blindem Inſtinct bes 
gabten nennen, ald die Selbftberechtigung des Mens 
chen, deſſen Vernunft und freien Willen wir als 
feine wefentlichften Vorzüge rühmen, 

„Es ift hart," fagte er nach langem Schwei⸗ 


191 


„daB man fo machtlos ift, dad Scidfal 
Kinder zu beftimmen!” Und wieder entftand 
Baufe, bis er fich ermannte und den Doctor 
„Berlieren Sie Cornelie nicht aus dem 
ya 
Sie ift mir zu werth, als daß ich es koͤnnte!“ 
biefer, und fo natuͤrlich auch die Antwort » 
fiel fie dem Baron auf, ohne daß er ſich er⸗ 
konnte, was ihn an berfelben überrafchte, 
Verhaͤltniß zum Doctor war jedoch von 
ı Tage an ein engered geworden, und uns 
ſich ganz abzufchließen gegen die neue Zeit, 
er ihre Anfichten am leichteften im Doctor 
Ipectiren, und feinen Widerſpruch am gebuls 
n zu tragen. 
50 kam ed, daß der Doctor und mit ihm 
rich, wieder häufiger dad Heidenbruck'ſche 
 befuchten, und da Gornelie, Pleſſen und 
rich eben fo befchäftigt und eingenommen 
ihre religiöfen Anfichten, ald der Baron 
der Doctor beftrebt waren, dieſe Anfichten 
refämpfen, mußte dad Beifammenfein ber 
ıde meift Gefpräche zu Wege bringen, welche 


192 


% 
mehr ober weniger das religiöfe Gebiet berühtten. 
Dabei ftellte fih deutlicher al8 in den Erbau 
ungöftunden, die Meinungsverfchiebenheit zwilchen 
Gornelie, Pleffen und Friedrich heraus, weil dort 
alle fich durch Gebete in ertatifche Zuftände zu 
verfegen ftrebten, welche abfichtlich das Irdiſche 
a yon fi) wiefen, . während der Baron und 
der Doctor fie bier immer in dem Hinblid 
auf die Wirklichkeit zu erhalten wußten, und 
Friedrich's Studien ihn von felbft im dieſe zus 
rückführten. 

Je weiter er naͤmlich in der Kenntniß der 
Werke Fourrier's und St. Simon's vordrang, 
um ſo mehr leuchtete es ihm ein, daß Beide nicht 
von dem Beſtreben ausgegangen waren, neue reli⸗ 
giöſe Secten zu begründen. In der Abſicht, die 
materielle und damit auch die geiſtige Lage der 
Menſchen zu verbeſſern, waren fie dahin gefom- 
men, die bisherigen religiöfen Anſchauungen als 
ein Hinderniß für ihre Zwede zu erfennen, und 
fie deshalb verlaffend, hatten fie verfucht, fie durch 
andere, ihren Zweden entiprechendere religiöfe 
Borftellungen zu erfegen. — St. Simon's Aus⸗ 


N 





193 


„Die Religionen find eine Umwandlung 
Venfchaftlichen Anfchauungen der Menfchheit 
pfindung, und fomit eine angewandte Wifs 
't, die zum Verbindungsmittel zwifchen dem 
ten und dem Volke, zur Grundlage ber fittli- 
elehrung dient, * hatte einen großen Eindrud 
edrich gemacht. Er war feiner Idee von der 
widlung ber religiöfen Begriffe entgegenges 
ı, während diefe Anftcht ſich doch in ſchrof⸗ 
:genfage zu der Unumftößlichfeit und Allein: 
sit der chriftlichen Offenbarung befand, gegen 
edrich fich eigentlich nicht aufzulehnen wagte. 
188 Abende, ald er fich darüber gegen bie 
nden ausgeſprochen hatte, fagte der Docs 
Wenn Sie Sich nur von dem Gedanken 
Offenbarung losmachen wollten! Das 
nthum ift eben fo wenig eine Offenbarung, 
e Dampfmafchine. Sie find beide lang 
itete Refultate vielgeftalteter Erfahrungen, 
hriftentbum im Felde der Religion, die 
mafchine im Felde der Mechanik; und weil 

find, haben fie eine organische Bedeutung, 
f eingreifende Wirkſamkeit, und ve Faͤhig⸗ 


idlungen. II. 


194 


feit, durd) neue Erfahrungen weiter ausgebildet zu 
werden. Eine Offenbarung muß uns etwas voll 
fommen Neued geben. Was aber ift denn neu 
geweien an dem Chriftenthum, als die eben fo 
eigenthümliche ald kluge Vermiſchung des vorhan⸗ 
denen Willens, Glaubens und Aberglaubens?“ 
„Neu,“ fagte Pleffen, „waren die Lehren ber 
Entjagung und ber Selbftentäußerung, in eine 
Welt, welche die Selbſtſucht und den Einnenge 
nuß bis auf dad Aeußerfte getrieben hatte. Neu 
und einzig war bie Idee der Liebe in einer Welt 


— — 





von Tyrannei, bie Idee der Brüberlichfeit, der | 


allgemeinen Gleichheit in einer Zeit der furchtbar 
ften Sclaverei und Unterbrüdung; und göttliche 
Offenbarung muß man bie Berfündigung einer 
Wahrheit nennen, die nicht nur in jenem Augen 
blicke dem fchmerzlich gefühlten Mangel der Menſch⸗ 
heit begegnete, fondern für alle Ewigfeit die gleis 
che Kraft beſitzt.“ 

„Diefer ewig gleichen Kraft des Chriſtenthums 
fcheint da8 Suchen ber St. Simoniften und 
Fourieriſten nad) einer neuen religiöfen Befriedi⸗ 
gung zu wibderfprechen!‘ meinte der Baron, 


195 


‚eu,‘ fagte Eornelie, ‚war vor Allem die 
er Kindfchaft, welche und Gott verbindet, 
e8 und möglich macht, und ald Kinder in Ges 
und in Ölauben unferm Vater hinzugeben.” 
3 fie aber die Worte vom Eindlichen Gehors 
isgeſprochen hatte, färbte eine glühende Rös 
? Wangen. Sie feheute e8 dem Auge ihres 
zu begegnen, fo daß ihre Blicke fih auf den 
richteten, Er fühlte Mitleid mit ihrer Faſ⸗ 
figfeit, und um die Aufmerkfamfeit fo fchnell 
glidy von ihr abzulenken, rief er: „Wenn ich 
chts vom Glauben hören müßte! — Descars 
t einmal gefagt: „Der Menſch muß Nichts 
ı, was die Vernunft nicht für wahr erfennt, 
18 nicht von der Erfahrung beftätigt wird. * 
Jedcarted Hat Recht. Kein vernünftiger 
ſchließt einen Contract ab, oder geht 
Bact ein, ohne ſich die pofitivften Beweife 
jeben zu laſſen, daß er nicht dabei zu kurz 

Niemand läßt ſich fobald aufs Glauben 
nn es dad Mein und Dein von Hundert 
ı gilt, Da aber, wo es ſich um dad ganze 


und Sein de8 Menfchen handelt, da bes 
13* 


1% 


gnügt man fih ohne Prüfung mit einem Glau⸗ 
ben, für deſſen Wahrheit es unmoͤglich ift, fh 
jemals einen thatfächlichen Beweis zu fchaffen. * 

„Die Fähigkeit des Glaubens ift eine Gnade!“ 
bebeutete Pleſſen. 

„Rennen Sie es eine organifche Eigenfchaft,“ 
fagte der Doctor, „und ich werde Ihnen einräumen, 
daß fie mir fehlt, ohne mich darüber zu beklagen.“ 

Sriedrich hatte nachdenfend ber Unterhaltung 
zugehört. Seht, da Pleſſen dem Doctor aus relis 
giöfer Nichtachtung nur mit einem Schweigen 
antwortete, bemerkte er: „Es ift allerdings ein 
nicht fortzuleugnendesd Factum, daß das Ehriften- 
thum auf mannigfache Weife vorbereitet war, baß 
fowohl im Platon, wie in den Lehren der Eſſaͤer, 
zu denen Jeſus gehörte, ein Theil feiner Elemente 
fih in mehr oder weniger vollendeter Form aus 
gefprochen finde. Aber wad nimmt das bem 
Chriſtenthume von feiner eigentlichen Bedeutung?“ 

„Bon feiner eigentlichen Bedeutung Nichts!“ 
tief der Doctor. „ES nimmt ihm nur den goldenen 
Heiligenfchein der Offenbarung und ber ihm eigens 
thümlichen Transcendenz, ohne den St. Sofeph 


197 





idifcher Zimmermann, fein Eohn, der Hei- 
ein verftändiger Empörer gegen Kirche und 
t, und das Chriſtenthum Nichts weiter ift, 
ver Ausdruck einer beftimmten menfchlichen 
icklungsſtufe, ald welchen ich es auch in ges 
ndem Grade anerfenne.” 
Zerlegen Sie den menfchlichen Organismus, 
Sie ja gern ald Bild gebrauchen, in feine 
ihen Beftandtheile,”’ wendete Pleſſen ein, „fo 
n Ihnen jene Stoffe zurüd, die fich in ben 
iedenften Zufammenftellungen durch die ganze 
verbreitet finden; und doch fol es hs 
ihwer werden mit allem Wiflen und Erfen- 
den Menfchen wieder zufammenzufügen, defs 
Irgane zu zeriegen Ihnen leicht war, Es 
ein letztes Wunderbares übrig, eine Kraft, 
ie nicht wägen und nicht meflen können, bie 
ıber zugeben müffen, weil Sie fie thätig fe 
Diefe Kraft ift nicht mit dem Gedanken zu 
n, fie will empfunden fein; und weil man 
pfindet, muß man an diefelbe glauben!” 
Diefe Vorausſetzung, welche noch deiftifch ge- 
ft, zugegeben,” meinte der Doctor, „fo folgt 


* 


198 


daraus noch nicht, daß man, um biefe übermenfd- 
liche Kraft zu empfinden oder zu denken, fie in 
menfchlicher Geftalt darftellen und fie mit menfd- 
lichen Cigenfchaften und Fehlern ausftatten müfle, 
wie ed das Chriſtenthum nad) dem Beifpiel feis 
ner heidnifchen und jüdiſchen Vorläufer gethan 
hat. Es iſt befchränft und doch natürlich, weil 
der Menſch in feinem Wefen eben befchränft ift, 
daß er fih nicht wohl etwas Höheres als fid 
felbft zu denfen vermag; aber die Alten, nament- 
ih Platon, hatten einen viel reinern, unperfönli- 
chern Gottbegriff, ald ven des chriftlichen Gott⸗ 
vaters!“ 

„Ich möchte wohl die Alten leſen,“ ſagte Cor: 
nelie, „um mir eine Einficht in ihre religiöfen Vor⸗ 
ftellungen zu verjchaffen.“ 

„Thun Sie dad,” meinte Herr von Pleſſen, 
„und die Erfcheinung des Chriſtenthums wird Ih—⸗ 
nen um fo glorreicher daraus entgegentreten. Wir 
fonnen gleich morgen mit dem Platon den Ans 
fang madyen, ich bin zu jeder Zeit zu Shren 
Dienften!“ 

„Es wird Dich überrafchen, * äußerte ber Ba- 


199 


„wenn Du Did überhaupt der voschriftlichen 
he zumendeft, wie volftändig in den griechi⸗ 
und römifchen Denfern der Gottbegriff als 
höchftes Wefen ausgebildet war. Auch die 
n von einer allwaltenden Vorſehung, von 
und Strafe nad) dem Tode, find vollkom⸗ 
unter ihnen entwidelt. Selbft die Neigung 
men Spipfindigfeiten und rübeleien über 
ogiſche Gegenftände, die ihren Höhenpunft 
Auftauchen der antifatholifchen Reforinationen 
hten, trifft man in gleicher Stärfe fowohl bei 
Juden, ald bei den Römern und Griechen 
r.“ 

Am Auffallendſten werden Sie es finden,“ 
der Doctor hinzu, „daß nicht einmal die 
ſologie des Chriſtenthums eine neue iſt.“ 
Die Mythologie des Chriftentbumd?* wies 
Ite Herr von Pleſſen, „was wollen Sie das 
agen?“ 

Wie wollen Sie die Geſchichte des Heilan- 
der Madonna und ihres beiderfeitigen Zu- 
enhanged mit St. Joſeph und Gottvater, 
jefhichte von der Auferftehung und zweiten 


200 


Erdenwandlung Jeſu, und von feiner Himmels 
fahrt anders bezeichnen, ald mit dem Ramen der 
hriftlihen Mythologie?” 

„Ich bebachte freilich nicht,“ meinte Pleſſen, 
„daß man — — " 

„Als Jude geboren,“ fiel ihm der Doctor in’ 
Wort, der richtig die Einwendung feines Gegners 
berechnet hatte, ‚daß man, ald Jude geboren, 
mit ungeblendeteın Auge jenen unerflärlichen Wun⸗ 
bern gegenüber fteht, und nicht begreifen Tann, 
wie ed möglich ift, Dinge, die fi) im unaufloͤs⸗ 
lichten Widerfpruche mit der fechdtaufendjährigen 
Erfahrung der Menfchheit befinden, für etwas 
Andered als für mythologifche Allegorien zu 
halten, die fie bei den Egyptern auch gewefen 
find!’ 

„Bei den Egyptern?” fragte Cornelie, 

„Sa, liebes Fräulein! Die Mythologie des 
Chriſtenthums ftammt aus dem Jfisdienfte. Rhea 
gebar nad) demfelben: ven Oſiris, den allwalten- 
den guten Geift, der ſogar aud) unter dem Zei⸗ 
chen des Auges dargeftellt und verehrt wird, und 
bei deſſen Geburt eine Stimme ertönte, welche 


u 


201 


Welt rief: Der Herr des AUS tritt 
's Licht! Nah Dfiris brachte Rhea 
on zur Welt, der unzeitig aus ihrer 
prang, und endlich die Iſis. Typhon 
je, von Unwiffenheit und Falſchheit aufs 
Princip, das die heilige Lehre zerftört, 
a entgegentritt und es vernichtet. Iſts 
Alliebende, dad Ewigweibliche, der Urs 
Gnade, fammelt und erhält durch dieſe 
e die vernichtete Lehre immer wieder, 
dad Gute ftetd aufs Neue auf. Da 
e ten Gottvater, den Teufel und bie 
Selbft.der Menſch gewordene Got⸗ 
: in dem Horus, dem Baftardfohn der 
orgebildet, während die Lehre von ber 
dung und dem Erdenwallen der Gott⸗ 
erziehung der Menfchheit, den allerältes 
fen Borftelungen angehört,‘ 
igen Naturen kann nichtd Schlimmeres 
ald wenn man Thatfachen wider fie in's 
Gegen Gründe der Vernunft kann 
e fein Recht behaupten, fie nicht einzus 
t anzuerkennen. Gegen hiſtoriſche That⸗ 


202 


ſachen aber läßt fich nicht ftreiten, und bei aller 
Meberfpannung Eorneliend war ‚ein Wahrheitöge 
fühl in ihr rege geblieben, das fich nicht unter 
brüden ließ, fo oft fie es auch, auf Pleſſen's Ans 
rath, ald gefährliche Zweifelfucht in ſich zu unter 
brüden geftrebt hatte. Von Jugend auf gewöhnt, 
wen Doctor und feine Duldfamfeit zu verehrten, fiel 
ihr eine ihm fonft fremde Härte auf, fobald 
feine Behauptungen ſich gegen ‘Bleffen richteten. 
Sie zürnte ihm deshalb und war doch unfähig, 
wie ihr geiftlicher Breund es that, feine Einwen— 
dungen mit dem nichtachtenden Hochmuth des 
Glaubens von fi) abzumeifen. 

Der feinen Beobachtung Pleffen’d entgingen 
weder der Eindrud quälenden Erftaunens, welchen 
diefe Unterredung in Gornelie hervorgerufen hatte, 
noch die veränderte Stimmung ded Baron gegen 
ihn felbft; und feine nerwöje Neizbarfeit bewäls 
tigte ihn dergeftalt, daß er, unfähig zu antworten, 
in eine fchweigende Niedergeichlagenheit verfunf, 
von welcher Cornelie fich eben fo gepeinigt fühlte, 
als ihr Freund. 

Sie hätte viel darum gegeben, in biefem 


203 


fe die Geſellſchaft verlaffen und Pleſſen 
rechen zu fönnen, aber Niemand dachte 
ıfzubrechen. Man war zu dem Ausgangd- 
r Unterredung zurüdgefehrt, und Friedrich 
Doctor hatten fich in eine Discuſſion über 
en Zwecke und die ausführbaren Seiten des 
rſonismus und Fourierismus vertieft, als 
tenant nach Haufe fam, und fich neben 
Näharbeit befchäftigten Coufine nieber- 


von fprachen fie?’ fragte er diefelbe leije. 
ı allerlei fpeculativen Dingen,” entgegnete 
in gleichem Tone, „durch die die Menjchen 
ht befier werden. Sch denfe, wenn 
ıf der Welt das Seine thäte, und ſich 
ı fremde Angelegenheiten mehr befüms 
8 um die eigenen, da könnte man ein 
l Rachdenfen und Frömmigkeit erfparen |” 
: den Ausfall gegen Cornelie zu beachten, 
Lieutenant: „Und doch forgft Du Dich 
um mich!” 

antwortete mit einem liebeſtrahlenden 
ıd mit dem unterdrüdten Ausruf: „Das 


204 


ift ja fo natürlich I" ald grade ein Diener erfchien, 
dem Baron bie Briefe zu überbringen, welche mit 
der Abendpoft gefommen waren. 

Er machte fie auf, ſah fie durch und bemerkte 
dann: „Da fendet mir Eridy einen Brief von 
Larfien, dem der Ortswechſel doch in jebem Be 
trachte vortheilhaft gewefen zu fein feheint. Er 
ſpricht mit Ernft von unternommenen philologis 
ſchen Forſchungen, von einem Verſuch ſich in ber 


Sournaliftif zu bethätigen, und es bewährt fih 


wieder einmal, daß jeder Menih im Grunde 
leicht zu einem ihm und Anderen förderlichen Da 
fein gelangen faun, wenn er nur auf ben ihm 
gemäßen Lebensweg gebracht wird.‘ 

Der Doctor und der Lieutenant fahen fi 
init verftändnißvollem Blicke an, und wie vor 
hin Cornelie betroffen worden war durch ihren 
Ausfpruch Über den kindlichen Gehorfam, fo fühlte 
jest der Baron, daß er mit feinem Urtheil grade 
jenen Wünfchen Georg's entgegenfam, denen er 
fi) immer abgeneigt bewiefen hatte, 

„Onkel!“ rief Richard, der fi wie ein Mann 
zu fühlen begann, da dad Ende feines achtzehn. 


N 


205 


red und mit ihm bie Zeit feiner Selbft- 
it fih nahte — „Onkel! da fommft Du 
auf den Grundfag, den Brand und vor 
eine Lehre Fourier's gepredigt hat: „Jeder 
ver Faͤhigkeit und jede Fähigkeit nach ih» 
fen." Hieß es nicht fo? Und das ift im 
ganz daſſelbe, was Georg immer behaups 
nn er unter die SHinterwäldler gehen 
Baron würde eine ſolche Bemerfung zus 
ifen verſucht haben, hätte Georg felbft fie 

Bon Richard ließ er fie fich gefallen. 
te für ihn die Zuneigung, weldye das bes 
: Oreifenalter immer mächtiger an bie 
feffelt, während doch im Grunde des 
98 ganze Entwidlung dem Baron ſchmerz⸗ 
Mipgriffe darthun mußte, die er in der 
ıg feiner eigenen Kinder begangen hatte, 
ard war dad Mufter eines geiftig und 
gefunden Juͤnglings. Freimüthig bi zur 
tölofigfeit, auf ſich felbft geftellt und jelbft- 
nd, unabhängig und doch voll Unterord» 
vo er Liebe und Wohlwollen für fich vors 


206 


ausfegen durfte. Daher fam ed, daß der Doctor 
fowohl, als Friedrich und Georg ihn höher Hiel 
ten, ald es fonft einem fo jungen Menfchen zu 
Theil zu werden pflegt, während er felbft eine 
faft leidenfchaftliche Hingebung für den Lieutenant 
hegte, und nur Plefien und Augufte fich gegen 
ihn und mit ihm nicht zu ftellen wußten. 

Auch jet, ald Richard der Neigung des Lieus 
tenants für Amerifa gedachte, fagte Augufte, fei 
es, um dem Onfel zu gefallen, ter Nichts von 
folhen Plänen hören wollte, oder aus eigenem 
Mißbehagen an denfelben: „Wie herzlos ift das!” 

„Was ift herzlos?“ fragte Richard, 

„Daß Du nichtd Befferes für Georg vers 
langft, als ſolch ein jämmerliched Loos!“ 

„Jaͤmmerlich?“ entgegnete der Jüngling, ‚Du 
grade mußt ed ja ganz prächtig finden! Da if 
von fpeeulativen Dingen nie die Rede, da braudft 
Tu Did nur um Deine eignen Angelegenheiten 
zu fümmern, und kannſt fochen, nähen und com- 
mandiren den ganzen langen Tag!’ 

Augufte ward bleicy vor Aerger, fie nannte 
ihn unerträglich, auch ber Onfel fchüttelte miß- 


207 


end den Kopf, und der Lieutenant fagte, ba 
ſich grade erhob, leife zu ihm: „Du haft 

ccht!“ 

‚Nein! ich Höre nur ſcharf!“ entgegnete Ri⸗ 

, „und Du weißt ed nicht, wie ich biefe 

iſte haſſe!“ 

„Das iſt ungerecht! Auguſte iſt die Güte 
103 

Ja! für Did — — grade darum aber hafle 

e!“ ftieß der Süngling heraus, und hing 
m des Lieutenantd Schulter, der fich um dieſe 
e, ald um einen. Ausprud jugendlicher Eifer- 
nicht weiter fümmerte, 


Neuntes Kapitel, 





Plefien kehrte fchwermüthig in feine Wohr 
nung heim, Er öffnete das Benfter und fchaute 
lange in die Nacht hinaus. 

Der Winter war wieder vorüber, die fcharfen 
Dftwinde, welche den Nerven des Sränfelnden 
ftet8 eine gewiffe Spannfraft gaben, hatten einem 
feuchten Weftwinde Pla gemacht, der nach ben 
falten Tagen verhältnigmäßig warm erfchien, und 
das Aufthauen des Eifes befördert. Die Wol- 
fen hingen fchwer in der Luft, nur bie und ba 
flimmerte ein Stern mit mattem Strahl hervor. 
Leife und gleichmäßig tropfend fiel das MWafler 
bes fchmelzenden Schneed von den Dächern nie 


209 





bis fih dann und wann größere Schnee 
ı loslöften und mit dumpfem Schlage auf 
Straßen und Gehöfte herunter fielen. Die 
ven, vom Winde bewegt, fchaufelten ſich 
nd an ihren Ketten und glängten trüb aus 
tachen wieber, die fich zwifchen dem Eife zu 
t anfingen, die Straßen waren öde und 
die einzelnen MWindftöße zogen leiſe pfeifend 
die Stille, 

zleſſen Hatte fich fchon den ganzen Tag unter 
üblen Einfluß diefer Witterung befunden, 
ühlte auch jest ihre nachtheilige Wirkung 
ich, und blieb doch, eben weil er fo ermats 
‘ar, mit fchlaffer Oleichgültigfeit im %enfter 
I. Aber es war nicht die äußere Atmo⸗ 
e allein, die ihn bebrüdte, Seine eigene Tage 
die Berhältniffe feiner Umgebung fingen an 
u beunruhigen. 

ir konnte e8 ſich nicht mehr verbergen, daß 
h in Zuftänden bewegte, welche feinen Ans 
n entgegen waren, daß er auf einen Weg 
et worden war, den er nicht felbft beftimmt hatte. 


e Natur war in ihrer feeliichen Anlage eine 
Bandlungen. II. 14 


210 


durchaus weibliche. Gefühlvol, ſchwaͤrmeriſch, 
weichherzig und doch begierig zu herrfchen, ra 
(08 thätig im Kleinen und vol Scheu vor gro 
en Unternehmungen, die eine lange Ausdauer 
und eine ftarfe Energie verlangen, hatte er in ber 
glaubensfeligen Srömmigfeit und in ber Armen 
pflege, wie er fie in früherer Zeit geübt, ein vols 
les Genügen gefunden. Dieſe Zufriedenheit war 
noch erhöht worden, feit er die Baronin umb 
Eornelie fennen gelernt, und, wie es ſolchen Män- 
nernaturen meift zu gefchehen pflegt, grade durch 
feine Hülfsbebürftigfeit und Schwäche eine große. 
Herrfchaft über die Eräftige Gornelie gewonnen 
hatte, 

Aber es war ihm gegangen wie dem Zaubers 
Iehrling, welcher die heraufbefchworenen Kräfte nicht 
zu bannen weiß und darum endlidy ihrer Ueber: 
macht erliegen muß, Er hatte Cornelien in 
feine Richtung Hineinverlodt, an feiner Hand 
war fie bie erften Schritte auf dem neuen Wege 
gegangen, jest hielt fie diefe Hand feſt in ber 
ihren, und riß ihn mit fich fort auf Pfade, bie 
er niemald zu betreten gedacht Hatte. Die Hoff 


N 





211 


, welche er als fromme Wünfche audges 
n, die Gedanken, die er über eine Wieder⸗ 
der urfprünglichen chriftlichen Kirche gehegt, 
ihm zu einer inneren Erhebung gedient, 
yaß er ſich felbft die Fähigkeit zutraute, fie 
wirklichen. Gornelie aber vermochte es bei 
Anlagen nicht zu begreifen, wie man 
wünfchen oder als Recht erfennen, unb 
mit aller Kraft nach der Ausführung feiner 
nfche und Veberzeugungen freben koͤnne. Eie 
: die That von feinen Gedanfen, und mit 
m unheimlihen Gefühle empfand er, daß er 
je aufgehört habe, Herr feined eigenen, ger 
zeige denn Herr über Corneliens Willen zu 


Es hatte ihm Nichts geholfen, daß er beforgt 
das Treiben des Predigers und der Gräfin 
zewieſen, daß er Eornelie befchworen, nicht 
er zu gehen und bie neue Gemeinde nicht 
: Begenftande einer Aufmerkfamfeit zu machen, 
he ihre Anhänger in Zwielpalt mit der öffents 
n Meinung bringen und die Erbauung eins 


er Freunde zu einem ©egenfahe gegen die 
4A* 





212 


herrfchende Kirche erheben konnte. Cornelie hatte 
in diefem Zaubern und Wamen nur eine Folge 
feiner Kränflichfeit gefehen, bie ihn vor gemalt 
famen Anftrengungen zurüdfchreden ließ, und mit 
der Liebe, die fie für ihn fühlte, Hatte fie, ihn 
fortzutragen über jeden Zweifel, faft immer bie 
Thaten ausgeführt, die er ihr als bedenklich vor 
geſtellt. So Hatten feine Schwäche und ihre 
Energie ſich gegenfeitig fortgerifien, und Pleſſen 
war feit lange dahin gefommen, die überreizte 
Inbrunſt der Andachtsübungen zu tadeln, benen 
er fich nicht zu entziehen vermochte und die ihn 
durch die Eraltation der Freunde immer wieber 
fanatifirten, wenn er fich ihnen überließ, 

So war ed ihm in gewiffem Sinne willfom- 
men geweſen, ald der Baron ſich gegen Come 
liend Zufammenhang mit der neuen Gemeinde er» 
Härte. Cr hatte fogar verfucht, die Freundin zur 
Fügſamkeit in den Willen des Vaters zu überres 
ben, und fich und fie auf dieſe Weife von dem 
Prediger und der Gräfin allmählich zu entfernen 
gehofft, aber feine Vermittlung, feine Verföhnlich. 
feit waren mit Entrüftung zurüdgewiefen worden. 


213 


Dlefien ihr gegenüber nicht den Muth bes 
ch offen gegen das Treiben bed Predigers 
flären, hatte Comelie in feinen Ermahnun- 
zum Gehorfam nur eine Beforgniß für ihr 
liches Verhältnig gefehen, und zum Beweiſe, 
ꝛs ihr nicht an der nöthigen Kraft gebreche, 
väterlihen Willen Widerftand zu leiſten, 
iur noch fefter mit den Freunden verbunden, 
denen Pleſſen fie zu trennen wünfchte. 

Yft Schon hatte er daran gedacht, fich durch 
raſchen Entfchluß zu befreien, den Ort zu 
fen, und ſich ohne weitere Erklärung, von 
Semeinde durch diefe Thatſache loszuſagen. 
er wollte ſich nicht von Cornelie trennen, 
ht ganz den Einflüffen Preis geben, bie er 
erderblich hielt, 

Ye ganze Reihenfolge biefer Erfahrungen 
Gedanken fam ihm heute mehr als jemals 
ig vor, und doc) gab es nur einen Ausweg, 
iefem Labyrinthe zu entziehen, eine Ehe mit 
elie, auf die zu bringen ihm biöher ber 
) gefehlt. Er hatte Scheu getragen vor 
Sewalt, welche fie über ihn ausübte, und 


214 


vor dem Widerftande des Vaters, auf den er 
rechnen mußte. 

Er wußte ſich feinen Rath) und war fo mühe 
vom Denken, fo aufgeregt von ben fidy raftlos 
freuzenden Borftellungen, daß fein Kopf ihm 
brannte, die Adern in feinen Schläfen fieberhaft 
flopften, und er fich endlich, zufammenjchauernd 
unter der feuchtfalten Nachtluft, vom Fenſter ent 
fernte, Er fchloß die Vorhänge, legte fich nieder, 
fonnte jedoch nicht fchlafen. 

Es giebt Feine tiefere Abfpannung als bie, 
welche wir nad) einer in unentichloffenem Brüten 
durchwachten Nacht empfinden, Pleſſen kam 
ſich am Morgen wie zerbrochen vor, und doch 
wußte er, daß dieſe inneren Kämpfe damit ihr 
Ende nicht erreicht hatten. Er wollte fein ges 
wohntes Morgengebet verrichten, und auch bazu 
fehlten ihm Schwung und Kraft. 

„Einen Entfchluß!” rief er, die Hände fal- 
tend, „nur einen Entſchluß!“ und fo inbrünftig 
war diefer Ruf, daß fih an ihm die Möglichkeit 
des Betens entzündete. Das machte ihn ruhiger. 
Er fchüttete fein Herz aus vor dem Gotte, auf 


215 


Beiftand er vertraute. Er flehte ihn an, 
ı Zeichen zu fenden. 
ı Hopfte ed an feine Thüre, er rief herein 
ornelie ftand vor ihm. 
a8 alfo ift Dein Wille!” rief er feierlich, 
n er einen Augenblid fchweigend und bes 
vor ihr ftehen geblieben war. Dann trat 
entgegen und bot ihr die Hand, ohne weis 
oas zu fagen. 
nelie Eonnte fich fein Betragen nicht ers 
Sie glaubte ihn dur ihr Erfcheinen 
n, denn fie war nie zuvor in feiner Woh⸗ 
jeweien, 
darum find Sie fo beftürzt?” fragte ſie ihn. 
machen ed wie die MWeltmenjchen, vie fich 
ad Natürlichfte immer am Meiften verwuns 
Ich babe fchon zwei Beſuche bei unferen 
n gemadjt, und da ich bei Ihnen vorübers 
‘am ich herauf, denn ich muß Sie fprechen!” 
ährend dieſer Worte hatte ſich Pleſſen von 
findrude erholt, den eine nad) feiner Meis 
fo fichtbare Einwirfung Gotted auf ihn 
ſt hatte, und nachtem er die Freundin zum 


Del 
7 


216 


Sitzen genöthigt, ſagte er: „Ich habe in dieſer 
Nacht mich viel mit Ihnen beſchaͤftigt, theure 
Cornelie!“ 

„Auch ich habe Ihrer gedacht!“ fiel ſie ihm 
in's Wort, „und deshalb komme ich zu Ihnen.“ 

Sie hielt einen Augenblick inne, als über 
lege fie noch Etwas, dann fuhr fie fort: „Der 
geftrige Abend hat einen Entſchluß in mir zur 
Reife gebracht, mit dem ich mich fehon lange 
herum getragen habe. Es kann Ihnen nit un 
bemerft geblieben fein, daß mein Water mit dem 
Doctor ein förmliches Buͤndniß geſchloſſen bat, 
mich von der Unmwahrheit des Heiligften zu über 
zeugen. Wie unwirkſam diefe Unternehmung auf 
mich ift, brauche ich Ihnen nicht zu fagen. — 
Aber fie peinigen mich mit ihren Erklärungen, 
idy bleibe in einem beftändig gereizten Zuftande 
und habe Stunden, in denen ich mid) förmlid) 
erbittert gegen meinen Vater fühle. Das barf 
nicht in mir auffommen. Diefe Nacht Habe ich 
mich feſt entfchloffen, dad Vaterhaus zu verlaf- 
fen!“ 

„Und das fagen Sie mir, Geliebtefte!” rief 


217 


— — — 


en ſehr bewegt, „mir, und grade in dieſem 
ublick?“ 

Wem ſollte ich mich ſonſt vertrauen?“ ent⸗ 
ete ſie mit ruhiger Sicherheit. „Sie ſtehen 
am Naͤchſten und haben eine ausgebreitete 
nntfchaft. Schaffen Sie mir in einer Familie 
unferer Oefinnung außerhalb der Vaterſtadt 
Röglichkeit, ungeftört mir felbft zu leben!“ 
zleſſen traute ſich felber nicht, fo wunderbar 
n die Worte feiner Freundin feinen Abſtchten 
gen. Er glaubte die höhere Bügung nie in 
rt Deutlichfeit erlebt zu haben, und näher 
Sornelie heranrüdend, fagte er: „Auch ich 
grade geftern Abend und heute früh daran 
ht, mic) von hier zu entfernen — aber nicht 
ı! Gehen Sie mit mir, Cornelie!“ 

Sie ſah ihn nachdenklich an und fragte dann 
mildem Tone, in dem die Bangigfeit vor 
Trennung hörbar durchklang: „Wohin wol- 
Sie gehen?” 

Sch habe feit langer Zeit die Neigung ges 
‚ mich nad) Gnadenfrei zu wenden und dort 
hlichteren Verhältniffen, ald die Geſellſchaft 


218 


fie bietet, in der wir und bewegen, Ruhe bei ein 
facher Thätigfeit, und in der Ruhe Freiheit des Geis 
ſtes zu fuchen. Ich fühle mich fehr müde, es ift mir 
als würbe ich nicht mehr lange leben — und am 
Abend fehnt man fih nah Etille, um friebend 
voll fich vorzubereiten für den fanften, erlöfenden 
Schlaf der Nacht!“ | 

Eorneliend Faffung fehmolz dahin vor dem 
Gedanken, den Freund zu verlieren. Sie reichte 
ihm’ die Hand und bat: „Spredden Sie nicht fo! 
ih kann's nicht hören.” 

Er fah ihr in’d Auge, fie weinte Da flog 
eine leichte Roͤthe über fein bleiches Geſicht und 
mit allem Zauber feiner weichen Stimme fagte 
er: „Ich Habe lange in mir nad) einem Entſchluß 
gerungen und konnte ihn nicht finden, bis id) 
mich im Gebet zu ihm gewendet habe, von bem 
allein die Wahrheit kommt. Und ale ich ihn 
heute früh anflehte, mir den Weg meiner Zukunft 
vorzuzeichnen — da find Sie eingetreten, bie 
meine Gedanken fuchten und mieden, und bie ber. 
Herr mir fo fichtbar zugeführt hat.“ 

Er hielt inne. orneliend Hände ruhten in 


219 


r feinen, ihre Augen hingen an ihm. Er war 
: fo nahe, daß fie den warmen Haud feiner 
ppen empfand, und leife flüfternd fagte er: „ein 

08, wie die Weltfinder es nennen, habe ich 
nen nicht zu bieten. Ich bin einfam und krank 
db der Weg vor mir wird nicht lange fein. 
er Sie find mir das Licht der Tage und ber 
ern der Nacht! Sch bedarf Ihrer, Cornelie! 
tt felbft hat Eie mir in meinen Pfad geführt. 
erden Sie mein Weib!” 

Sie war nicht betroffen durch feinen Antrag, 
bedurfte auch Feiner Meberlegung. „Sa! das 
Mich!” fagte fie. „Ich will Shr Weib werden!” 
ver diefe Antwort war fo ruhig und beftimmt, 
B fie ihn anfröftelte, daß er es nicht wagte, 
‚rnelie an feine Bruft zu fchließen, wozu e8 ihn 
ch drängte. 

Sie faßen einander ſchweigend gegenüber. 
melie, wie Jemand, der reiflich die Ausbeh- 
ng der Verpflichtungen erwägt, welche er über- 
mmen bat, Pleſſen unter dem Mißempfinden 
täufchter Erwartung. Endlich wendete fie fich 

ihm, legte ihren Arm um feinen Hals, 308 


220 


ihn an fi, wie man ein Kind an feinen Bufen 
brüdt und ſprach: „Hier follen Sie ruhen! hier 
Frieden finden. Und wenn der Kampf bes Lebens 
naht, jo will ich mich mit Gottes Hülfe zwiſchen 
den Kampf und Dich fielen — und Deine Tage 
folen Ruhe fein und Frieden, damit fie mir er 
halten bleiben lange Zeit!" 

Sie füßte ihn auf Stine und Mund, indeß 
felbft ihre Zärtlichkeit hatte etwas Meütterliches, 
das ihm eben fo peinlich war, als Die befchügende 
Verficherung ihrer Liebe, die fie ihm gegeben 
hatte, Die gottgefandte, gottergebene Braut ver: 
legte fein Selbftgefühl, beleidigte ihn ald8 Dann. 
Sie war ihm, nicht Weib genug in biefem Au: 
genblid. Seine Scheu vor einem dauernden Beis 
fammenfein, vor einer Ehe mit ihr wurde in 
ber Stunde der Verlobung mächtiger als je zu 
vor, und erft als fie gemeinfam das Haus verlies 
Ben und auf der Straße ſich im Freien neben 
einander bewegten, fühlte er ſich weniger beängs 
ftigt und mehr fidy ſelbſt zurüdigegeben. 
| Dicht vor ihrer Thüre Tamen ihnen der Docs 

tor und Friedrich entgegen, aber die Verlobten 


221 


fhnell in eine Seitengaffe ein, weil fie 
aufgelegt waren, mit Jenen zufammen zu 
. Der Doctor bemerkte ed, und mit einer 
anz fremden Heftigkeit rief er: „ES ift ein 
8 Unglüd, daß ber Menſch das Mädchen 
den Händen hat!“ 

ann, nachdem fie ein Ende weiter gegangen 
, trennte er ſich plöglicdy unter einem Vor⸗ 
von feinem Begleiter, wendete um und bes 
cch in dad Haus, welches Pleſſen bewohnte, 
olite wiffen, ob nody andere Mitglieder jes 
jecte in demfelben lebten, ob Gornelie dieſen 
Beſuch gemacht haben Fönne, oder ob fie 
leſſen geweſen ſei. Das Nachforfchen warb 
yurch eine Familie erleichtert, deren Arzt er 
geweſen war. Es konnte ihm Fein Zweifel 
n, daß Eornelie fich über die Anftchten ihres 
3, über die allgemeine Sitte fortgefegt, daß 
Jefuh Herrn von Pleffen gegolten. Das 
ß und freute ihn zugleih. Er hatte von 
Kindheit an den felbftftändigen Charafter 
geliebt, und oft daran gedacht, was aus 
jolchen Srauennatur bei vernünftiger Leitung 


220 


ihn an fi), wie man ein Kind an feinen Bufen 
brüdt und fprah: „Hier follen Sie ruhen! hier 
Frieden finden. Und wenn der Kampf des Lebens 
naht, fo will id) mich mit Gottes Hülfe zwifchen 
den Kampf und Dich fielen — und Deine Tage 
follen Ruhe fein und Frieden, damit fie mir er⸗ 
halten bleiben lange Zeit!“ 

Eie fügte ihn auf Stirne und Mund, indeß 
felbft ihre Zärtlichkeit Hatte etwas Mütterliches, 
das ihm eben fo peinlich war, als die befchütende 
Verfiherung ihrer Liebe, die fie ihm gegeben 
hatte. Die gottgefandte, gottergebene Braut ver: 
legte fein Selbftgefühl, beleidigte ihn al8 Mann. 
Sie war ihm. nicht Weib genug in dieſem Au: 
genhlid, Seine Scheu vor einem dauernden Bei: 
fammenfein, vor einer Ehe mit ihr wurde in 
der Stunde der Verlobung mächtiger als je zus 
vor, und erft ald fie gemeinfam das Haus verlies 
fen und auf der Straße ſich im Freien neben 
einander bewegten, fühlte er ſich weniger beäng- 
ſtigt und mehr fich ſelbſt zurüdgegeben. 
Dicht vor ihrer Thüre famen ihnen der Doc 

tor und Friedrich entgegen, aber bie Verlobten 


221 


en schnell in eine Seitengaffe ein, weil fie 
t aufgelegt waren, mit Jenen zufammen zu 
en. Der Doctor bemerkte e8, und mit einer 
ganz fremden Heftigfeit rief er: „Es ift ein 
red Unglüf, daß ber Menſch dad Mädchen 
in den Händen hat!“ 
Dann, nachdem fie ein Ende weiter gegangen 
en, trennte er fi) plöglidy unter einem Vor⸗ 
n von feinem Begleiter, wendete um und bes 
fih in dad Haus, welches Pleſſen bewohnte, 
wollte wiflen, ob noch andere Mitglieder je 
Secte in demfelben lebten, ob Eornelie diefen 
n Beſuch gemadyt haben Fönne, oder ob fie 
Pleffen gewefen fei. Dad Nachforſchen ward 
durch eine Familie erleichtert, deren Arzt er 
t gemwefen war. Es fonnte ihm fein Zweifel 
ben, daß Eornelie ſich über die Anftchten ihres 
ers, über die allgemeine Sitte fortgeſetzt, daß 
Beſuch Heren von Pleſſen gegolten. Das 
Foß und freute ihn zugleih. Er Hatte von 
r Kindheit an den felbftftändigen Charakter 
ihr geliebt, und oft daran gedacht, was aus 
t ſolchen Srauennatur bei vernünftiger Leitung 


222 


werden koͤnne. Indeß feine Scheu, in ben Ent 
widlungsgang eined Menjchen einzugreifen, hatte 
ihn gehindert, fid) mehr und angelegentlicher mit 
ihr zu befchäftigen. Jetzt warf er fich dieſe 
Scheu ald ein großed Unrecht vor Er hatie 
Gründe, ber religiöfen Richtung des Kreiſes zu 
mißtrauen, in dem Cornelie fi) bewegte. Er 
wußte, daß mit einer Warnung in dieſem Yalle 
jet nicht® mehr ausgerichtet werben konnte. Er 
fagte fi, daß allein fein Schweigen und Zögern 
ihn der Mittel zur Wirkfamfeit beraubt habe, 
und daß alſo — — Eornelie ihm verloren fei, 

Er hielt inme bei diefem Gedanken; benn er 
war ihm neu, 

„&ornelie mir. verloren!” wiederholte er fi. 
„Mir verloren ? Alfo hätte ich nach ihr verlangt ?° — 

Er bedurfte für fich Feiner Antwort auf 
dieſe Frage, aber er machte die Bemerkung, 
dag auch in feinem Geifte, daB auch in dem 
Herzen eined fich felbft beobachtenden Mannes, 
Geheimnißvolles, Verborgenes wachfen und ge 
beihen fönne, ohne daß er's fühle, 

Jal er liebte Cornelie, er hatte fie immer ges 


Zn 


223 


bt, aber er geftand ed fich zum erften Male, 
ſei das einzige Mädchen geweſen, das er ges 
aͤhlt Haben würde, hätte er daran gedacht, fich 
. vermählen. Die Entdedung dieſes Gefühls 
achte ihn weiter nicht betroffen. Gefaßt wie 
ımer nahm er ed als eine Thatfache, ald eine 
zahrheit in fein Leben auf, mit ber er auf bie 
ne oder die andere Weife fertig werden müfle, 
ıd bald nannte er ſich Heinmüthig, daß er einen 
ugenblid der Vorftelung Raum gegeben, Eors 
fie fei ihm verloren, ehe er noch verfucht habe, fie 
; gewinnen. 

Seine Gebanfen verweilten mit großer Innig« 
it bei ihr. Er Fam fich verantwortlich für fie 
yr, und nie, feit den Tagen feiner erften Jugend, 
ıtte er fein Herz fo weich und fanft bewegt ge- 
hit, als jest, da er die Sorge für ein Weib in 
ine Seele aufgenommen hatte, dad er mit ber 
nften Liebe des reifen Mannes zu beichüßen 
id zu gewinnen- wünfchte. 





226 


gewefen, hatten feiner gemeflenen Natur wis 
derſtanden. Er Eonnte fie bald nicht mehr ale 
Wahrheit in ſich erkennen, ſich des Gedankens 
nicht erwehren, daß auch die Anderen ſie nur 
durch eine Ueberſpannung ihres natürlichen Em- 
pfindens in fich erzeugten, bie fie fortdauernd 
fteigern mußten, wollten fie fih in der Höhe ver 
Begeijterung erhalten, an die fie fich gewöhnt 
hatten. Es entging ihm nicht, daß Pleſſen's 
Kraft daran erlahmte, daß er matter und abge 
fpannter zu werden begann, ald er ihn je zuvor 
gekannt hatte, und oft wollte e8 Friedrich bebünfen, 
ald ob andere Empfindungen, ald die einer ge- 
meinfamen brüberlihen Erhebung zum Gebete, 
die Teidenfchaftlihen rtafen des Predigers 
und der Gräfin begünftigten. Es kamen fogar 
Stunden, in denen Pleffen ähnliche Gedanken zu 
hegen und ſich mit fichtlicher Theilnahme Frie- 
drich's theologifchen und Hiftorifchen Forſchungen 
zuzuwenden fchien, bis die Angft, ſolch Forſchen 
fönne ihn im Glauben ftören, ihn wieder freis 
willig darauf verzichten machte. 

Aber grade diefe Zaghaftigfeit des ftreng gläubi- 


x 


227 


en Edelmanned wirkte ermuthigend auf Friedrich 
in. Es vünfte ihn, je männlicher er geworben 
yar, um fo unmwürbiger, vor einem gefürchteten 
degenftande das Auge zu fihließen und fich blind 
ı madyen aus Scheu vor einem grellen Lichte. 
Seine Einfiht- hatte begonnen über fein Gefühl 
ı berrfchen, er Eonnte feine Befriedigung mehr 
nden in einem Glauben, der die Prüfung des 
serftandes nicht ertrug, und fein religiöfed Bes 
ürfnig zwang ihn zu weiteren Forſchen, durch 
as er ſich aber noch immer die Möglichkeit des 
laubend zu erhalten hoffte, 

Seine Beichäftigung mit den frangöfifchen 
socialiften trieb ihn daneben in neue Bereiche 
:5 Denfend, und trug allmählicdy dazu bei, ihn 
ꝛn Anfichten der Gemeinde noch mehr zu ent- 
emden. Denn fannte er einerfeitö bie Bedeus 
ıng ber Standesunterfchiede und der Glücks⸗ 
ıben im wirklichen Leben durch feine Erfahrung 
ı genau, um jene Lehren von einer allgemeinen 
Heichheit der Stände und von der Verachtung 
eltlichen Guts, wie der Prediger und die Grä- 
1 fie verfündeten, haltbar zu glauben, fo lehrten ihn 

15* 





228 


anderfeitd feine Studien, daß innerhalb der alten 
Berhältnifie der Geſellſchaft und des Befiged eine 
befriedigende Ordnung und LXöfung ber Uebelftände 
ſchwer zu boffen ſei; und grade in diefer Hinficht 
war fein Berhältniß zur Gemeinde ihm förberlid 
geworben. 

Der weite Blick, welchen die Armenpflege ihm 
in die Zuftände und Bebürfniffe der arbeitenden 
Klaffen eröffnet, Hatte ihn erft die richtige Bes 
nusung feiner eigenen rlebniffe gelehrt. Was 
er in feiner Jugend an ſich jelbft von Noth und 
Entbehrung erfahren, hatte ihn zu ausſchließlich 
hingenommen. Es war burdy manche perfönliche 
Einzelheiten. bedingt worden, die, wie der Cha⸗ 
tafter feined Vaters, eine nicht gewöhnliche Aus- 
nahme machten, und ſich deshalb ſchwer als all 
gemeiner Maßſtab brauchen ließen. Jetzt erft, 
nach mehrjährigem Walten und Lehren in und an 
den Armenanftalten, war er zu ber Ueberzeugung 
gekommen, daß ed faft immer unmöglich fei, vor⸗ 
handener Noth zu fteuern, verarmten Yamilien 
dauernd emporzuhelfen, und daß ed aljo allein 
darauf anfomme, dad Berfinfen in Noth und 


—— 


— 
Elend zu verhindern. Ueber die Art, in welcher 
a8 durchgehend geſchehen koͤnne, fand er jedoch 
irgend einen befriedigenden Aufſchluß. 

Der Doctor hatte ihm gerathen, als er bie 
Zweifel und Bedenken fennen lernte, in denen 
Friedrich fich beivegte, die theologifchen Studien 
ur eine Weile ganz aufzugeben, ftaatsöfonomis« 
he Werke zu leſen und fich jeht einmal aus 
chließlich mit dieſer Wiffenfchaft zu befchäftigen. 
Dadurch ward Friedrich auf die englifche Lites 
:atur, auf die Erlernung der englifchen Sprache 
yingewiefen, und Richard fein und bed Lieute⸗ 
nants LXehrer, denn auch Georg verfolgte ähnliche 
Zwede. 

Seit ber Entfernung Larſſen's hatte ſich eine 
jroße Beränderung mit dem Lieutenant zugetras 
jen. Er hatte fein auffahrendes Weſen unters 
rüdt, war befonnener geworden, aus Scheu fd) 
n Berlegenheiten zu verwideln, aus denen bie 
Machtvollfommenheit feines Waterd ihn wieder 
Yhne fein eigened Begehren retten konnte, und 
uf diefen, gegen äußere Einwirkungen fo trogigen 
Sharakter hatten die Vollendung feined vier und 


230 


awanzigften Lebensjahres und bie damit erlangte 
Grogjährigfeit eine nachhaltige Wirkung aus- 
geübt. Die bloße Vorftellung, jett eine größere 
Freiheit gewonnen zu haben, hatte ihn mäßiger 
und gedultiger gemadt. Er ſchien den Gedan⸗ 
fen aufgegeben zu haben, durch Hülfe feines Va⸗ 
ters oder ſeines Bruders eine Aenderung feiner 
Lage zu bewirken, und obſchon ſeine Abneigung 
gegen den Dienſt nicht verringert, ſondern noch 
geſtiegen war, erfuͤllte er ſeine militairiſchen Pflich⸗ 
ten mit puͤnktlicher Strenge. 

Von dem Umgange mit ſeinen Kameraden 
hatte er ſich nach jenem Maskenballe faſt gaͤnz⸗ 
lich losgeſagt. Er war viel zu Hauſe, woran 
fein Verhäͤltniß zu Auguſte mehr Antheil hatte, 
al8 er ſich felbft geftand. Obgleich er fie eigents 
lich nicht liebte, Hatte er fih an ihre Nähe ges 
wöhnt, und die Vertraulichkeit naher Berwandten, 
durch Auguftend unverhohlene Leidenfchaft für ihn, 
eine Zärtlichkeit gewonnen, in ber Georg ſich ges 
hen ließ, ohne zu berechnen welche Hoffnungen 
das Mädchen darauf bauen könne. Sein Ber: 
fchr mit Männern befchräntte ſich fat ausfchließ- 


231 


auf Friedrich und den Doctor, für deren vers 
bene Forſchungen und Beftrebungen er immer 
ere Theilnahme gewann. Weil er oft dar⸗ 
geklagt, daß feine Berufsthätigfeit eine ganz 
anifche fei, Hatte der Doctor ihm den Vor⸗ 
g gemadt, fih in den Militairfchulen als 
er der Soldaten und Unteroffiziere verwenden 
ıffen, wozu ihm einft auch Erich, wenn ſchon 
anderen Gründen ald der Doctor, zugerebet 


> 
‚s 


Diefed Lehramt fagte dem Lieutenant zu, und 
» ihm für feine eigene Bildung nüglich, weil 
hin daran liegen mußte, feinen Schülern feine 
je zu zeigen und ihre Achtung zu gewinnen, . 
er ed fuchte, Fam er bei dem Unterrichten beim 
daten perfönlid näher. Er lernte durch ihn 
Theile ded Volkes kennen, mit denen Frie⸗ 

bei feiner Thätigfeit für die Gemeinde, der 
tor in feinem ärztlichen Berufe vertraut ge- 
ven waren, und wie biefen Beiden leuchtete 
hm ein, daß eine Umgeftaltung ber focialen 
aͤnde nöthig, daß eine folche nur dann zu bewir- 
ei, wenn mit der Bildung des Volkes die ftumpf- 


232 


finnig brütende Unzufriedenheit deſſelben, fich in 
ein vernünftiges Streben nad) beſſeren Zuftänden 
verrvandelt haben würde. 

Darin ftimmten die Freunde uͤberein, nur über 
die Art, in welcher eine geiftige Erhebung der 
Maſſen zu bewerfftelligen fei, Eonnten fie ſich nicht 
verftändigen. Friedrich hielt immer noch ben 
Glauben feft, durch die Grundlehren des Chriften- 
thums, überhaupt durch religiöfe Erziehung zu 
wirken, Georg, ber die Vortheile der Organifas 
tion und Disciplin im Dienfte ſchaͤtzen lernen, 
erjehnte eine neue organifirende Gefeggebung, und 
der Doctor wollte weder von Religion noch von 
befohlener allgemeiner Drganifation Etwas wils 
fen, fondern wünfchte lediglich die Schranken fort 
zuräumen, welche dem Einzelnen bie Erlangung 
der nöthigen Bildung und Einficht erfchwerten, 
und die Freiheit feines Handelns hinderten. Frie⸗ 
brich und Georg neigten fich auf ſolche Weife zu 
ben theofratifch organifirenden Syftemen der fran- 
zöfifhen Socialiften, die der Doctor als neue 
Tefleln des freien Willend verwarf, und von bes 
ren befchränfenden Geſetzen er fie auf die Kreis 


233 





1 — 


it NRorbamerifad verwies, bie er allein einem 
ifen männlichen Geiſte für angemefien erklärte, 

Schon feit längerer Zeit waren in Deutfch- 
ınd ab und zu einzelne Brofchüren erfchienen, in 
nen mit einer bis dahin ungefannten Einfach: 
eit und Klarheit über die deutfchen politifchen 
uftände und über Staatöverfaffungen gefprochen 
mrde. Der Verfaſſer hatte fich nicht genannt, 
ber man war bald genug dahin gefommen, ihn 
ı ber Perfon des Doctord zu entdeden. Die 
Schriften waren fchnell befeitigt, der Doctor zur 
Interfuchung gezogen worden, und grabe in bies 
m Augenblide ſchwebte eine folche über feinem 
yaupte, für deren Ausgang feine Freunde Ber 
rgniß hegten. Man nahm in der Stadt für 
nd wider ihn Partei, die Beamten, befonders 
as Militair, machten eine Ehrenſache daraus, 
re Anhänglichfeit an die  beftehende Ordnung 
urch blindes Verdammen der Schriften zu bethäs 
gen, und den Doctor aller Orten zu vermeiden, 
ı felbft zu verlegen, feit ber freifinnige Theil der 
inwohner ihn auch als Politiker mehr und 
ehr zu hochachten begann. 


a 


Augufte, welche nad) wie vor alle Menfchen 
und alle Dinge nur nad) dem Zufammenhange 
fchäßte, in bem fie mit dem Geliebten fanden, 
war immer eiferfüchtig auf die Freundſchaft ges 
wefen, welche diefer für den Doctor fühlte. Sie 
hatte obenein die Beſorgniß gehegt, daß biefelbe 
ihn in feinen Dienftverhältniffen benachtheiligen 
fönne, auf deren günftige Geftaltung fie ihre Zus 
funftspläne baute, Aber ihre Warnungen hatten 
das Gegentheil von demjenigen beiwirft, was fie 
zu erreichen gewünfcht. Se eiftiger fie geweſen 
war, dem Lieutenant alle ihr zugetragenen miß- 
billigenden Urtheile feiner Cameraden über feinen 
Umgang mit dem Doctor zu berichten, um jo 
entfchiedener hatte er ihn öffentlich darzuthun ge- 
ſtrebt. Selbft ihre Verſuche durch den Baron 
auf Georg einzumirfen waren gefcheitert, denn 
der Vater fchrieb die vortheilhafte Veränderung 
im Weſen feined Sohnes, welche Augufte ald ein 
Werk ihrer Liebe betrachtete, dem Doctor zu, def 
fen er ſich auch für Corneliens Belehrung noch 
benöthigt fühlte, 

So mit ihren Wünfchen, Hoffnungen und 


235 


iechtungen auf ſich felbft gewielen, ftand Aus 
: an einem Sonntage auf dem Balcon bed 
ſes, die Rüdfehr des Lieutenantd von ber 
ıde zu erwarten, als fie ihn früher denn ges 
nlid), die Straße herauf fommen fah. Aber 
bloßer Anblid machte fie erfchreden. 

Ohne die Borübergehenden zu beachten, von 
n einige ihn grüßten, ohne aufzufchauen, ging 
dtenblaß, die Augen in die Ferne gerichtet, 
einer Schnelligfeit vorwärts, die fie auf den 
anken brachte, er fei unmohl geworden und 
das Vaterhaud zu erreichen. In angftvoller 
lief fie die Treppe hinunter und ihm bie 
ie Thüre entgegen. 

Was ift Dir?” fragte fie den Eilenden, 

Fr antwortete ihr nicht, fchien fie faum zu 
een, fchritt durdy den Blur und ging die 
pe hinauf nad) dem Zimmer feines Vaters. 
‚Der Bater ift nicht zu Haufe!” rief fie ihm 
Ich werde ihn erwarten!” antwortete Georg 
fegte ficy nieder. Auguftens Angft flieg von 
ute zu Minute. So hatte fie den Geliebten 





5 _ 


nie gefehben. Es lag etwas Starres, Verſteiner⸗ 
tes in feinem Wefen, das furchtbarer war, ale 
die Ausbrüche der heftigften Leidenſchaft. „Was 
ift denn gefchehen?“ wiederholte fie und legte 
ihren Arm um den Raden des Sigenden. 

„Was gefchehen tft?" ſprach er ihr tonlos 
nad, „eine Kleinigkeit! — — Ich bin entehrt.* 

Er fprang bei diefen Worten auf, warf den 
Degen von fi), ber klirrend zu Boden fiel, riß 
die Schärpe ab, und fehleuderte fie hohnlachend 
mit einem Fußſtoß in die Ede, während er bü- 
fter im Zimmer umberging. 

Augufte näherte fih ihm, er beachtete es nicht. 
Sie wollte fih an feinen Arm hängen, er ftieß 
fie mit Ungeduld zurüd. „Ich bitte Dich, laß 
mih! id; habe an mir felbft genug!” rief er 
aus, 

Sie wußte ſich, fie wußte ihm nicht zu hel⸗ 
fen. Rathlos hob fie die fortgefchleuderte Schärpe 
und den Degen von ber Erde auf, legte fie neben 
den Federhut des Lientenants und glättete die zer⸗ 
brüdten Handſchuhe mit jener mechanifchen Ge; 
wohnheit der Ordnung, die dem Menfchen übrig 


237 


ibt, wenn alle feine Vorftellungen ſich vers 
ren. 

In diefem Augenblid trat der Baron in’s 
mmer, und fogleich wendete der Lieutenant ſich 
ihm: 

„Haft Du Zeit, mi zu hören, Vater?“ 
igte er. 

„Ja!“ antwortete Jener, und erfchroden, wie 
thin Augufte, vor dem Ausdruck feines Soh⸗ 
8, fügte er hinzu: „Was Haft Du gethan?” 

„Nichts!“ entgegnete er. „Aber ſetze Dich, 
‚ bitte! ih will mich auch fegen, die Sache ift 
w einfach!” Dabei hörte man, wie feine Bruft 
ch Athem rang, weil der Zorn ihn zu erftiden 
ohte. 

„Ich habe eine neue Dienſterfahrung gemacht!“ 
b er an, hielt inne, fchöpfte nochmals Athem 
d fuhr dann fort: 

„Die Parade war vorüber, der Stab und die 
ffiziere wollten fich bereitö entfernen, da wurden 
r zu bleiben commandirt.“ — Er unterbrad 
ne Rebe, ftand auf, wollte wieder auf und 
dergehen, zwang fi) aber zur Ruhe und 





238 


blieb ftehen, die Hand auf die Lehne des Stuhles 
geftügt. 

„Als wir Alle beifammen waren, rief ber 
Commandirende meinen Namen. — Ich trat hervor, 
arglos, forglos. Wie folt ih ander8?" — „Herr 
Lieutenant von Heidenbruck,“ fagte er, „Sie wil- 
fen, daß der rechte Geift in der Armee die Haupt 
fache ift und daß unmilitairifche Gefinnung nicht 
geduldet werden darf. Man hat es feit lange 
mit Unzufriedenheit gejehen, daß Sie es mit Ih 
rem Umgang nicht genau, nehmen, wie der Offi⸗ 
zier ed muß. Gie verkehren mit Menfchen, deren 
Geſinnung mehr ald verdächtig ift, und durch 
die Ihre eigene Gefinnung zweifelhaft wird. Sie 
werden alfo Ihres Lehramted an der Schule hier: 
mit überhoben, und ich gebe Ihnen auf, Ihren 
Berfehr mit Menfchen von verbächtiger Gefinnung 
abzubrechen. ” | 

Georg hielt inne, da feine Gefichtsmußfeln 
und Hände zitterten unter der Anftrengung, mit 
der er fih gezwungen hatte, das Greigniß ruhig zu 
berichten. Der Baron felbft war bleich gewor- 
ben. Auguſte weinte. 


253 


ı der Eivilifation zu bringen. Sie leiftet in 
cheidener Stille, was die Socialiften erftreben. 
e würde ed in immer höherem Grabe leiften 
ınen, je mehr gebildete, mit dem Wiffen unferer 
it genährte Menfchen fich ihr unterordnend ans 
löffen. — Und Du fannft zweifeln, ob fie eine 
tzeugende Kraft beſitze?“ 

Cornelie jchwieg, dann fagte fie nach einer 
mfe: „Ich habe oft daran gedacht, wie wunder⸗ 
c, wie urfprünglich fegensreich der Beruf eines 
iſſionairs ift. * 

„Auch mich hat diefe Vorftelung häufig be 
Aftigt, und — —“ 

„Denn Dich in der Gemeinde das 2008 träfe, 
" Belehrung hinauszuziehen,“ fiel ihm Cornelie 
3 Wort, „wuͤrdeſt Du gehen? 

„Ich würde gehen und glauben, daß Gott die 
aft, welche mir dazu fehlt, durch feine Gnade in mir 
affen wird. Es hat fogar Stunden gegeben, in des 
ich mir vorftellte, mit Dir hinauszuziehen. Mit 
r vereint zu lehren und zu wirken, feinen Na⸗ 
n zu verfündigen im heiligen Dunfel ver Urs 
ver, auf den Höhen und an den fchnellrau- 


254 


— —— 
— — 


ſchenden Fluͤſſen eines Landes, deſſen Lüfte den 
Namen des Alleinigen noch nicht von Menſchen⸗ 
lippen fegnen hörten —“ 

Cornelie ließ ihn nicht enden. Mit leuchtenden 
Augen ſchloß fie ihn in ihre Arme. „Ja! ja! das biſt 
Du! das ift der Mann, den ich liebte, das iſt der 
Mann, der mich zur Xiebe, zur Entfagung erzogen!" 
rief fie aus, Fniete dann vor dem Sibenden nieder 
und bedeckte feine Hände mit ihren Küffen. Pleſſen 
hinderte fie nicht daran. Er ftreichelte fanft ihr 
Haar, während er liebevoll lächelnd zu ihr her- 
abblickte. Da er faft immer von ihrer Ueberle⸗ 
genheit zu leiden hatte, that es ihm wohl, als 
fie fih in Liebe vor ihm demüthigte. 

„Sieh!“ ſprach fie, „wie unter der Madıt 
eined großen Gedankens Dein ganzes Weſen ſich 
belebt. Halte ihn feft diefen Gedanken und Du 
wirft genefen. Du wirft die Kraft finden, ihn aus- 
zuführen, und daß ih Dir nicht fehlen werde, 
weißt Du!“ 

Vollkommen hingeriffen von diefer neuen Vor⸗ 
ftellung, begann fie diefelbe nad) allen Seiten zu 

durchdenken und mit fo ftrahlenden Farben aus» 


u 


239 


— 


„Und weiter?" fragte der Vater gefpannt und 
orgt zugleid). 

„Run!“ rief der Sohn mit auflodernder Hefs 
keit. „Das ganze Corps ftarrte mi an! — 
yelnd, mitleidend! — fie ſtarrten mich an! — 
ıd er zögerte mit der Ordre des Auseinanders 
hend, Er blieb mit Wolluft in dem Kreife, ſich 
; der Erniedrigung eined Menfchen zu weiden.“ 

Georg riß feinen Rod auf, fchlug ihn über 
» auf den Rüden gehaltenen Hände, ging 
ımal dad Zimmer entlang und fehrte dann 
eder zu dem Vater zurüd., 

„Ich ftand da,“ fagte er mit demfelben Zorne, 
n meined Nichts durchbohrendem Gefühl. Ich) 
md da und wurde angegriffen in dem Heiligften 
8 Menfchen, in dein Rechte meines freien Wil- 
is, in meinem Privatleben. Ich fland da und 
ußte fchweigen, denn noch band mich jener 
ienft, der die Menfchen zu Mafchinen machen 
uß, um fie für feine Zwede zu verwenden — 
et — — hd 

Der Baron ließ ihn nicht enden. „Der Vors 
N if fehr unangenehm!” ſagte er, „Ich billige 





240 


dad Verhalten des Generald in dieſem Falle 
nicht! Er mußte Dir ſolche Ausftellung privatim 
maden und ed wird Dir Nichts übrig bleiben, 
ad — —“ 

„As noch heute meine Entlaſſung einzurei⸗ 
chen!” fiel ihm der Lieutenant in's Wort. — „Das 
eben wollte ich, Water! und das Hatte ich Dir zu 
jagen. ” | 

Der Baron fah ihn verwundert an, „Deine 
Entlaffung einreihen? den Dienft verlaffen?“ 
ſprach er. „Wirft Du denn niemald ruhig wers 
den, lieber Sohn? Was hat der Dienft, was hat 
ber Beruf eines Mannes zu fchaffen mit ber 
Tactlofigfeit eined Vorgeſetzten?“ — Er fchüttelte 
leife ımißbilligend dad Haupt und fagte nady einer 
furzen Pauſe: „Ich rathe Dir um Deine Ber: 
jegung einzufommen. Damit gehft Du dem Gene 
tal aus dem Wege, zu weldem Dein Berhält 
nig in Zufunft allerdings peinlich fein würde, 
und vermeideft zugleich den Doctor, ohne ihn zu 
verlegen. Es ift ein mißlich Ding für einen 
Offizier, die Anfichten unſeres Freundes gel 
ten zu laſſen. Wir hätten bad bedenfen fol 


2a 


- ih madje Dich nicht allein dafür verants 
ch.“ 
e Sprach dieſe letzten Worte mit einer Be⸗ 
ig, wie der Sohn ſie niemals an dem Va⸗ 
hoͤrt hatte. Es war etwas Gebrochenes in 
Veſen des Barons. Er war nicht mehr der 
e, willensſtarke Mann, vor deſſen Starrheit 
ſtets feinen Muth ſinken gefühlt hatte. Gr 
in Greis geworben, feit er dad unbebdingte 
wen zu fich felbft verloren. Der Sohn bes 
ed mit jchmerzlihen Erftaunen, er hätte 
beöhalb nachgeben mögen, aber er konnte 
ht. 
35h muß den Dienft verlafien, Vater!” fagte 
Ihne meine Zuftimmung, Georg?” 
Wo meine Ehre in das Spiel kommt, darf 
ir der eigenen Zuftimmung folgen, muß id) 
{bft genügen,” Der Baron ſchwieg. Man 
: ihm anfehen, wie fchwer diefe Worte ihn 
ren hatten. 
Es wird daß erfte Mal fein,” ſprach er nach 
Weile, „daß ein Heidenbruf in folder 


dungen. IL 16 


242 


Meife ben Dienft feined Königs verläßt! Ueber 
lege wad Du Dir, wad Du und Allen damit 
anthuft!” - 

„Sch habe Feine Wahl!“ 

Der Baron zudte die Schultern, Sie fchwie 
gen Beide. Endlich fagte der Vater: „Thue, 
wad Du vor Dir vertreten Fannfl. Du bift ja 
mündig.“ Aber der Ton, mit dem er biee 
Worte fagte, fehnitt dem Sohn tiefer in's Herz, 
als der härtefte Tadel, 

Er ging auf den Vater zu, legte den einen 
Arm um feinen Hald, ergriff mit der Rechten ded 
Daterd Hand, und ſprach: „Ich wollte, ich Eönnte 
Dir's erfparen, lieber Vater!“ 

„Das glaube id Dir!" amtmwortete ber 
jelbe, „ich habe aber fein Glüf mit meinen Kin 
bern!” 

Damit ging er hinaus. Georg fah ihm 
fehweigend nad), trat dann an das Fenſter und 
blieb, die Stine gegen die Scheiben gebrüdt, 
gedanfenvoll und traurig ftehen. 

Als er fich endlich ummendete, faß Augufte 
noch regungslos auf derfelben Stelle, 


243 


„Was brüteft Du fo?" fagte er heftig. 

Auguftend Thränen antworteten ihm ftatt 
jrer Worte. 

„Es ift eine unerträgliche Gewohnheit dieſes 
Beinen!’ fuhr er auf. „Ihr Weiber feid nur 
m Glücke etwas werth! — Wenn man Troft 
wauchte, muß man Euch tröften! Weine nicht! — 
Borüber weinft Du eigentlich?’ 

„Ueber unfer Schickſal,“ antwortete fie, „und 
iber Deine Härte!’ 

Er gab ihr die Hand, fie fiel ihm um ben 
Hals. Es war ihm unangenehm, aber er hatte 
icht den Muth, ihre Zärtlichkeit, die er lange in 
goiftifchem Leichtfinn hervorgerufen und genoſſen 
yatte, von ſich abzumweilen, obſchon er fein Vers 
yaltniß zu ihr in dieſem Augenblide ſchwer bes 
eute, 

Er dachte an den Brief, in dem er feine Ent- 
affung fordern wollte, an feine Zukunft, an des Vas 
ers letzte Worte, Die Liebe eines Mädchenherzens 
am ihm gering daneben vor, er hatte fein Mits 
yefühl dafür. ine Liebe aber, welche der Mann 


vicht theilt, beläftigt ihn immer. Nur mit ſich 
16* 


244 


ſelbſt befchäftigt, nur beſtrebt, ſich vor irgend einer 
Erörterung ficher zu ftellen und von Augufte fort 
zufommen, füßte er fie ſchnell, wie man einem 
Bettler ein Almofen hinwirft, den man loszus 
werden wünfcht, und ging hinaus. 

Weil die Mehrzahl der Frauen Feine Gelegen- 
heit hat, den männlichen Charakter kennen zu 
lernen, wird ed ihnen fo leicht, ſich in abſicht⸗ 
liche Täufchungen zu wiegen, fobald dieſe ihren 
MWünfchen entfprechen. Weit davon entfernt ſich 
einzugeftehben, daß Georg fie nicht liebe, was fie 
im runde ihres Herzend wohl empfand, legte 
Augufte fih fein Berhalten gegen fie nach ihren 
eigenen Planen aus. Sie fühlte, er habe in dieſer 
Stunde mit feinem Gedanken an fie, an eine 
Verbindung mit ihr gedacht, aber fie nannte «8 
ehrenhaft und feiner würdig, daß er das Leben 
eined Weibes nicht an fich feffeln wolle, fo lange 
feine eigene Zufunft nicht gefichert fei, und dieſe 
feftgeftellt zu ſehen, blieb jekt ihre nächte 
Ziel. | 

So wenig fie Richard liebte oder vertraute, 
konnte fie ed, als er in biefem Augenblide ein- 


a 


t, doch nicht unterbrüden, ihm den Vorfall zu 
Ahlen, und ihm ihre Sorge um ben Better 
Szufprechen. Indeß weit davon entfernt, ihre 
forgniffe zu theilen, leuchteten feine Augen, ale 
nehme er die erwünfchtefte Botfchaft. 

„Das ift ein wahres Glück!“ rief er, eilte 
er Shüre hinaus und auf des Lieutenant 
hıbe. 

Georg fchrieb fein Entlaffungsgefud, 
hard mit den Worten: „Glück auf, und vor- 
irts!“ in feinem Zimmer erfchien. 

„Du weißt alfo fon?” — 

„Daß Du frei bift? — ja!" 

„Was fagft Du dazu?" 

„Sch mußte über Augufte lachen, bie umber 
ppelt wie ein Huhn, dad Enten ausgebrütet 
t und fie auf's Wafler gehen ſieht.“ 

„Sei kein Thor, Richard!” unterbrach ihn der 
eutenant, „laß das Scherzen, mir fteht der Sinn 
ht dazu und Augufte thut mir leid. * 

„Mir auch!” entgegnete der junge Engländer, 
ber ich freue mich doch, daß ich fie und nicht 
ich zu beklagen habe.“ 





246 


Der Lieutenant fah ernfthaft vor ſich nieder, 
dann meinte er: „Ich habe mir dieſen Augenblid 
fo oft vorgeftelt, ihn auf eine oder bie andere 
Weiſe ald unausbleiblich berechnen können, habe ber 
"ftändig an die Geftaltung meiner Zukunft gebadıt, 
für den Fall, daß ich den Dienft verlaffen wuͤrde, 
und nun ed gefchehen ift, empfinde ich doch eine 
Leere in meinem Innern, habe idy doch ein Ge⸗ 
fühl von Frembdheit in der Welt. Es ift wun⸗ 
berbar, wie der Menfch mit feinem Berufe ver 
wächft, auch wenn er ihn nicht liebt.‘ 

Richard fchwieg ein Weile. Cr kämpfte mit 
einer DBerlegenheit, die ihm dad Blut in bie 
Wangen trieb. Endlich ſchien er fie mit Gewalt 
zu überwinden und fagte: „Auch ich Habe fehr 
oft an diefen Fall und an Deine Zukunft gedacht, 
aber ich habe Dir meine Plane für Dich nie 
fagen mögen. Ic bin fo viel jünger ald Du 
und ich fürdhtete, Du würbeft mid) jelbftfüchtig 
glauben‘ — — Er unterbrady ſich, reichte dem 
Lieutenant die Hand und rief: „Ich meine «6 
aber gut!’ Seine Berlegenheit war babei wieder 
gewachſen, fo daß Georg, der ihn in berfelben 


247 


ı wieder erkannte, ihn bat, ſich zu ers 
n. 

„Ich gehe in acht Wochen von hier fort, das 
it Du, und fuͤr's Erſte in mein Geſchaͤft nach 
on. Gehe mit mir!“ ſagte ber Jüngling 
U, 

Der Lieutenant war überrafeht. Richard hatte 
H nun Muth gefaßt und fuhr ruhiger fort: 
7 babe mir das oftinald überlegt, wenn mir 
nahe Trennung von Dir ſchwer auf das 
‚ fiel. Lerne mit mir zufammen das Gefchäft, 
e Kaufmann wie ich, und wenn id) einmal 
Haus in London übernehme, fo behalte Du 
Commandite in Liſſabon!“ Froh, feinen Vors 
ig gemacht zu haben, blidte er den Lieutenant 
feine Meinung zu erfahren, 

Georg war gerührt. „Guter Junge! Daß 
fo für mich forgteft,” rief er. „An diefe Laufe 
ı babe ich freilich nie gedacht!” — — Und 
ı einer Pauſe feste er Hinzu: „meine Ver⸗ 
niffe verbieten fie mir übrigens von felbft, 
ı wenn ich die Carriere aufgebe, bie mein 
er mir beftimmt bat, muß ich meinem Gefühle 


a 


zu genügen, mid balbmöglichit unabhängig von 
ihm machen.’ 

Da flammten Richard’8 Augen hell auf und 
mit leife bewegter Stimme fagte er: „Zeige mit, 
daß Du mic als Deinen Freund anſiehſt. Ich 
bin reih. Nimm von mir die Mittel zu Deinem 
Unterhalte an, bis Du eine Stelle in unferm Ges 
fchäfte ausfülft, deren Erwerb Deine Bedürfniffe 
bet. In acht Wochen bin ich Herr über ein Vers 
mögen, das ben Bell Deines Baterd doppelt 
übertrifft — und ich habe Feine Gefchwifter! 
Sei Du mein Bruder, Georg!’ 

Damit warf er fich dem Freunde an die Bruft, 
e8 zu verbergen, wie bewegt er war. 

Der Lieutenant drüdte ihn feſt an’d Herz und 
brüdte ihm noch fefter die Hand: „Du bift ein 
Mann geworden und ein ganzer Menſch!“ rief 
er. „Welche Wohlthat bift Du mir nad) des 
Baters Klagen, nad) Auguftend ohnmächtigen 
Thraͤnen!“ 

„Sieh!“ fiel Richard ihm lebhaft ein, „Du 
entrinnſt dann Allem, was Dich drüdt. Du kannſt 
reifen, wohin Du magft, nad) Amerika, nad 


249 


dien — ed nügt und Beiden, wenn Du ed 
uſt — und ich behalte Dich doch noch eine 
weile! Gehe mit mir, Georg! — Aber ohne 
aguſte!“ fügte er plöglich lachend Hinzu, ale 
e Diener eintrat, zu melden, dad gnädige 
Qulein laſſe die Herren zur Tafel bitten, 





Elftes Kapitel 


— — — — 


Gegen Corneliens Anficht Hatte Pleſſen den 
Wunſch ausgeſprochen, ihre Verlobung noch 
geheim zu halten, bis fie über die Art einig ge 
worden wären, in ber fie ihre Zufunft begründen 
fönnten, und ba er jet ficher war, fie werbe ihm 
folgen, drang er darauf, den Ort zu verlaflen, 
ohne die Zuftimmung feiner Braut dafür gewin 
nen zu koͤnnen. 

Mit aller Sehnſucht eines Ruhebebürftigen, 
fchilverte er ihr oftmald den Frieden der Herren- 
huthergemeinden, malte er ihr ein Dafein aus, dad 
in enger Befchränfung fein Genügen finden, und 
in ber gegenfeitigen Erhebung und Zufriedenheit 


— 





251 


Endziel haben ſollte. ornelie hörte ihm 
zu, aber niemald ohne fi) davon bebrüdt 
ihlen. | 

‚Du bift Frank!” fagte fie ihn, als er fid 
in Träumen von einem folchen Leben ver- 
d, „Du bift Frank, Liebſter! fonft Fönnteft Du 
Gedanken nicht hegen. Laß und nicht da 
Iprechen, bi8 Du wohler bift!‘‘ 

Sr verlangte, fie ſolle fich über dieſe Aeuße⸗ 
erklären, fie weigerte fich Anfangs, dann fagte 
ya er bei feiner Forderung verharrte: „Es ift 
Bunft, in dem wir Beide uns feit unferer 
obung nicht mehr verftehen. Wenn ich fonft 
vie Ehe dachte, Hoffte ich in berfelben ein 
bniß zu finden, das die Kräfte von zwei 
) ftrebfamen Menfchen durch ihre gemeins 
tlihe Richtung fteigern und verdoppeln follte. 
hoffte thätiger, wirffamer zu werden in ber 
ich fah in ihr eine erhöhte, vollendetere Forts 
19 unferes bisherigen Lebens und Schaffens. 
Du fiehft in ihr einen Abſchluß, ein ftil- 
Ruben. Für ſolchen Abſchluß aber fühle ich 
noch nicht gemacht. Ich möchte mein Das 


252 


fein erweiten, Du wilft dad Deine begrenzen. 
Ich möchte fchaffen, Du willſt raften — und daß 
ich es Dir geftehe, die Vorftellung in ber Bris 
bergemeinbe zu leben, ift mir vollfommen fremd.” 

„Dennod warft Du ed und die Gräfin,” 
wandte ihr ‘Bleffen ein, „die in nicht ferner Zeit 
die größte Vorliebe für Zinzendorf ausgefproden 
haben.“ 

„Sa, für Zinzendorf! aber nicht für bie fro 
flige Trodenheit der jegigen Brübergemeinben. 

„Sie ift nur abgeflärter, nüchterner ge 
worden,” entgegnete Pleſſen, „al8 fie es zu dee 
Grafen Zeiten war, und darum tüchtiger. * 

„Zrauft Du ihr eine fortzeugende Kraft zu?" 
fragte Cornelie. 

„Unbedenklich!“ rief ihr Bräutigam, „denn 
fie erzieht innerhalb ber Gemeinde rechtfchaffene 
gottgefällige Menſchen, arbeitfame Bürger. Gie 
verhindert Armuth und Unwiflenheit in der Brüs 
derſchaft, und fie hat daneben Kraft genug, alls 
juͤhrlich Männer und Frauen aus ihrer Mitte 
fortzufenben, weit hinaus in alle Welt, den Hei 
ben das GEyangelium, ben Wilden die Segnuns 


255 


len, daß Pleſſen davor erfchrad. Er mußte 
tinnern, daß er einer Niederlaſſung in der Eos 
nur als eines Wunfches, einer Möglichkeit er⸗ 
nt babe, auf deren Erfüllung nur nad) Bollzies 
j ihrer Ehe zu rechnen fei. Die Einwilligung 
Vaters zu berfelben zu erlangen, müßte alfo 
nächfte8 Streben bleiben. 
Die Gräfin und ber Prediger waren die Eins 
, welche von der heimlichen Verlobung ihrer 
nde unterrichtet wurden. Sie begrüßten das 
gniß mit Freuden und mit Segen. Es war 
rfte Heirath, welche innerhalb der Gemeinde 
lofjen werden ſollte, und in der improvifirten 
acht, zu der bie vier Freunde ſich vereinten, 
h der Prediger es aus, daß nur durch bie 
indung ber Heiligen, nur aus ber reinften 
einſchaft der Gatten, der reine Menfch, ber 
Heiland geboren werben fönne, deſſen bie 
: bebürfe. 
So lange in Euren Herzen dem Geliebten 
nüber noch ein anderer Gedanke ald der an 
erwacht, ein anderes Empfinden rege ift, 
dad bed inbrünftigen Danfed gegen den All 





256 


weifen, der Mann und Weib gefchaffen und fie 
zu Werkzeugen feiner Zwede beſtimmt bat, fo 
lange ift der böfe Geift der Luft mächtig in Euch, 
fo lange lebt Ihr unter dem Fluche der Erbſuͤnde, 
der fich fortpflanzt, auf Kind und Kindeskinder,“ 
fagte er. „Darum trachtet darnach, Herr zu wers 
ben über den Menfchen in Euch, damit Gott 
mächtig fein könne über Euch, und wenn bie 
Liebe Euch zu einander zieht, fo jei es, um Euch 
ald willenlofe Werkzeuge hinzugeben an die Rat 
fchlüffe des allwiſſenden und allmächtigen Gottes.“ 

Er umarmte darauf Pleffen und bie beiden 
Frauen; denn die brüberlichen Umarmungen wa 
ren feit lange Sitte geworden in der Gemeinde, 
deren Zahl fich bedeutend vermehrt hatte. Aber 
heute zum erften Male fühlten die beiden Verlob⸗ 
ten ſich gleichmäßig verlegt durch die leidenſchaft⸗ 
liche Inbrunft, in der die Gräfin und der Prebi- 
ger die Verlobten und danach einander an bad 
Herz ſchloſſen. 

Eornelie befchwerte fich darüber gegen ihren 
Bräutigam, fobald fie ſich allein mit ihm befant, 
und Pleſſen geftand ihr, daß er fchon feit Länge 


257 


Zeit die eigentliche Zuverficht zu jenen Freun⸗ 
nicht mehr habe, ja daß er glaube, auch ihr 
rauen nicht mehr wie früher zu befigen. 
„Andere unferem Empfinden freinde Perfonen, * 
gte er, „find ihnen nahe getreten. Die Phans 
fie hat in dem engeren neuen Kreiſe mehr und 
ehr die Stelle des Gemüthes, eine finnliche Sym⸗ 
zlik und Myftif haben den Platz des kindlich eins 
chen Glaubens eingenommen. Man hat Zufams 
enfünfte gehalten, von denen wir nicht unterrich- 
t waren, und es find Dinge in denfelben vor- 
:gangen, es haben Kafteiungen, Bußübungen 
attgefunden, die mit ber fchlichten Lehre des 
hriſtenthums nichtd mehr zu ſchaffen hatten, * 

„Woher kommt Dir diefe DVermuthung?* 
agte Cornelie zweifelnd und doch betroffen. 

„Durch einzelne, unmwillfürliche Aeußerungen 
r Eingeweihten. ” 

„Und Du forfchteft nicht? Du fragteft nicht? 
yu Fonnteft mit ihnen verkehren auf dem Fuße 
Men Bertrauens, obfchon Du ſolch ſchweren Vers 
acht gegen fie hegteſt?“ 

„Sch wollte meiner Sache ficher werden.” 

Wandlungen. I. 17 





258 


„Aber Du fchwiegeft auch gegen mich,“ fiel 
ihm Comelie ins Wort, „das ift — —“ 

Sie vollendete den Ausſpruch nicht, Beide 
verftummten, es entftand eine lange Pauſe. End» 
lich fagte Pleffen: „Ich mochte Dich nicht beuns 
rubigen, ich hoffte Dich unbeirtt an dem unheim- 
lichen Gebahren vorüber zu führen!“ 

„Bin ich ein Kind?“ fragte Cornelie mit dem 
beleidigten Selbftgefühl der Kraft, vie es unerträg- 
(ich findet fich bevormundet zu fehen. Indeß fie 
brängte dieſe Aufwallung eben fo ſchnell zurüd 
und ſprach, indem fie fich zur Ruhe zwang: „Shr 
habt in unferer Gemeinfchaft nicht nur die Gleich— 
berechtigung der Frauen, fondern fogar die Prie 
fterfchaft derfelben anerkannt und zugegeben, daß 
fie al8 die Entwidlerin der kommenden Geſchlech—⸗ 
ter in einem höhern Zufammenhange mit ber 
Gottheit ftehen ald der Mann. Aber was Ihr 
theoretifch als Wahrheit einfehen gelernt, das 
ftraft Ihr in der Prarid Lüge. Ihr vertraut un 
fern Eingebungen, und wollt und leiten. Ihr 
glaubt an unfern unmittelbaren Zufammenhang 
mit dem Höchften, und wollt und abhängig mas 


9 


hen von Eurer Einfiht, ald ob und die Fähig- 
reit des Urtheilend verfagt wäre von dem Schöpfer!“ 

„Cornelie!“ wendete ihr Pleſſen ein, „es giebt 
Berührungen mit der Außenwelt, vor denen jeber 
Mann dad Weib zu bewahren wünfcht, das er 
liebt, das feinen Namen tragen und die Mutter 
feiner Kinder werden fol, und — —“ 

. Ihre Heftigfeit ließ ihn nicht enden. „O! 
wolle mir nur mit dieſen Phraſen Nichts beweis 
fen!“ rief fie aus. „Schlimm genug, daß in 
Deutfchland das Weib fogar den eigenen Namen 
in der Ehe einbüßt, daß er ihr nicht bleibt, wie 
den Frauen freierer Nationen. So gern id 
Deinen Namen führen werde, fo weh’ wird es 
mir thun, den Namen aufzugeben, der mir anges 
boren iſt. Hat denn der Mann allein dad Recht 
feinen Namen ald einen Befig zu ehren, dem fein 
Charakter Werth und Geltung giebt? Was ich 
bin, bin ich ald Cornelie von Heidenbrud gewors 
den. Das ich Dir bin, das liebteft Du unter bie- 
fen Namen. Wie Fannft Du befondere Rüdfichten 
nehmen wollen für ein Weib, bloß weil e8 Dei- 


nen Namen tragen fol? —“ 
17* 





260 


„Du bift gereizt und thuft mir Unredt!“ 
meinte Pleſſen begütigend. 

„Du, nur Du thuft Dir Unrecht” rief fie, 
„Unrecht auch in meinen Augen, durch die Maß- 
lofigfeit Deines männlichen Egoismus. Du willft 
mid vor Gonflicten mit der Außenwelt bewahs 
ren, nut weil ich die Mutter Deiner Kinder wer: 
ben fol. Als ob das Weib, das fie mit ih 
rem Herzblut nährt, mit ihren Sorgen, ihren 
Schmerzen groß zieht, nicht mindeftend gleichen 
Antheil an ihnen hätte, ald der Mann, als 
ob — __fgU 

„Sch bitte Dich,” rief Pleſſen, jest feiner 
Geitd in Zorm ausbrechend, „nur Nichts von 
Srauenemancipation! Ich verabfeheue die Rich— 
tung, die immer Alles auf die Spitze ftellt, die 
jeden Gedanken verwirklichen will, ohne zu über- 
legen, daß der Gedanke frei ift wie die Unendlich— 
feit, daß die That gebunden und beengt ift durch 
alle Schranken des Beftehenden, Jene Richtung 
führt nur zur Zerftörung.” 

„Und die Deine zu einer Halbheit, die und 
Beide elend machen wird!“ fuhr Gornelie her 


261 


18, erfchraf dann aber vor dem eigenen Worte 
nd verfanf in Schweigen. 

Pleſſen war eben fo ſchmerzlich betroffen. Kei⸗ 
er vermochte daß erfte Wort zu finden. Es war 
id im Gemache und die hereinbrechende Dunkel⸗ 
eit machte die Verftimmung nur noch laftender. 

Wäre Pleſſen aufgeftanten und heftig umher⸗ 
egangen, wie Georg «8 in folchen Fällen that, 
ätte er fi wie Erich, eine Cigarre angezündet, 
en Mißmuth zu überwinden, oder würde er fich 
atfernt haben, fi zu fammeln und Cornelien 
eit zur Baffung zu geben, ed wäre dies Alles 
ine Erleichterung für fie gewejen. Aber wie fie 
yn jetzt vor fich figen fah, gebrüdt von ihrem 
arten Worte, fehnitt es ihr tief in das Herz, 
nd doch Fonnte fie ed nicht zurücnehmen, denn 
e hatte ihre Ueberzeugung damit ausgeſprochen. 

Sie fagte fih, daß Pleſſen frank fei, daß 
jemüthsbewegungen ihm immer fchabeten, und 
(8 er plöglich leife zu Huften begann, bemüht 
ie krampfhafte Beſchwerde zu unterdrüden, bie 
un die Bruft zufammenjchnürte, da hielt fich 
‚ornelie nicht länger. Sie legte ihren Arm 





262 


um feinen Nacken und fragte, ob er ihr vergeben 
fünne? 

„Wie fol ich Dir vergeben, daß ich Deinen 
Erwartungen nicht genüge?” entgegnete er. „Es 
fchmerzt mid), das ift wahr! Zu verzeihen habe 
ih Dir Nichts!“ | 

„Vergieb mir meinen Hochmuth, meine Selbft- 
ſucht!“ bat fie ihn. 

„Das ift nicht des Menfchen Amt, Eornelie!" 
entgegnete er fanft. „Bete zum Herrn, daß er 
ein mildes Herz in Dir erwede, wie ich ihm jebt 
gedanft habe für diefe Prüfung meiner Demuth, 
Er weiß, wozu er und zufammenführte, er weiß, 
weshalb er und in Liebe für einander Fommen 
ließ. Wir follen und gegenfeitig erziehen zur 
Demuth und Geduld, — Dana) laß uns benn 
ſtreben.“ Er hatte dabei mehrmals gehuftet und 
faß nun ruhig mit gefalteten Händen neben ihr, 
während feine Auffaflung von ihrer Fünftigen 

Che, und von dem Willen Gottes über fie, ihr 
Herz empörte, 

„Ein Strafgericht, eine Zuchtruthe des Herm, 
das glaubte ich Dir nicht zu fein!” fagte fie leife 


wollte fich entfernen, weil fie fühlte, daß fie 
Thränen nicht mehr Herr fei. 

zleſſen erfchraf vor dem Klageton ihrer 
me, Sein Mißmuth, fein Zorn waren ver: 
t, feine Neigung in voller Wärme erwacht. 
eriffen von ihrem Schmerze eilte er ihr nad, 
ıüdzubalten und an fein Herz zu ziehen, 
fie wehrte ihn mit fanfteer Gewalt von 
ib. 

Laß mich,“ ſprach ſie, „es giebt Worte, die 
nicht zurüdnehmen, bie man nicht vergeſſen 
! und wir haben fie gefprochen.” 

Ja faßte ed ihn mit fchwerer Angft, daß er 
rlieren fönne, und mit einer Leidenfchaft, wie 
elie fie nie an ihm erfahren, rief er, fie unı- 
gend und an fich drüdend: „DO! verlaß mid) 
! verlag mich nicht! Cornelie! Fühlft Du e8 
‚ daß es nur die Scheu war, Dich, mein 
! angetaftet zu fehen von einer Welt, die nicht 
tande ift, auch nur den Schatten Deines Wer⸗ 
zu erfaffen? Sei mein! gieb mir dad Recht 
zu befchügen, Laß und noch in diefer Stunde 
yeinem Water gehen, ihm unfere Liebe zu ber 


264 


fennen, und die Ausficht nahen, ficheren Beſitzes 
wird mich erlöfen, wird mir die Zuverficht, den 
Frieden geben, den ich nicht mehr finden Fann, 
als nur mit Dir," 

Er z0g fie neben fih zum Sitzen nieder, fic 
umfing ihn mit ihren Armen und ließ fein Haupt 
an ihrer Schulter ruhen, aber fie Füßte ihn nid 
und fein Strahl von Freude war in ihren Jis 
gen, ald fie in Nachdenken verfunfen, mit leiſet 
Hand über fein Haar ftrih. So blieben fie bei 
einander, bis Pleſſen fie aufforderte, mit ihm zu 
ihrem Bater zu gehen. Indeß die Stunde, welche 
fie dazu wählten, war feine günftige. 

Der Baron, im Gefühle feiner noch unge 
brochenen, männlichen Kraft, hegte eine Art von 
Geringfhägung gegen jede Schwäche, eine gewiſſe 
Abneigung gegen Fränfelnde Perſonen, befonbers 
aber war ihm der Ausdrud nervöfen Leidens, 
wie er fich in Pleſſen in diefem Augenblicke mehr 
ald jemald ausfprah, an Männern gradezu ver 
haft. Eines feiner Kinder, deren ftarfer Geſund—⸗ 
heit er fich ftetS ald einer Stammeseigenthümlich— 
feit berühmte, mit einem Kranken zu vermählen, 


25 _ 


alt ihm für eben fo unzuläffig, als eine Miß- 
eirath, weil es dem Blute feined Gefchlechtes 
s nahe trat wie eine folhe. Hätte Pleſſen's 
tihtung und feine Mittellofigfeit ihm nicht 
hnehin im Wege geftanden, feine bleichen Wans 
en, fein matted Auge hätten in dieſer Stunde 
ingereicht, die Kälte zu erklären, mit welcher ber 
Zaron feine Werbung um Eornelie aufnahm, den 
eifigen Ton hervorzurufen, mit dem cr Pleſſen 
fagte: „Sie glauben ſich aljo wirklich in der Rage, 
meiner Tochter, Fränflich wie Eie find, eine ftans 
desmäßige Zufunft zu bereiten, Herr von Pleſſen!“ 

„Sch hoffe, mit Gottes Beiftand es in kuͤrze⸗ 
ſter Zeit zu können, Herr Baron!“ 

„Sie hoffen es!“ ſagte der Baron, indem er 
die Worte ſcharf betonte. „Hoffnungen und Gott⸗ 
vertrauen mögen freilich genuͤgen, das eigene Les 
ben leicht zu machen, ein fremdes Dafein zu tras 
gen, reichen fie jedoch nicht aus!“ 

„Herr Baron!“ fuhr Pleffen auf, in dem 
trog aller chriftlichen Demuth die gefränfte Manz 
neöwürde fi) empörte: „wad berechtigt Sie zu 
biefem Spotte?“ 


iR _ 


„Die Erfahrung, Herr von Pleffen, wie ſchwer 
fih aus den reichten Hoffnungen auch nur eine 
fümmerliche Wirklichkeit gewinnen läßt. Die Er⸗ 
fahrung, wie anfprudy8los die fogenannte Liebe, 
wie reich an Bebürfniffen die Ehe if. Als Mann 
von Ehre müfjen Sie Bedenken tragen, einem 
Mädchen ftatt des geficherten Glüdes im Bater- 
haufe, Ihre noch ganz ungewiſſe Zufunft anzus 
bieten. Denken Sie alfo nicht mehr daran!“ 

„Vater!“ rief Eornelie, noch ehe der Baron 
die legten Worte geredet, und che Pleſſen eine 
Entgeanung machen konnte, „Bater! ftoße ihn 
nicht zurüd, beleidige ihn nicht, er hat mein 
Wort!” 

Der Baron fah fie mit düfterm Blicke an. 
„Dein Wort!“ wiederholte er, „So überlaffe «8 
den Manne, dem Du ohne meine Zuftimmung 
Dein Wort gegeben haft, dem Edelmanne, der es 
hinter dem Rüden Deines Vaters von Dir for 
derte, und der feine Anrechte auf diefe Unredlich— 
feit zu bauen fcheint, fich felber zu vertreten!“ 

Es hatte während deſſen fchon einmal an bie 
Thüre gepocht, jegt gefchah e8 zum zweiten Male. 


267 


n rief: „herein. Der Diener brachte 
. Es war von der Hand der Gräfin 
lie gerichtet. Die Worte „ſehr eilig” 
ch Frauenweiſe auf der Adreſſe mehrfach 
en. Gornelie fah es, ohne ed jedoch zu 
und ftedte dad Echreiben in die Taſche. 
ı Gräfin forderten Beſcheid!“ beinerfte 
r, ald er dad gewahrte, | 
werde Antwort fenden! Später, in einer 
' entgegnete Cornelie abweifend, mit jes 
zornigen Ungebuld, die wir empfinden, 
folhen Augenbliden irgend ein An⸗ 
: und erhoben wird, Der Diener wollte 
yiefem Befcheide entfernen, aber der Bas 
tete ihm, er möge den Boten warten heis 
nn wendete er fich, als jener dad Zims 
‚fjen hatte, zu Cornelie und Pleſſen: 
fhienen mir eine Entgegnung machen 
,“ ſagte er, „mich dünkt jedoch wir find 
Sch mwenigftend habe mein letztes Wort 
Herr von Pleſſen aber fann mir nur 
ndlungen und Erfolge beweifen, daß id) 
hat, es auszuſprechen!“ 


8 

Und ehe Pleſſen noch eine Antwort geben 
konnte, butte ter Vater ſich abgewendet und das 
Zimmer verlaſſen. 

„Run? fragte Cornelie, da ihr Bräutigam 
nicht ſprach: „Nun?“ wiederholte fie lebhaf 
ter ald er die Schultern zuckte. „Und was 
nun?“ 

„ir müſſen jchweigen und warten, während 
wir verjuchen unjerm Ziele näher zu fommen, 
ir müfen tulten, was der Rathſchluß deö 
Hoͤchſten und an Echmerz zu tragen auferlegt.‘ 

„Ich will nicht dulden!“ rief fie heftig. 

„Gomelic, das ift Frevel!* warnte Pleſſen. 

„Ich will nicht dulden! rief fie noch einmal. 
„Ih mag und will mich) nicht dein Ungerechten 
fügen, ich will meine Liebe nicht verbergen. Ich 
will warten mit Dir bis zur Erfüllung unferer 
Wuͤnſche, aber warten al8 Deine erflärte Braut, 
berechtigt die Neigung auszuſprechen, die ich für 
Dich fühle, indeß ich will nicht heucheln, will mid 
nicht veritellen. Du bilt ein Mann, wie fonnteft 
Du zu ſolchem Borfchlag fchweigen, meinem 
Vater gegenüber, der Nachgiebigfeit verachtet?* 





269 


„Er ift Dein Vater, ich hatte ihn zu ehren, * 
wortete Pleffen ihr fehr ernſt. „Und,“ fügte er 
zu, „ich traute auf den Beiftand befien, ber 
3 zur rechten Zeit nie fehlt. Du aber hatteft 
ypelt Unrecht, denn es ift unweiblich zu trogen, 
: Du's thuft! * 

„Und unmännlich, wiberftandslos zu dulden! * 
"fie, 

„Das Ehriftenthum verlangt's von uns!” be 
rte Pleſſen. 

„So mag ich kein Chriſt ſein, wenn ich die 
enſchenwuͤrde in mir toͤdten fol!” fuhr fie leis 
fchaftlihd empor, Aber kaum hatte fie bie 
rte gefprochen, ald eine Zobtenbläffe ihre 
angen überzog und fie fi) mit dem Ausruf: 
tein Gott im Himmel, was habe ich gethan!“ 
die Bruft ihres Bräutigamd warf. 

Auch Pleffen war bleich geworden, Er zog fie 
yt an fich, da fie ſich an ihn lehnte, er ſprach 
yt zu ihr, als fie ſich von feiner Bruft auf 
tete, Jene Worte waren wie ein Blisftrahl 
fchen ihnen niedergefahren, und wie betäubt - 
mochten Beide den Boden nicht wieder zu 


Tre — 


270 


kennen, auf dem ſie ſtanden, Vergangenheit und 
Zukunft nicht zu faſſen. 

Je laͤnger ſie ſchwiegen, je tiefer mußte die 
Vernichtung in ihren Seelen um ſich greifen, bad 
fühlte Pleſſen, und doch war er unfähig, des eben 
Gefchehenen mit Worten zu gebenfen. Ihm graute 
davor, aber feine Gedanken waren auf den einen 
Punkt gebannt, er Eonnte nichts Anderes finden. 

Endlih fiel ihm in feiner Herzensangſt ber 
Brief der Gräfin ein. 

‚Was will die Gräfin?” fragte er matt, 
Eornelie verftand, was dieſe abweichende Frage 
ihr bedeute, 

Mit inftinctiver Folgſamkeit zog fie den Brid 
aus der Taſche und lad ihn leiſe. Indeß kaum 
war dies gejchehen, als fie zuſammenbebte. 

„Auch das noch!“ rief fie, und Pleffen den Brief 
hinreichend, fügte fie hinzu: „Lies! wir find verloren.” 

Die Zeilen waren in fliegender Eile gefchries 
ben. Sie lauteten: „Iſt Pleffen bei Dir, fo bitte 
ihn augenblidlich, alle feine Papiere in Sicher 
heit zu bringen. Iſt er nicht da, fo eile zu ihm 
und laß nöthigen alles feine Schränfe öffnen, 


271 


m Alles zu entfernen, was fi auf die Ges 

teinde bezieht. Meine und des Predigers fämmts 

Ne Bapiere find und genommen. Die Zeiten 
Verfolgung beginnen wieder fiir die Gerechten. 
e Freiheit des theuerften Mannes ift bedroht] 
mm augenblidlich zu mir!“ 


Zwölftes Kapitel, 


Schon nah) wenig Stunden verbreitete fih 
die Nachricht im Publicum, daß DVerfiegelungen 
in den Häufern mehrerer angefehenen Perſonen 
ftattgefunden hätten, welche, wie man es nannte, 
zu den Frommen gehörten, und gleichzeitig erzählte 
man, daß die Behörden zu diefer Maßregel durch 
eine Denunciation veranlaßt worden wären, bie 
mit unwiderleglichen Documenten gegen den Vers 
ein aufgetreten war. Man fprad) davon, daß 
die Mitglieder deffelben von den Oberen, ohne dad 
Vorwiſſen Jener, in verfchiedene Elaffen getheilt, 
daß in dem engeren Kreife der Eingeweihten unter 
ben Deckmantel religiöfer Bußen und SKafteiuns 





273 


n unerlaubte Myfterien gefeiert worden wären, 
a nur eine große Anzahl Männer und Frauen 
fer Stände, namentlich aber des Adels, in mehr 
ver weniger naher Beziehung zu jener religiöfen 
jemeinfchaft geftanden Hatten, fo fahen fich plößs 
h viele Bamilien in ihren Mitgliedern von einem 
ıtehrenden Verdachte, von einer gerichtlichen Uns 
rſuchung ihrer Verhältniffe in trauriger Weife 
droht. 

Ein Drud, ald ob eine anſteckende Krankheit 
ı dem Orte ausgebrochen fei, legte fich laſtend 
ber die Geifter, eine ängftliche Spannung machte 
ch in allen gefelligen Verhältnifien geltend, 

Die guten Chriften fahen mit Schmerz auf 
n Wergerniß, das unter der Aegide der Religion 
egeben worden war, und litten von dem Spotte 
erjenigen, die ftetd ungläubig auf das Firchliche 
‚hriftenthum und mißtrauifch auf das Secten⸗ 
yefen innerhalb deffelben geblidt hatten. Man 
ermied den Merfonen zu begegnen, bie näher 
der ferner mit den Sectirern befannt gewefen 
yaren, weil man, bei ber fchnell begonnenen Uns 
rſuchung, deren DVerhöre fi) weit ausdehnten, 

Wandlungen. IL 18 


nicht als Zeuge vernommen werden mochte, und 
forgenvoll und niedergefchlagen gingen bie Per- 
wandten aller derjenigen umber, bie von ber Uns 
terfuchung betroffen worden waren. 

Eornelie befand fich unter den Erften, welde 
der Richter, dem die Unterfuchungsfache anheim 
fiel, vor die Schranfen fordern ließ. Als man 
die Vorladung dem Baron übsrbradht und ber 
Gerichtöbote fich entfernt hatte, las er das Schrift 
ftüf mehrmals langfam durch. Es fiel ihm 
Ihwer, den Inhalt deffelden zu denken. Dann 
blieb er lange regungslos in dem Lehnſtuhle vor ſei⸗ 
nem Schreibtifch figen, den Blid auf das Bildnif 
feiner verftorbenen Frau gerichtet. 

Er hätte viel darum gegeben, fie jest an fei- 
ner Seite zu haben, die Eeele entladen zu koͤn⸗ 
nen vor dem einzigen Weſen, das den Jammer, 
den Zorn, die Empörung feined Vaterherzend in 
gleihem Maße theilen mußte. Er hätte viel 
darum gegeben, hätte er die Tochter an die Bruft 
ber Mutter legen koͤnnen. Er ward irre an fi 
jelber, er war fich felbft nicht mehr genug zum 
ragen ber eigenen Laft. 


275 


— — — — —— — 


ih erhob er ſich und begab ſich zu Cor⸗ 
Hier ift eine Vorladung für Dich zum 
en Verhoͤre!“ fagte er. 
elie, dem Vater von allen feinen Kin⸗ 
ı ähbnlichften in ihren Charafteranlagen, 
das Schreiben mit bderfelben Ruhe, mit 
8 ihr gab. Der Baron hatte es ſtets 
hen, daß über erfüllte Thatfachen Nichts 
fagen fei. Jetzt handelten die Tochter und 
t beide nach diefem Grundfage, und doch 
der Letztere dies todte Schweigen faft 
ender als fie. 
nelie!” fragte er endlich, „weißt Du von 
terien, um beretwillen man Eud) anklagt?“ 
n! mein Vater!” 
von war ich überzeugt!” fagte der Baron 
ihr die Hand. 
dar ihr eine Freifprechung von bem beleis 
Verdachte, der auf ihr ruhte, und fie 
es Troftes fehr benöthigt. Der Gedanke, 
m Gerichtshoſe zu erfcheinen, angeklagt 
Bergehungen, durch deren bloße Erwäh⸗ 


ſich wie entweiht vorfam, flößte ihr Ents 
18* 


276 


fegen ein. Sie hätte ihrem Vater ihr Herz aus 
fhütten und wie ein Kind und wie ein Weib 
fchugflehend zu feinen Füßen finfen mögen, hätte 
ihr die Scheu, ihm ſchwach zu feheinen, ihm, ber 
fo hohen Werth auf Seelenftärfe legte, nicht ben 
Mund verfchlofien. 

Aber ald er dad Zimmer verlaffen Hatte, ale 
fie allein zurüdblieb in dem ftillen Raume, ba 
brah dad Gefühl ihrer geiftigen Einſamkeit mit 
furchtbarem Schmerze über fie herein, und fie 
felbft, ihr geiftiger Hochmuth, hatte fie zu biefer 
Vereinfamung verdammt. Sie hatte Alles von 
fich gewiefen, ded Vaters Rath und Vorftellungen, 
Friedrich's verftändige Warnungen, deſſen richtiges 
Urtheil, deſſen geſundes Empfinden ihn ſchon lan— 
ge von der Gemeinde getrennt, des Doctors ſcharfe 
und ſie oft durch ihre Schaͤrfe uͤberzeugende Kri⸗ 
tik, ſie hatte das Alles von ſich gewieſen, im 
Vertrauen auf die eigene Unfehlbarkeit, in der 
Ueberzeugung, daß ihr Glaube der alleinig rechte, 
daß fie und ihre Freunde die Auserwählten Got⸗ 
tes wären, Sie felber hatte zuerft die Gemeinde 
mit dein Namen der Heiligen bezeichnet, fie halte 


277 


—— — —— — —— 


son ihr und ihren Freunden ſolle bie 
ırt der Menfchheit ausgehen. Nun ftand 
Aufcht von denen, denen fie mit blins 
yung vertraut, angeklagt um Berirruns 
ımer als die fo tief verdammten Sün⸗ 
elt, 
lorienſchein ber Selbftvergötterung war 
Haupte gefallen, der Tadel, der Epott 
hen trafen fie biß in dad Herz. Se 
eit Jahren ihre Kraft gefpannt, ſich auf 
ndelnden Pfade zu erhalten, auf dem 
e Freunde fi) bewegten, um fo plößs 
fie zufammen. Sie gli dem Schlaf 
i, der in feiner franfhaften Ueberreizung 
erbare leiftet, und ohnmaͤchtig dafteht, 
ı ihn erwedt. Ihre ganze Seele lechzte 
tand, aber wie konnte, wie burfte 
t8 die Gleichberechtigung, bie göttliche 
ft, die höhere Begabung des Weibes 
 jebt die Schwäche der geängfteten 
verrathben? Wie Troft und Stuͤtze 
fie, die vom Manne Anbetung bed 
zehrt? 


278 


Wohin fie ſich auch wendete, fie fand die Ruhe 
nicht, die fie erfehnte, die Liebe nicht, deren fie 
bedurfte. Pleffen war unzufrieden mit ihr, weil 
fie feinem Verlangen, ſich von der Gräfin fern zu 
halten, nicht entſprach. Die Gräfin Hatte nur 
einen Gedanken, nur ein Ziel, die Rettung be 
Prediger. Ihre Leidenfchaft für ihn war feit 
der Stunde feiner Verhaftung Niemand mehr ver 
borgen geblieben; an biefer entzündete und er 
hielt fi) ihre Thatkraft. Mit raftlofem Eifer 
fammelte fie aus den Correfpondenzen ihrer und 
feiner Freunde, aus feinen Schriften und aus fer 
nen nachgefchriebenen Predigten alle die Stellen, 
die für ihn fprechen fonnten. Sie hatte Unter 
redungen mit den Angeflagten, mit den Zeugen. 
Sie wußte den Muth der Zaghaften zu beleben, 
den Glauben der Treuen zu fanatifiren, und fein 
Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihres Bundes, fein 
Zweifel an dem ‘Prediger, an fich felber, Fam je 
mals in ihr auf. Liebe und Leidenfchaft machten 
fie davor ficher. Ein Weib, bei dem der Glaube und 
bie Liebe zufammentreffen in einem und bemjel 
ben Punkte, ift unüberwindlih. Ausdauernd auf 


279 


den längften Berhören, wußte fie den täglich 
chſenden Anflagen und Beweifen immer aufs 
ne zu begegnen. Friedrich war ihr dabei von 
Bem Nutzen. 
Er war durch feine einfachen Ausfagen einer ber 
gen gewejen, welcher den Urfprung der geiftigen 
thümer ver Gemeinde am Flarften nachgewiefen und 
rit ein milderes Licht über den Eharafter der Gräs 
und des Predigers verbreitet hatte, Er geftand, 
ft von dergleichen Schwärmereien befangen und 
durch ein Zufammenwirfen mannigfacher 
adhen von denſelben zurüdgebradht worden 
fein. Dadurch hatte er Theilnahme für feine 
deren Olaubendgenofien zu erregen gewußt, 
‚rend er feine eigene Rechtfertigung erlangte und 
e völlige Unbefanntfchaft mit den der Gemeinde 
Laft gelegten Fehltritten unwiderleglich darthat. 
Auch Pleffen, wenn fchon gereizter gegen den 
diger und die Gräfin, weil er fich als Freund 
: ihnen ſchwer verrathen glaubte, war in glei- 
Weiſe verfahren, und Eorneliend Verhoͤr ftand 
ı bevor. 
Der Baron hatte es erlangt, ihm beimohnen 


280 


zu dürfen. In voller Uniform, die Bruft mit 
allen feinen Orden bebedt, trat er zur feftgefegten 
Stunde in Eorneliend Zimmer, nahm ihren Arm 
und führte fie die Treppe hinab zum Wagen. 
Wortlos legten fie den Weg bid zum Gerichtöhofe 
zurüd, und feft und ernft gefaßt traten bie beis 
den edeln Geftalten in den Saal und vor ben 
Kichter hin. 

Hatte Cornelie bieher in banger Berzagtheit 
mit fich felbft gerungen, fo rief dieſer Augenblid 
fie auf, fi mit ihrer ganzen Kraft zu waffnen. 
Es galt hier mehr als fie allein. So hoch ihr 
Bater fein ftolzes Haupt erhob, fie fah den Drud, 
der auf ihn laftete, fie fühlte fich fchuldig gegen 
ihn, ihm angehörend, ihm verantwortlich, wie fie 
e8 lange nicht mehr getan. Das machte fie be 
müht ihm zu genügen. 

Ruhig, ald ob nicht alle ihre Pulſen klopf— 
ten, daß fie dad Blut in ihren Adern fchlagen 
fühlte, ſprach fie fi) über das Entftehen der Ge: 
meinde, über ihre Theilnahme an demfelben aus, 
Mit firenger Kürze beantwortete fie alle ihr vors 
gelegten Fragen. Nur der Werhfel ihrer Farbe, 


281 


nur ein leifed Zuden der Lippen verriethen, wie 
ſehr fie unter der Verlegung ihres weiblichen Em⸗ 
pfindens litt. Eo hatte das Verhör bereitd meh» 
rere Stunden gewährt, ald der Inquirent fich 
auf die perfönlichen Beziehungen der einzelnen 
Gläubigen zu einander wendete, 

„In welchen Verhaͤltniß ftand Herr von Plefs 
fen zu dem Kreife, den Sie für den engern Frei 
der Auserwählten hielten?” fragte er. 

„Sn einem Berhältniß der Freundſchaft, der 
Verehrung, ded gemeinfamen Glaubens und Wirs 
fend zu und Allen. Zu mir aber noch in einem 
näheren DBerhältniffe, denn wir find verlobt!“ 
antwortete Eornelie feft. 

Der Baron fuhr zufammen, objchon tief vers 
wundet durd das ganze Verhör, hatte er ſich 
bis zu dieſem Momente eined Gefühls befriedig- 
ter Vaterliebe nicht erwehren fünnen. So rus 
hig felbftbewußt wie feine Tochter jegt vor Dem 
Richter daftand, hatte er fie zu fehen erwartet. 
Dazu hatte er fie erzogen, fo hatte er fie geftählt 
für die Prüfungen des Lebens. Wie fie fich 
ihm angehörend fühlte mit ihrem ganzen Wefen, 


282 


jo empfand er fie al8 fein Eigenthum, ſich als 
ihren Bildner, ihren Meifter. Da traf ihn plöß 
lich ihre eigenmädhtige Erflärung des DVerlöbnifs 
ſes mit Pleffen wie bewußter Trotz. Wie ein 
Hohn erflang ihm die Frage des Richters: 
‚Welche Anfichten hegte Ihr Bräutigam über Ihr 
Verhaͤltniß zur Gemeinde? Hat er es gebilligt?!" 

„Nein!* antwortete Cornelie, „er billigte es 
feit einiger Zeit nicht mehr. Er wünfchte mid 
und fich von unferen Freunden zu entfernen, und 
wir beabfichtigten, und nad) unferer Verbindung 
in einer Brüdergemeinde niederzulaflen, wenn 
Herr von Pleſſen ſich nicht auf eine Mifftond- 
reife zu gehen entfchloß, bei der ich ihn begleitet 
haben wuͤrde.“ 

In dein Zome über den Troß gegen feine väter⸗ 
lihe Gewalt, überrafchten den Baron dieſe letzten 
Worte Eorneliend plöglih wie ein Lichtftrahl. 
Wie man in der Stunde der Noth als Ret: 
tung ergreift, ald Gewinn erkennt, was man früs 
her geringfchägend verworfen, fo erfaßte er jet 
mit einem Male den Gedanfen, feine Tochter 
mit Pleffen zu verbinden, um fie von einem Orte 





283 


ı entfernen, an dem Alles fie an ihren Irrthum 
innern mußte, und an bem er bie Erklärung 
rer Verlobung nicht widerrufen Fonnte, ohne feis 
er Autorität und ihrer Wahrhaftigkeit gleichzeis 
g zu nahe zu treten, 

Das Verhoͤr währte lange. Als es fpät am 
tachmittage beendigt ward, und Gornelie ihre 
Schuldlofigfeit für den Richter vollftändig Flar er- 
zieſen hatte, al8 fie wieder im Wagen an ihres Va« 
ers Seite faß, da flog ein heftiges Zittern durch alle 
Ire Glieder. Sie feufzte tief auf, und barg ihr Ge- 
ht in ihre Hände, als fcheue fie das Licht des Ta- 
& zu fehen, an dem man Eide von ihr gefordert, 
e Reinheit ihres Weſens zu bethätigen. 

Erfchöpft, gedemüthigt, irre geworden an fid 
(ber, langte fie in ihrer Wohnung an. Das 
ir fo vertraute Zimmer, die Gegenftände, mit de⸗ 
en fie fich täglich befchäftigt Hatte, traten ihr 
end entgegen. Die Bilder der Gräfin und bes 
zredigers fahen Falt lächelnd zu ihr herab und fchie- 
en fie zu fragen: „wie Fonnteft Du von uns, von 
Menfchen mit menfchlichen Leidenſchaften welterlös 
ende Gedanken und Thaten fordern? Wie fonnteft 


— — — — — 


Du Dir ſelbſt vertrauen, Dir, die unſer Werk⸗ 
zeug war?“ 

Die Hände matt gefaltet, Die Augen müde 
geſchloſſen, faß fie regungslos da. Sie fühlte 
ſich heimathslos und haltlos in der fie umgeben 
den Welt, und wie fie fih früher bem Glauben 
überlaffen hatte, fo leidenfchaftlich ergab fie fich jekt 
dem Zweifel. Mit graufamer Wolluft wendete 
fie fich gegen Alles, was fie geliebt, gewollt, vers 
ehrt, gegen Alles, worin fie Troft gefunden. Ihr 
ganzes biäheriged Leben dünfte fie eine Lüge, 
jede Eigenfchaft ihred Herzens und ihres Geiftes 
leerer Schein, hochmüthige Täufhung, und mit 
ſchwindelndem Graufen fah fie fih am Rande 
eines Abgrundes, aus deſſen Tiefe ihr unheimlid) 
die Selbftvernichtung winfte, 

Eine ſolche Stimmung konnte nicht ohne Wirkung 
auf ihr förperliches Befinden bleiben. Ihre Kräfte 
brachen unter diefer Aufregung. Das Leben war ihr 
werthlo8 geworden, fie glaubte Nichts mehr zu wuͤn⸗ 
fchen, zu erftreben, und doch ward mitten in bie 
er Erſchlaffung oft eine Sehnſucht nach Erlöfung, 
ein Angftruf nach einem Erretter in ihr wad, 


285 


ne daß fie felbft es fich zu fagen wußte, was 
> erjehne und verlange. 

Pleſſen, der nach jener Unterredung mit dem 
Jarone, das Haus deſſelben nicht mehr betreten, 
ıtte Cornelien, feit fie Beide die Gräfin nicht 
ehr beſuchten, nur in einzelnen Momenten gefe- 
en, weil fie in ihrer Franfhaften Abfpannung ihre 
Bohnung und dann nur felten, nur im Wagen vers 
eß. Aber fo oft er fie erblidt, war er erfchroden 
ber die Veränderung in ihrer Stimmung und in 
yrem Aeußern. Vergebens bot er in feinen Briefen 
Me Zärtlichfeit auf, fie zur Sorge für ihre Ge⸗ 
undheit zu bewegen, vergebend alle Troftgründe 
er Religion, ihren Muth zu beleben, fie blieben 
uchtlos. 

„Der Troſt von außen frommt mir nicht,“ hatte 
e ihm auf ſeine Vorſtellungen geantwortet. „Der 
dinweis auf bie Güte Gottes nuͤtzt mir nicht. 
Bas hilft es mir, daß die Menfchen gut find, 
aß fie mid) beflagen und daß Gott allbarmherzig 
1? 68 ift fo elend, nur von Mitleid, nur von 
zarmherzigkeit zu leben, nur durch Vergebung 
nd Gnade zu beftehen. Gieb mir den Glauben 





286 


an mid, an meine eigene Güte, an meine Nuͤtz⸗ 
(ichfeit zurüd, und ich. werde des Troſtes dann 
nicht mehr bedürfen.’ 

Des Baterd Sorgen, Georg’d Bemühungen, 
fie zu zerftreuen, Auguſtens Aängftliche Pflege, 
Nichts machte Eindrud auf fi. Sie war ent 
fchieden franf, aber feine Bitten, Feine Vorſtellun⸗ 
gen Fonnten fie bewegen, den Doctor kommen zu 
laffen und ihn zu Rath zu ziehen. Haft bis zur 
Etumpfheit gleichgültig gegen Alles was fie 
umgab und was mit ihr geſchah, brachte nur ber 
Gedanke, den Doctor zu fehen, vor ihm bie Irr⸗ 
thümer befennen zu müffen, in bie fie verfallen 
war, vor ihm gedemüthigt, vernichtet Dazuftehen, fie 
zur Verzweiflung, und das einzige Berlangen, 
dad fie feit jener Stunde ded PVerhöred ausge⸗ 
fprochen hatte, war bie Forderung gewefen, ihr 
die Begegnung ded Doctors zu eriparen. . 

So ftanden die Sachen, als der Tag heran 
fan, an dem Georg dad Vaterhaus verlaſſen 
follte, um Richard zu folgen, der jchon vor einis 
gen Monaten nad) England abgegangen war, 
Cornelie hatte fi) an dem Morgen befonderd 


_ 87 _ 


t gefühlt und auf ihrem Zimmer allein zu 
tag gefpeift, als Georg ſich zu ihr begab. 
feinem Eintritt erwachte fie aus leifem Halb» 
if, richtete fich aber fchnell auf dem Sopha em⸗ 
‚und hieß ihn fi an ihrer Seite nieberlaffen. 
„Wie fühlt Du Dich?“ fragte er liebevoll 
rgt. 
„Ganz ſchmerzfrei!“ antwortete fie wie immer. 
h bin wirklich ganz gefund!* 
Ungläubig fah Georg in ihre erlofchenen Aus 
Er nahm ihre Hand, fie brannte in trod- 
Sieberhige. Da hielt er fih nicht länger, Er 
ang feinen Arm um ihren Naden, und fagte 
einem Tone von Berlegenheit und Xiebe, der 
nd Rührendes hatte in dem Munde viefes 
mnes: „Ihr habt mir immer den Vorwurf 
acht, ich wiſſe mit mir Nichts anzufangen, 
fagen ſie's von Dir!“ 
„Bas fagen fie von mir?“ 
„Du wüßteft nicht, was Du wollteft." 
Cornelie lächelte fchmerzlih. „Behaupte von 
m Menfchen, der mit unheilbar gebrochnen 
edern darnieder liegt, er wolle nicht gehen!“ 





288 


„Wenn man und zwingt gegen unfern Willen 
zu handeln, dann heißt e& freilich immer, wir hät- 
ten feinen Willen, oder wir wüßten nicht, was 
wir verlangen!“ meinte Georg. 

„Gottlob! daß Du Dein Ziel gefunden haft!“ 
antwortete fie, ohne auf die eigene Lage einzus 
gehen. 

„Es ift damit ein eigen Ding!“ rief Georg. 
„Was ich nicht wollte, das wußte ich Flarer ald 
was ich wollte; wohin ich nicht wollte, das ers 
fannte ich deutlicher ald mein Ziel, Ich meine, 
wenn’d dem Menfchen irgend wo recht unbehaglid 
ift, fo muß er da nicht bleiben, fondern vor allen 
Dingen fich losreißen und fich mitten in ein an 
deres Leben hineinftellen, wie man untertaucht in 
einem Strome, wenn die Schwüle gar zu drüdend 
if. Wird man dann von dem fremden Elemente 
fortgezogen, fo wehrt man ſich von felber gegen 
den Untergang, und fämpfend und jchwimmend 
findet man bie erfchlafften Kräfte wieder, ober 
man geht eben unter! und das ift immer noch 
befier, als fich todt zu ſchmachten!“ Er hielt inne, 
wie von den eigenen Worten überrafcht, und fagte 


8 


ı Furz abgebrochen: „Mach' dag Du fort 
nft! bier ift Deined Bleibens nicht laͤnger!“ 
58 war bad erfte Mal, dag Georg ſich ratls 
nd in eine Angelegenheit feiner Gefchwifter 
te. Cornelie ſah, welche Ueberwindung 
hn koſtete. Seine ſcheue Zärtlichkeit rührte 
ief, feine Worte trafen fie. Sie wiegte lang« 
nachdenfend dad Haupt, dann ſprach fie nach 
Pauſe: „Wäre ih ein Mann! — aber 
— was fol ich thun?“ 
‚Du mußt heirathen, Cornelie!* fuhr Georg 
16, 
‚Heitathen?, wiederholte fie, als habe ber 
inke ihr ganz fern gelegen. 
‚Sprih ein Wort! Sage dem Bater, daß 
ed willſt. Er ift voll Eorge, vol Zärtlichkeit 
Dich, und Pleſſen fol im Augenblide bei Dir 
wenn Du's verlangft! Der Bater wils 
in Deine Heirath — ich follte Dir das 
1!“. 
Lornelie hatte mehrmals ſchnell die Farbe gewech⸗ 
aber ſie antwortete ihm nicht. Endlich ſprach 


nit einem Lächeln auf den Lippen, indem ſie 
andlungen. II. 19 





a 


des Bruders Hand ergriff und brüdte: „Alle Br 
das war alle Deine Weisheit, treues Herz! heit 
then ſoll ich?“ 

„Ja!“ rief er, „der Doctor ſagt das auch!“ Ki 

Eornelie fuhr zufammen. Sie ließ des Bw Fi 
ders Hände erfchroden los. Er wußte nicht, was 
er davon denken ſollte. Seine Beftürzung zu ver 
bergen, ſprach er, da er vergebend auf eine Ant 
wort der Echwefter gewartet hatte: „Du haft zu 
lange in Abftractionen, zu lange nur für Ans 
dere gelebt. Du mußt jegt für Dich felbe 
leben. Man will ja mehr fein, als nur da 
Kind feines Vaters, nur der Freund feine 
Freunde, der Wohlthäter der Hülfsbedürftigen. 
— Bor Allem mußt Du's wollen, da Du 
liebſt!“ 

Er hatte damit feine ganze Unterredungskunſt 
erſchoͤpft, und fah ihr freundlich in’s Ge 
fiht. Aber auch jett erhielt er Feine Antwort. 
Eornelie blickte ſchweigend und ernfthaft vor ſich 
nieder. Es war Georg unheimlich neben ihr. 
Ploͤtzlich erhob fie fich. 

„Er räth mir dazu! Er?“ fagte fie im Selbft- 





291 


fpräd), athmete tief auf, druͤckte Georg bie Hand 
id verließ mit den Worten: „So fei e8 denn!“ 
n Bruder und das Zimmer, hoch aufgerichtet und 
Ken Schrittes, ald habe fie gewaltfam alle Er: 
ylaffung und Krankheit von fich abgeworfen. 


19* 





Dreizehntes Kapitel, 


— — — 


Der Prozeß gegen die Gemeinde der Heiligen 
bildete einen ſtehenden Artikel in den Zeitungs⸗ 
blättern jener Tage, und Erich fand es bald 
eben fo läftig, mit Fremden als mit befreundeten 
Perſonen zufammen zu treffen, weil er fich nirs 
gend vor Erörterungen ficher fühlte, die ihn pei- 
nigten. Er hatte Regine von ben Maͤngen, 
von der Verwicklung Corneliens in dieſelben er⸗ 
zählt. Sie hatte um ſeinetwillen Theil daran ges 
nommen, aber ihr mittelbared Intereſſe an feiner 
Schweſter, und ihre Unfähigkeit, fi) in die Geis 
ftesrichtung einer folchen Gemeinſchaft zu vers 
fegen, madten, daß ihm ihre Theilnahme nicht 
ausreichend erfchien, 


293 


58 ift ſonderbar,“ fagte er eined Tages, 
Du bei aller Xiebe, die Du für mich fühlft, 
n Schmerz um meine Schweiter nicht vers 
kannſt!“ 
Ich verſtand ihn wohl,“ antwortete ſie, „als 
ie ſchuldig glaubteſt. Aber Du ſelbſt, die 
rt, Dein Vater und vor Allen ihr Bräus 
„Ihr feid ja alle von ihrer Unſchuld voll 
en überzeugt!’ 
Was hilft dad!‘ rief er ungeduldig. 
egine fah ihn befreindet an, „Was das 
Mehr als vollfommen ſchuldlos kann doch 
denſch nicht fein!’ fagte fie ruhig. 
Ja!“ rief er, gereizt durch ihre Ruhe, bie 
Ite fchalt, „jal man fann mehr fein, ein 
ben muß mehr fein, ald eben nur ſchuldlos! 
muß unangetaftet fein. Fühlft Du denn nicht, 
nit folcher Unterfuchung der Ruf eined Weis 
ür immer vernichtet ift? Sieht Du nicht, 
hre Heirath nur ein Rettungsanfer ijt, an 
rein Bater fie fetten muß, um fie vor dem 
jange zu bewahren? Weißt Du was «8 
zu jehen, daß ein Mann, den man im 


294 





Grunde zu gering für feine Schwefter achtet, fie 
unter Verhältniffen zur Frau nimmt, in benen 
man ed ald Gnade anfehen muß, baß- er es fchlich 
lich thut?“ 

Es giebt Tage, an denen ein böfer Dämon 
und verhindert, die Stimmung unferer liebften Men⸗ 
chen richtig zu erfennen und und ihr anzupaflen, 
denn auch das innigfte Beifammenleben zu eim 
ander gehöriger Perſonen, ift nur durch ein fteted 
Ausgleichen der verfchiedenen Naturen möglich, 
bie wie chemifche Stoffe unter veränderten Berhält 
niffen eine veränderte Wirkung auf einander üben. 
Ein folder Dämon waltete heute über Regine. 

„Aber Deine Schwefter liebt den Mann und 
er Tiebt fiel‘ wendete fie ein, ftatt Erich ruhig 
feine Erregung ausfprechen zu laffen. 

„Was hat ihre Liebe damit zu thun. Was 
hilft diefe Liebe ihr von dem Urtheil der Welt?!" 

„Wie fannft Du das fragen, Erich? Ich be⸗ 
greife Dich heute nicht!“ 

„Natuͤrlich!“ fuhr er auf. „Was kannſt Du 
auch wiſſen von der Ehre einer Familie, von der 
Schmach eines ſolchen zerftörten Rufes!“ 


295 


hatte fich mit dieſer Heftigfeit genug ge 
ine Bruft befreit und ging nun nad feis 
wohnheit in dem Zimmer auf und nieder, 
veiter auf Regine zu achten. So ents 
> mehr ald eine Viertelftunde. Ploͤtzlich 
die Stille ihm beängftigend aufzufallen, 
m fprihft Du nicht zu mir, Regine?” 
T. 
zas Fönnte ich Dir jagen?’ antwortete fte 
m fanfteften Klange ihrer Stimme. Der 
ührte ihn. Er hatte fchon lange daß 
tfein der Roheit gehabt, die er begangen, 
ar bereit fie zu büßen, die Geliebte zu ver- 
Langſam trat er zu ihr heran. 
(8 ob ich nicht wüßte, wie die Blicke ber 
en laften können!“ rief Regine, ald er 
ftand und bob ihre thränenvollen Augen 
in die Höhe. 
fe Worte reizten ihn auf's Neue, 
eine Neue kommt zu ſpaͤt!“ fagte er graus 
ıdem er fich von ihr entfernte, 
dh habe Nichts zu bereuen Erich, und ich 
Nichts!“ 


296 


„Aber Du rechneft mir das Opfer an, das 
Du mir bradhteftl” rief er, „das thut die Liebe 
nicht 1 

„That ich das je?‘ _ 

„Du thuft es jetzt! und grade heute hätte ich 
einer felbftlofen Liebe bedurft, indeg” — — — 

Er hielt inne, nahm ein Bud) und feßte fidh nie 
ber zu leſen. Regine konnte an feiner Unruhe 
fehben, wie wenig er bei dem Werfe war. Cr 
ſchlug die Blätter hin und her, fing auf verſchie⸗ 
denen Stellen zu lefen an, kaͤmmte dabei mit feis 
nem Heinen Zafchenfamme Haar und Bart, bi6 
er ungeduldig mit den Worten: „Ich muß aus 
gehen und fehen, ob ich mid nicht im Freien 
198 werden kann!“ von feinem Site aufftand. 

„Sol ih Dich nicht begleiten ?“ fragte fie. 

„Nein! ich will allein gehen, und das Wetter 
ift auch zu ſchlecht, Du Fönnteft Dich erkaͤlten!“ 

‚Bann darf ich Dich zurüd erwarten, Erich?" 

„Sch weiß ed nicht! — Fragſt Du mich aber 
heute viel!“ — rief er mit gezwungenem Lächeln, 
bot ihr flüchtig die Hand und ging mit einem 
eben fo flüchtigen LXebewohl davon, 


297 


— — — — — — 


gine ſah ihm ſchweigend nach, dann ſchlug ſie 
ade ſchmerzlich zuſammen und hielt ſie feſt vor 
ficht gepreßt, als wolle fie die Augen verſchlie⸗ 
r jeder Außeren Störung, um ſich zu bes 
‚ wie eine ſolche Veraͤnderung zwifchen ih⸗ 
tftehen, wie biefe Scene hatte ftattfinden 
. Und doch war fie nicht die erfte ihrer 
weien. 

unmwanbelbarer fie fich in ihrer Liebe, je 
ie fich Erich eigen fühlte, um fo unbegreif- 
mußte es fie dünfen, daß feine Zärtlichkeit 
erkaltete, daß fie ihm nicht wie fonft, die 
welt erfegte, aber fie konnte es ſich nicht 
jen, daß dem aljo war. 

it Georg den Abjchied genommen hatte, um 
ann zu werden, feit Gornelie zur Unter⸗ 
g gezogen worden war, hatte Erich feine 
an Reginend Seite nicht wieder zu finden 
ht. Die Neugier und die Theilnahme, die ſich 
efen ungewöhnlichen Greigniffen auf feine 
ie hefteten, die Gerüchte, welche in der gros 
Belt über Helenend Liebedabenteuer im 
unge waren, hatten ihn mehr und mehr mit 





298 


drüdender Schwere belaftet. Er Konnte feines 5 
Vaters nicht gedenfen, der Stunde nicht gebenten, ſ 
in welcher er und Helene den Segen des Baron? 
für ihren Lebensweg empfangen, ohne mit brew 
nender Reue zu empfinden, daß auch er das Ge 
(öbniß nicht gehalten habe, dad er in des Baterd 
Hand gefchworen hatte, Er fühlte fidy ſchuldig gegen 
ihn, fchuldig gegen Regine, gegen feine eigene 
Zufunft, aber mit dem Naturbebürfnig der Selbſt⸗ 
befreiung ftrebte er, die Schuld von fich zu wäl 
zen — und er fand dazu Regine gegenüber leid» 
tes Spiel. | 

Hatte er fonft in glüdlichen Zeiten ihr ſcher⸗ Ä 
zend vorgehalten, daß fie ihm ihre Liebe unge 
fuht gewährt, daß fie fie ihm faft wie eine 
Nothwendigfeit aufgebrungen habe, fo war er als 
maͤhlich dahin gekommen, ihr ernſtlich einen Vor 
wurf daraus zu machen, oder mindeſtens ihre 
Unertahrenheit und feine Leidenfchaft in Stunden 
des Mißmuths als eim ſchweres Unglüd für fie 
Beide zu beflagen. Ein Mißmuth aber, dem wir 
Kaum geftatten, kehrt oftmald wieder, wädhft 
raſch empor, fcrlägt ungerftörbar Wurzel in unferm 


BEE... BE 


n, und wo man fich gewöhnt, ſich unglüd- 
ı glauben, da wendet dad Glüd fich unwie⸗ 
iglich von den Herzen ab. 

iefer Zuftand feiner Seele konnte dem Auge 
glichen Freundſchaft nicht entgehen. Frau von 
dd, viel zu erfahren, um jemals einen Ders 
jegen Erich's Verhältnig zu Regine zu mas 
hatte nie aufgehört, ed mit Kummer zu 
ten, nie die Hoffnung aufgegeben, er felber 
einer Verbindung überbrüffig werden, bie 
telfah im Wege ftand, und ihm nach ihrer 
ang Nichte, ald die Befriedigung einer finn- 
Leidenfchaft zu bieten hatte. Die Frauen, 
ſich Die gebildeten nennen, vergeffen aber nur 
ht, daß Bildung des Herzens, klarer Ver⸗ 
Reinheit und Größe der Empfindung, nicht 
Frbgut einer Kafte find, daß fie nicht in den 
en, nicht in den Bamilien gelehrt zu werden 
yen, und daß fie in dem. Weibe ınehr werth 
onnen, ald das ſchulgerechte Willen, als 
ormen und Traditionen auch der forglichiten 
Jung. 

tit feinem Tacte fühlte Frau von Werbe, daß 


300 


Eric) ſich von der eigenen Wohnung zu entfernen, daß 
er die lang gemiebene Geſellſchaft feiner früheren Um 
gangdgenofien aufzufuchen wuͤnſche, daß er fid 
ihnen aber fremd geworben glaubte, Und ohne je 
ein Wort des Rathes oder des Beiftandes für ihn 
audzufprechen, wußte fie ihm zu Huͤlfe zu kommen. 

Der Menſch, als ein Theil der foge 
nannten Geſellſchaft, ift ein Product, das fih 
felbft zu Markte bringt, Er hat feinen Preis 
wie alle anderen Dinge, feinen fteigenden und fal 
lenden Werth. Was wir viel verlangt fehn, 
wird und begehrenswerth. Und kaum fah man 
dad alte Verhaͤltniß engften Verkehres zwifchen 
der allgemein verehrten Frau und ihrem jungen 
Freunde ſich herſtellen, als ale feine frühes 
ren Verbindungen ſich ſchnell wieder anknuͤpf⸗ 
ten. Schon nach wenigen Wochen hatte Erich 
das aufgegebene und halb verlorene Terrain zu 
rückerobert, ſah er ſich wieder als den Günft 
ling der Mütter, als den geſuchteſten Verehrer 
ihrer Töchter. 

Eine neue LXebendluft, wie nady einer Krank⸗ 
heit, welche den Gebrauch unferer Fähigkeiten 


301 


war damit über ihn gefommen, Es war 
18 finde er ſich nad bangem fchwerem 
wieder, Niemals war er beiterer, liebens⸗ 
e geweien, ald in biefem Augenblide, 
e Freude an feiner Wohlgeftalt, Freude 
er gefelligen Gewandtheit, an feiner Bil 
an feinem Wiffen und eine faft übermüs 
iſt in dem Gefühle, alle Vorzüge feiner 
und feiner Stellung wieber ungejchmälert 
machen zu können, obfchon er es fo lange 
en hatte, fie zu benugen. Denn aufgeben 
ſich müffen um Reginen's Willen, aufges 
ste er fich nach feiner Meinung neben ihr, 
uf es ihm, daß er ihren Geift gebilbet, 
If es, daß fie fi) mit dem ganzen Ernite 
tur bemüht hatte, ſich Kenntniffe zu erwerben, 
zu verftehen, ihm zu genügen? Ihre dank⸗ 
ebe, ihre tiefe ftile Verehrung für ihn, 
ym nicht den Reiz immer neu befriedigens 
Ifeit, und er hatte fich gewöhnt ihn zu 
» Der Beifall der Geſellſchaft war ber 
deſſen er bedurfte, wollte er willen, was 
wollte er fich feiner Vorzüge erfreuen. 


302 








Seine Erfolge hatten ihn für einige Zeit and 
in Reginen’d Nähe heiterer gemacht. Er hal J 
Luft daran gehabt, fie ihr zu fchildern. Ihe 
bemüthige Freude, daß fie ihn, den Bielbegehrten, 
doch allein befige, war ihm wohlthuend geweim. f 
Mehr und mehr aber war ihm bie Geſellſchaft 
wieder unentbehrlich, die Einſamkeit mit ver Ge⸗ | 
liebten ermübdend geworben, und fchon feit vielen f; 
Wochen hatte er feinen Abend mehr bei ihr verlebl. 

Anfangd hatte fie ſich darüber fanft beklagt, 
dann war ihr Stolz erwacht und fie hatte fih 
gelobt zu ſchweigen. Indeß der Stolz hält nicht 
Stand vor den Dualen der Eiferfucht, weil fit | 
das Seldftgefühl vernichtet, in dem er wurzelt. 
Die täglichen Beſuche bei Frau von MWerbed, 
das Lob, welches Erich ihrer Tochter fonft ge 
fpendet, und das er jet nicht vor Regine auszu⸗ 
fprechen wagte, hatten ihren Argwohn rege ger 
macht. Ihre Einfamfeit hatte ihr Zeit ge 
lafien ihn zu nähren, und die Heiterfeit ober 
ber Mißmuth, mit denen Erich fpät in feine 
Wohnung zu ihr heimzufehren pflegte, waren für fie 
gleich entmuthigend und unheilverfündigend geweſen. 


— 


11 


303 


verzagtes Schweigen, ihre leidenfchaftlis 
‚gen wurden ihm zur Dual, Er ſcheute 
ihre allein zu fein, und bie Ruhe, bie 
Anterhaltung, deren er im Haufe feiner 
ı fiher war, machten ihm baffelbe nur 
rther. Auch an diefem Abende hatte er 
n Meg in’d Freie eingefchlagen, ald er 
hritte bald wieder nad dem Thore zurüd 
a8 hin zu Frau von Werbe führte, 
timmt ging er durch die menfchenbelebten 
. Reginen’d und Sidoniens Bilder dräng« 
ihm wechſelnd vor die Seele. Er Flagte 
die Liebe der Erftern nicht genug zu 
ı und zu fchonen, er tabelte fih, die 
wachjende Neigung der Letztern zu naͤh⸗ 
ber das erfte Unrecht begann ihn allmäh- 
ter zu dünken ald das zweite, 
or, der ich war!” fagte er fih, „an bie 
jung einer Leidenfchaft ein Stück meines 
meinen Ruf zu feßen! Thor, der ich war, 
zu mir zu nehmen! mir ein idealed 2008 
bereiten zu wollen! Mein falfcher Ideas 
meine blinde Hingebung find von jeher 


304 





mein Verderben geweſen. Was hatte ein Maͤd⸗ 
hen wie Regine von mir zu fordern? Wels 
her Zufall war es, ber mich in der Jugend zu 
ihr führte, welch ein Leichtſinn, der fie mir ſpaͤter 
in die Arme warf, ohne daß ich es gefucht hatte? 
Es waren zweideutige Berhältniffe, in denen id 
fie beide Male fand.“ 

Obſchon er allein war, fühlte er die Roͤthe 
der Scham auf feinen Wangen brennen, ald er 
fi) mit folchen Waffen gegen die Unglüdliche ge 
wendet hatte. 

„Sie wird mich noch zur Selbftverachtung 
bringen!” rief er aus, „fie wird mich und fih 
verderben, bad unglüdfelige Weib!“ 

| Er hatte während deſſen das Haus der Frau 
von Werbed erreicht, und zog mechanifch bie Gle 
de. Ihr heller Schall fchredte ihn empor. Er 
fuhr mit der Hand über feine Stimme, athmele 
tief auf, ald wolle er fich befreien, und ließ ſich 
melden. 


— 


Vierzehntes Kapitel, 


Die Mutter war audgegangen und Eidonie 
n in dem Zimmer, befien belle und doch 
te Beleuchtung, deffen ganze Einrichtung, fo 
au er fie Fannte, ihm heute einen befonderd 
thuenden Eindrufd machten. Mutter und 
hter befaßen Beide jenen gebildeten Geſchmack, 
den unnügen Modefram zurüdweilt, fih an 
Einfache zu halten, das in feiner Schönheit 
Rüslichkeit die Gewißheit befigt, immer ans 
ehm und zwedmäßig zu bleiben. Die Möbel, 
he feit der Heirath der Frau von Werded 
t gewechfelt worden waren, bie alten engli- 
n Kupferftiche, die ererbten großen otspout—⸗ 


Vandlungen. II. 





306 
















ris, die man alljährlidy mit benfelben Ingredien⸗ 
zien füllte, die zahlreichen Dels und Miniatur 
Gemälde an den Wänden und auf den Tiichen, 
mit denen die ganze Familie portraitirt war, gaben 
der Einrichtung einen Stempel ruhigen Beſtehend, 
friedlichen Waltens. | 

Eidonie ftand vom Schreibtifche auf, den Gaft zu 
begrüßen, und räumte, während fie mit ihm ſprach, 
einige Bapiere und Fleine Bücher zufammen, „Ich 
bin Mama's Eaffirer,* fagte fie, „und habe Rede 
nungsabſchluß gemacht für diefen Monat. Wob 
len Sie mir no fünf Minuten Zeit laffen, fe 
bin ich fertig und brauche nicht noch einmal bem- 
anzugehen.“ 

Es lag etwas haͤuslich Behagliches in der Ev 
ſcheinung ded Mädchens, wie es in dem fchlichten 
Taffetkleide, die Fleine gleichfarbige Schürze u 
die Taille geſchlungen, rechnend und ordnend dis 
faß, während Alles um fie ber Gefchmad und ſau⸗ 
bere Schönheit athmete. Und die Sorglichkeit, mi 
der fie dazwifchen fi) ab und zu mit ihrem Ga 
‚zu bejchäftigen wußte, ihın dad Warten zu verkürzen, 
machte, daß fie ihm doppelt angenehm erfchien. 


307 


ALS fie geendet hatte, die Geldfchälchen und 
Bücher verfchloß und ihn bat, die Säumniß zu 
entichuldigen, fagte Erih: „Hier in diefem Zim- 
mer fönnte ich viele Stunden warten, ohne mid) 
zu beflagen. Es ift eined der wenigen, die für 
mich zu einem lieben, feftftehenden Begriffe gewor⸗ 
ben find. So wie ed heute ift, fo habe ich «8 
fennen lernen, als ich, ein vierzehnjähriger Knabe, 
zum erften Dale mit meinen Eltern in die Reſidenz 
fam. Diefe Scenen aus Hamlet, dieſer Romeo 
an Yuliend Sarge, diefe Miftreß Siddons, haben 
fih mir damals fo feft eingeprägt, daß ich die 
Perfonen der Shafeipear’jchen Dichtungen fpäter 
immer nur in biefer ©eftalt zu fehen vermochte, 
und fo oft.ich feitvem nad) Berlin gekommen bin, 
ift es mir ſtets etwas hoͤchſt Wohlthuendes ges 
weien, bier Nicht von allen den Gegenftänden 
zu vermiflen, die mir vertraut geworden waren,” 

„Sch verftehe das vollfommen,“ entgegnete' 
Eidonie, „und habe ſchon von vielen unferer 
Freunde ähnliche Aeußerungen darüber gehört. 
Auch kann ich mir gar nicht denken, wie ich ohne 


oder außer diefer Umgebung dauernd leben ſollte!“ 
20* 


_ 308 


Sie fuhr bei diefer Bemerkung ruhig fort an 
einer Stiderei zu arbeiten, bie fie zur Hand gP 
nommen hatte, aber Erich fühlte fich von ihren 
Morten betroffen, 

„Denkt denn Ihre Mutter daran, dieſe Wok 
nung zu verlafien?” fragte er. 

„Wie kommen Sie darauf, lieber Erich?" 

„Weil Sie es fagen!“ 

„DO, bewahre! diefe Wohnung ift ja hiſto⸗ 
rifh mit Mama verwachſen!“ rief Sibonit. 
„Mich daucht, nur eine fürmlicdhe Weltummälzung 
fönnte fie aus derfelben vertreiben. Denn Sie willen 
ed ja, Mama und ich find höchſt confervativ!“ 

„Und bin ich es denn nicht?“ fragte Erich. 
„Sagt Ihnen meine Vorliebe für diefes Zimmer 
nicht, wie theuer und ehrwürdig das Dauernde 
mir it? — Es liegt auch etwas Bannendes, ein 
wunderbar poetifcher Zauber in alleın naturwuͤch⸗ 
fig Gewordenen. So oft ich in einen jener Säle 
getreten bin, in denen PVeränderungsluft und 
Prunkſucht aljährig dad Neuefte und Koftbarfte 
vereinen, in denen Alle, vom Kronleuchter bis 
zum Teppich, nach dem eben herrfchenden Mode 


N 






309 





von einem “Decorateur zufammengeftellt ift, 
nidy ein Unbehagen überfallen, wie man es 
nem Eifenbahnhofe, in einem Hotel empfin- 
Die ganze LXeerheit, dad Nomabdenhafte, 
hrene, des jegigen Lebens traten mir dann 
ie Seele. Ich habe mich gewundert, wenn man 
auch die alten Bamilienportraits befeitigt hatte, 
fie nicht nad) der Mode angezogen waren. 
smal habe ich aus folcher Umgebung an 
3 Zimmer zurüd denken müflen, und mid) 
ut, daß bier Alles fo unverändert ift, baß hier 
Ihr lockiges Kindergefiht von den Waͤn⸗ 
wie damals herab fieht, daß felbit nody daß 
schränfchen mit Ihren Wachspuppen in der 
ſteht!“ 
Sr hatte mit großer Wärme geſprochen, Si⸗ 
: ihm mit ftiller Freude zugehoͤrt. „Und doch 
Ihre Wohnung im neueften Gefchmad einge, 
t fein!” fuhr fie nun plöglic heraus, 
‚Wer fagt Ihnen das?" fragte er fchnell, 
‚Mein Mäpdchen, das Ahnen heute die Bücher 
Mama zurüdgebraht hat!“ antwortete fie, 
Beide errötheten wor einander, 


Li 


{ 


310 


Der Gedanke, daß jene Dienerin Regine ge- 
fehen, daß fie fowohl von ihr als von der Woh— 
nung dem Fräulein gefprochen haben koͤnne, drängte 
ſich Erich quälend auf. Ein Gefühl zormiger 
Befangenheit Fam über ihn. Er hätte Sidonie 
um Vergebung bitten, und fie doch tadeln mögen, 
daß fte den Berichten einer Kammerjungfer iht 
Ohr geliehen hatte. Aber das fühlte er immer Elarer, 
ihr Mißfallen war ihm ſchmerzlich, ihre Zuſtim⸗ 
mung ein Genuß, um ihrer Einfachheit und Wahrs 
beit willen. Se beutlicher er fich deſſen bewußt 
ward, um fo fchmerer fiel es ihm auf's Herz, daß 
Sidonie davon gefprochen, wie hart ed ihr fein 
würde, bie ihr theuere Umgebung entbehren zu 
muͤſſen. Sie konnte das nicht abfichtslos ger 
fagt haben. Es mußte fid) um eine Bewerbung 
handeln, der zu folgen ‚fie geneigt war, weil fie 
ihm mißtraute. Diefe Möglichkeit verftimmte ihn. 

Er ward zerftreut und ſchweigſam, und feine Ge: 
brüdtheit hatte fich auch Sidonien mitgetheilt, ald 
bald darauf die Mutter mit ihrem Bruder, einem 
penfionirten Generale, aus einer Borlefung nad) 
Haufe Fam, 


8 





311 


ebder die Mittheilungen der Einen, noch die 
idelbare Heiterfeit und Derbheit ded Ans 
zogen Erich von jeinem Grübeln ab, Er 
e die Vorſtellung von ber wahrfcheinlichen 

‚heirathung Sidoniend nicht los werden, die 

ipfindung nicht unterbrüden, daß er in biefem 

jdchen eine ihm zufagende Lebendgefährtin durch 
ve eigene Schuld verlieren werde, Vergebens 
ang er fid) zur Unterhaltung, er war und 
eb auffallend zerftreut, fo daß, Sidonie ihn 
lich fragte, woran er denfe? 

„An die grilfenhaften Wege unfered Lebens, 

f denen wir und von dem Guten entfernen, 

lches das Schickſal uns beftimmt zu Haben jcheint! ” 

Das Fräulein fah ihn betroffen an. „Wie 
nmen Sie darauf? Davon war ja nicht bie 
ede!“ meinte fie. 

„DO!“ rief Erich, „rechten Sie nicht mit mir, 
ihelten Sie mich nicht zerftreut. Wüßten Sie, 
was mic befchäftigt, Sie würden Nachſicht mit 
nir haben.“ | 

„Nachſicht?“ wiederholte fie theilnehmend und 
zleichſam Erklärung fordernd, 





‘ 312 


Er antwortete nicht darauf. „Die Frauen 
find beneidenswerth,* rief er, „weil ihr befchränfs | 
tered 2008 fie meift vor Irrthum und Conflicn 
behütet.” 

Aber diefer unmwillfürliche Ausruf hatte mehr 
verrathen, als er felbft gewollt. Indeſſen er de 
reuete es nicht, objchon er fich des Vortheils, den 
er dadurch über Sidonie gewonnen hatte, in die 
ſem Augenblide nicht bewußt war. 

Sidonie jedoch fühlte fich plöglich in einem 
ganz veränderten Berhältniffe zu dem Freunde 
ihrer Mutter, zu dem Gefährten ihres täglichen 
Lebend. Sie war feine Vertraute geworden, ff 
hatte ihr fein Geheimniß enthüllt, fein Leid ver 
tathen, ihre Theilnahme begehrt, Wortloß reichte 
fie ihm die Hand, er hielt fie in der feinen und 
ließ fie dann mit fohnelem Drude los. Als e 
fie .anblidte, fchien es ihm, als füllten ſich ihr 
Augen mit Thränen, indeß fie wendete fich fchnell 
vorn ihm ab, und vermied ihn den Reſt de 
Abende mit einer ihr ganz fremden Scheu, 
Das vermehrte feine Befangenheit. Auch Sidonie 
Ward einfilbig und fehweigfam, und früher als es 


313 


eichah, brachen Erich und der General an 
Abend auf. 
8 fich die ‚beiden Männer auf der Straße 
en, nahm der General ven Arm feines juns 
jegleiters, ftüßte ſich vertraufih auf ihn 
‚agte: „Was haben Sie denn heute mit dem 
hen gehabt? Sie fcheinen ja Beide ganz 
dem Haͤuſel.“ 
„Ich trug allein die Schuld davon!” antwor⸗ 
Jener. „Ich war verſtimmt zu Frau von 
deck gekommen, und ſelbſt Sidoniens immer 
he Liebenswuͤrdigkeit vermochte den Dämon 
: zu bannen, der mich plagte!” 
‚Dämon |!" wiederholte der General, und fügte 
t lachend Hinzu: „die Welt ift jetzt fo gebildet 
den, daß fie fich eine ganz neue Sprache 
ıden hat. Ich ſehe aber nicht, daß fie weſent⸗ 
dadurdy gewinnt! * 
‚Was meinen Sie damit?” fragte Erich bes 
bet, 
‚sh meine — — benn einmal muß es 
grade heraus gejagt werden, und wer foll es 
en jagen, wenn nicht ein alter Freund Ihres 


a 


314 


Vaters, der Sie von Kindesbeinen an gekannt 
hat — ich meine, Sie müſſen machen, daß Sie 
aus der Affaire heraus kommen!“ 

Erich fuhr zuſammen. „Herr General!“ rief 
er, „was berechtigt Sie — — * 

Der General ließ - ihn nicht zu Worte Toms 
men. Er drüdte Erich's Arm an fi und fagte: 
„Rur feine Uebereilung, Erich! Ich meine es gut 
mit Ihnen, und es ift ja auch die einfachfte Ge⸗ 
fchichte von der Welt. Wer hat denn nicht ein 
Mal einen ähnlichen Handel gehabt? In meiner 
Jugend beim Regiment Gensd'armes - find andere 
Dinge vorgegangen! Wer alt werden will, mein 
lieber Junge! der muß jung, und um Flug zu 
werden, muß man ein Thor gewefen fein!“ 

Sp beftürzt und verlegt Erich ſich bei den er: 
ftien Worten des Generald gefühlt hatte, that es 
ihm im Grunde dennoch wohl, dad Eis gebrochen 
und endlich einmal eine Unterredung über dies 
BVerhältniß angefnüpft zu fehen. Und wie ein zag- 
bafter Schwimmer zulegt aus Scheu vor dem er: 
ften Schritte fih mit zugebrüdten Augen kopf— 
über in das Wafler ftürzt, fo fragte Eric: 


315 


ıben Sie, daß Ihre Nichte um dieſes Ver⸗ 
B weiß?“ 

Sidonie ift ein und zwanzig Jahre und 
:auenzimmer, lieber Erich!“ antwortete ber 
al, „und Sie haben nicht hinter dein Berge 
en mit Ihrer Liaifon. Das Mädchen war 
unfihtbar an Ihrer Seite, weder im Thea⸗ 
yh im Magen!“ 

sch "brauchte meine Freiheit!“ fagte Erich, 
H wieder gegen den Tadel auffahrend. 

azu hatten Sie ein Recht, ein volled Recht, 
Freund! Aber fo ift. Die Jugend jest, fo 
e Zeit!" rief der General. „Das kommt 
uren verdammten Ideen. Da ſchwatzt Ihr 
' 108 von Emancipation, von freier Xiebe, 
uch einmal ein bübfches Geſicht in ben 
läuft, und Ihr flatt ſolchen Handel abzus 
7, wie ed fich gebührt, gefühlvol an bie 
Glocke fchlagt und die Sache au grand 
x nehmt. Zu meiner Zeit fand man ein 
3 Meib auch fchön, aber man machte ſich 
langen Roman und Fein heroifches Bewußt⸗ 
araus!“ 


316 


„Wer thut das?" fragte Erich. 

„Ihr Alle, und Sie vor Allen!“ meinte 
der General. „Was iſt's im Grunde für ein 
Heroisnus, ein Mädchen zu unterhalten? Dazu 
braucht man die neuen Lehren nicht, das Fonnten 
wir auch, und wir wußten ein Ende zu machen, 
wenn’d Zeit dazu war. Das iſt oft die größte 
Tugend. 

„Eine Tugend?“ wiederholte Erich. „Nennen 
Sie es eine Kunft — oder auch eine Herzend 
bärte, die mir fehlt!“ 

„Was da Herzenshärtel Man muß die Sadıe 
nur recht anfangen! Wenn man einen Bogel ein- 
mal doch nicht dauernd behalten fann, muß man 
ihn fliegen lafien in der Sommerzeit. Was fol 
aus folhem Mädchen werden? — Gebt ift fie nod) 
hübſch und jung, ftatten Sie fie aus, fehen Sie, 
daß fie einen honetten Mann befommt, dann find 
Sie quitt vor Gott und vor der Welt, und dann 
nehmen Sie fih eine Frau, Es wäre Ihrem 
Vater wohl zu gönnen, daß Sie wenigftend end 
lich eine vernünftige Heirath machten, nad) den Fata⸗ 
litäten mit Ihrem Bruder und mit Ihrer Schwefter!“ 


317 


Erich war in allen feinen Empfindungen vers 
undet, und fühlte fich doch waffenlo8 gegen dem 
agriff. Daß man die Bamilienverhältniffe feis 
8 Vaterhauſes beklagenswerth, daß man fie 
ner ehrenhaften Neuerung bebürftig fand, ers 
iff und ſchmerzte ihn tiefe. Es überlief ihn Kalt 
i dem Gedanken, daß ein Mann zu ihm in 
(cher Weife von Regine ſprechen, daß Jemand 
: fi) als den Beſitz, als das Weib eined Ans 
m denken, ihm zumuthen fönne, Regine dem 
ften Beften in die Arme zu werfen, der niebrig 
mug bädhte, für Geld ihre Schande mit feinem 
amen zu bebeden. Seine Eiferfucht, fein Ehrges. 
bi flammten auf, feine Liebe entzündete fich daran. 

„Wir verftehen einander nicht, Herr Gene 
1! fagte er ſtolz und kalt. „Ich will gern 
auben, daß man foldye Verhältniffe beim Regi⸗ 
ent Gensd'armen fehr leicht abzubredyen wußte, 
) aber werde ein Mädchen, das ich liebe, nicht 
if entehrende Weife von mir ftoßen.“ 

„Sie lieben fiel” rief der Baron nicht ohne 
Pott, „ja dann iſt's etwad Anders! Wer vers 
ngt dad au, wenn Sie fie lieben? — Nur,” 


fügte er nach einer kleinen Pauſe plößlich in ganz 
verändertem Tone hinzu, „nur geben Sie dann 
das liebe, treffliche Kind, die Sidonie, auf. Meine 
Schweſter hat ed nicht um Sie verdient, Heidens 
brud, daß Sie ihr dad LKebendglüd ber einzigen 
Tochter untergraben. — Das wollte ich Ihnen 
zu bedenken geben, Heidenbruf! und nun gute 
Nacht! Gute Nacht! Hier find wir ja nahe an 
Ihrer Wohnung!” damit reichte er ihm bie Hand 
und trennte ſich von Erich, der vor der Gerech⸗ 
tigfeit ded Tadels fich verfiummen fühlte, 
Sidonie unglucklich! unglüdlich gemacht durch 
mich!” wiederholte er gedankenvoll. „Alfo Liebt fie 
mich, alfo wünfcht die Mutter unfere Ehe! und wie 
würde mein Vater grade dieſer Heirath fich erfreuen? 
Er dachte ſich Sidonie zum erften Male als 
fein Weib, als feine Hausfrau. Der ganze Zaus 
ber des eigenen Bamilienlebend tauchte vor ihm 
auf. Er mußte fidy vorftellen, wie edel ihre Ge⸗ 
ftalt, wie würbdevol ihr Weſen, wie fte recht 
eigentlich gefchaffen fei, die Ruhe, den Frieden 
eined Haufed zu begründen, und voll von biejen 
Bildern langte er in feiner Wohnung an: 


319 


ı faß Regine! — Sie fuhr zufammen, ale 
tat, und erbleichte. 
Bas ift geichehen?” rief fie und fprang er- 
n auf. 
Heſchehen?“ wiederholte er, „wie kommſt Du 
Frage?“ 
Du kommſt fo früh!“ ſagte fie noch immer 
oll. 
rich ſchauerte zuſammen, ein unausſprechli⸗ 
Mitleid erfaßte ihn. Kein Vorwurf, keine 
aus Reginens Munde hatten ihn je ſo 
ewegt. Er hatte an ſeine Zukunft, an Si⸗ 
18 Gluͤck gedacht; aber fie auch, Regine auch, 
eine Zukunft von ihm zu fordern. 
r hatte ihre Hände gefaßt und ſtand ſprach⸗ 
or ihr. Die Schönheit und die Wahrheit 
Wefens ergriffen ihm mit ihrer alten Kraft. 
Weib, das ihn geliebt, an ihn geglaubt, 
ihn gehofft feit den Tagen der Kindheit, 
bürgerliche Ehrlofigfeit er, er allein verfchuls 
das Niemand hatte auf der weiten Welt als 
Hein, das Weib follte er verftoßen? 
Nimmermehr!“ rief er aus, und zog fie mit 


320 


Leidenichaft in feine Arme, aber Regine wehrt 
ihn mit fanfter Bewegung von ſich ab. 

„Regine!* fragte er, „wad bedeutet dad?“ 

„Laß mich, laß mich! ich flehe Dich darum," 
antwortete fie ihm mit einem Ausdruck der Angf 
und Trauer, den er fich nicht zu deuten wußte 

„Laß mich, Erich! * 

„Und das grade jest, in biefer Stundet“ rief 
er, „iest, da ich meine Zukunft von mir fchlew 
derte, um — —“ 

„Sprich nicht! um Gottes Willen fprich nicht 
weiter!“ fiel fie ihm heftig in das Wort. „Du 
würbeft e8 bereuen, wie Du bie Bergangenbeit 
bereuft! — Und ich bin elend genug, auch ohne 
diefe Schmach!“ 

Erich erftarrte vor ihren Worten, mehr nod 
vor dem büftern Ausdruck ihrer Etimme, ihre 
Züge Maͤchtig und traurig wie fie vor ihm 
fand, fchien fie ihm fremd geworben, und bod) 
liebte er fie in diefem Augenblicke wahrhaft. Die 
Berachtung, mit welcher der General von ihr ge 
ſprochen, hatte fie ihm ‚heilig werden laffen. Er 
hätte fie befchüßen, fie behüten mögen, aber es 





321 


i, als habe er die Macht dazu verloren, 
fte fie feines Schutzes jegt nicht mehr. 
d wir denn nicht biefelben?“ fragte er 
en. „Was iſt geichehen Regina! feit ich 
ging? was hält Did) befangen?“ 

hob fie ihre Arme mit langfamer Bewe⸗ 
wor, preßte ihre Hände gegen die Stirne, 
e tonlos: „Die Selbftveracdhtung, die Du 
te aufgeladen! “ 

tt im Himmel!“ rief er und riß fie an fein 


; mich, * wiederholte fie, „auch Dir bin 
log!“ 

gelähmt ſanken feine Arme herab, und 
verließ dad Zimmer. 


Hungen. II. 21 





Fünfzehntes Kapitel, 


Georg's legte Tage im Vaterhauſe waren di 
fhönften geweien, welche er und der Baron m 
einander verlebten. Der Gedanke, fih nun für lanı 
von dem Bater zu trennen, hatte Georg mit d 
Stunden und Minuten geizen laffen, die er nt 
in feiner Nähe zu verweilen hatte; das Bewu 
fein, jegt frei und felbftftändig zu werben, hatte if 
die Unterordnung leicht, ja füß gemacht. U 
ein Knabe war der Mann dem Bater überall € 
folgt, jeder Dienft, den er ihm erzeigen konn 
war ihm mehr noch als je zu einer Luſt gemworbe 
und mochte der Baron innerlich den Lebensw 
noch immer einen unangemeffenen fchelten, d 


323 


nant zu gehen befchloffen hatte, er Eonnte 
iger nicht verbergen, daß Georg für die 
des Soldatendienftes nicht gefchaffen 
i. 
Rorforge, mit welcher er ſelbſt dem 
npfehlungen an bie erften Handeldhäus 
ädte zu verfchaffen beflifien war, in bes 
ıf feiner Reife längere Zeit verweilen 
Schonung, mit der er jegt, da ber Ent- 
st, fich jedes Tadels, jedes Bedauerns 
Iben enthielt, erregten Georg's Dankbar⸗ 
einer Stunde vertraulicher Unterhals 
: er mit Rührung dem Vater befannt, 
Kummer ed ihm von feiner Kindheit 
ı fei, feine Zufriedenheit nicht erlangen zu 
ine Liebe nicht verftanden, feine Natur⸗ 
icht. von dem Vater beachtet zu fehen. 
nner hatten ein Gefühl der PVerfchuls 
n einander gehabt, Beide den Wunſch 
jergüten, und wie die Sonne im Herbfte 
tam erquidendften über die Erde breitet, 
warm verfchönte dies fpäte Verftehen mit 
: das leßte Beifammenfein der Beiden, 
21* 


324 


Am Abende vor der Abreife befanden fid 
Augufte und Georg noch allein in dem Zimmer 
Mit beobachtendem Auge fah der Letztere fich lang 
in den Räumen um, feine Blicke bafteten an ba 
einzelnen Gegenftänden, und jchienen bei jeden 
berfelben lange zu verweilen. 

Augufte bemerkte ed. „Was denkſt Du? obe 
was ſuchſt Du?“ fragte fie ihn, 

„Was ich fuche? was id) denfe? Ich dent 
mir den morgenden Tag und fuche mich in bie 
fen Räumen! * 

„Morgen? morgen wirft Du ja fort fein! 
antwortete fie feufzend. 

„Eben darum! Ich Fann mir nicht vorftellen 
wie ed morgen hier fein wird ohne mich. Unſe 
ganzed Weſen ift fo auf unfer Dafein in der Ge 
genwart geftellt, daß wir und kaum eine Zufunl 
ohne bafjelbe zu denfen vermögen — und ich wa 
body Jahre lang von hier entfernt." — Er ſchwie 
eine Weile, dann fagte er: „Damals lebte abı 
die Mutter noch, Helene, Erih, Richard ware 
im Haufe. Und nad ihrer Hochzeit gehen Go 
nelie und Pleſſen nun auch davon!“ 


325 


wird fehr einfam werden, wenn Du fort 
agte Augufte. 

br einfam!“ wiederholte er. „Ich darf es 
ſt denken, wenn id auf den Water blide, 
h bleiben koͤnnen, wie gern wäre ich ges 
* fagte er im Bewußtfein deſſen, was er 

ı Vater fein könnte. 
e Augufte, ftetS eben fo bereit fich felbft 
‚en, als Georg zu rechtfertigen, wenn ihr 
and fih über feine Kälte nicht zu täufchen 
ochte, bezog die Worte nur auf ſich und auf 
Schmerz des Vetters, fih von ihr zu tren- 
Sie war gewaltthätig wie alle Frauen, bie 
Liebe ald ein Recht empfinden, welches dem 
bten Gegenftande Pflichten auferlegt, und bie 
niemald fragen, ob er ihr Recht und feine 
hten anerkenne? Sie hatte e8 Georg ald männs 
Feſtigkeit, ald Schonung gegen fie gedeutet, 
er feiner Reife, ihrer Trennung niemald ges 
fie gedachte, und gefchwiegen fo wie er. Sept 
da er klagte, ſchwoll ihr Herz hoch auf vor 
de und vor Leid, und mit plößlicher Bewe⸗ 
‚tief fie: „Ob ich das weiß, Georg? ob ich. 





326 





die Schmerzen dieſes Tages mit Dir theile? Aber 
fei unbeforgt, fo wie wir heute fcheiden, finden 
wir und wieder!“ 

Eie hielt ihm die Hand hin, er fehlug ein. 
„Jal“ fagte er, „Du wirft bier bleiben! ich zähle 
feft auf Dich! * 

„Bei Gott! dad kannſt Du auch! Sei 
Du nur treu!” rief Augufte und trodnete die 
Augen. 

Die Worte befchwerten fein Gewiffen. Eı 
hatte fich feit Monaten in ernſter Ferne von ih 
gehalten, und jene Liebeständeleien ſtreng vermieten, 
bie fich erlaubt zu haben, er bereute, Er hatte ge 
hofft, Augufte folle vergeflen, ſich zurechtgefunden 
haben. Sept ward er feines Irrthums, feines Un 
rechts inne. Er ſah, daß Augufte, die nahe an 
ihn herantrat und ihre Hand ihn auf die Schul. 
ter legte, feine Umarmung erwartete, aber er wollte 
feine Liebe heucheln, die er nicht empfand. 

„Liebe Augufte,” fagte er bewegt, „Du hafl 
mir Vieles zu verzeihen, ich fühle mich ſchuldig 
gegen Dich. DVergieb mir und vergig — — —“ 

Sie ließ ihn aber nicht zu Ende fprechen. 


337 


ef fie, „wie kannſt Du mir fo reden? 
tte ih Dir zu vergeben, wie follte ich 
ih, Georg! vergefien? Und wenn lange 
nd ferne Welten fich zwiſchen und legen, 
: Dein. Ic bin fehr treu, * 
tand ihr verlegen gegenüber, denn er hatte 
Muth, fie grade in diefer Stunde zu ent» 
und wußte doch nicht, was beginnen? 
der Diener ein, die ©eräthe fortzuneh- 
? Lampen audzulöfchen. Als er die Bei- 
im Zimmer ſah, wollte er ſich entfers 
er Georg zog die Uhr Heraus. 
ift wohl Zeit!“ fagte er, Auguſte übers 
It dabei. Er fah es, ed that ihm weh, und 
te fich vor ſich felber. 
ift zwölf Uhr, Herr Lieutenant!” ſagte 
ter, „und die Poſt fährt früh um ſechs!“ 
will ich gehen!“ rief Georg, „Du wirft 
de fein, Auguſte!“ 
[* antwortete fie, verfchloß den Thee, den 
ı den Schränfchen, und räumte verfchies 
icher und Kleinigfeiten zufammen, bie 
ftreut im Zimmer lagen. Es war eine 


328 






yeinlide Scene, He ichnürte ihm die Kehle 4 
unt einem ummiterfieblichen Zuge folgend, tal 
er u Anguiten bin, faßte fie um, füßte fie und 
ĩagte ihr: „Schlaf wohl, ſchlaf wohl! Du bi 
wuteatmal beiter als ich!“ 


zu neuen Hoffnungen ermutbigt, ſchlief M 
unter füßen Thränen ein, während Georg vol 
Zeorwürfen gemartert, vergebens den Schlumm 
und mit ibm Bergefienheit erwartete. 


Sehzehntes Kapitel, 


nenn 


riedrich hatte verfprochen den Scheidenven 
u der erften Station zu begleiten, bis zu 
er der Wagen feined Vaters ihn bringen follte, 
er fchönften Sommerfrühe brachen fie auf. 
Sonne funfelte ihnen entgegen, als fie das 
verließen und in's Freie blickten, aber ihre 
n waren beflommen und fie fprachen wenig. 
fie dann bie Fleine Schenfe erreichten, in ber 
h zuerft gefehen hatten, erinnerte Georg den 
d an ihr damaliged Begegnen. 

sh habe mich felbft ſchon daran mit einer 
'hümlichen Empfindung erinnert;” antwortete 
Friedrich. „Es war einer der bitterften Tage 


330 


meines Lebens! Die Zeit iſt vorüber gegangen, 
der wilde Schmerz, welcher mich damals bewegte, 
bat ſich in Trauer aufgeloͤſt. Ich bin ruhig ge 
worden, indeß eine rechte Freude habe ich nie wies 
ber gekannt.“ 

Georg ſprach ihm feine Verwunderung bar 
über aus, und fragte bann plöglid: „Sage 
mir offen, liebft Du Helene denn noch immer, 
obihon fie Dir feit fo langen Jahren verloren 
iſt?“ 

Friedrich ſchwieg eine Weile, dann ſprach er: 
„Ja! ich liebe fie noh! — Das mag Dir fon 
berbar fcheinen, und doch ift es fo. Ich müßte 
ja ein Thor fein, hegte ich noch Wünfche und 
Hoffnungen in Bezug auf fie! das ift Alles längft 
begraben, aber — —“ 

„Aber?“ fragte der Andere, 

„Sie ift für mich fo unvergleichlich, fie fteht 
fo einzig in meiner Erinnerung da, daß ich, fo 
oft ich an Liebe, an Ehe denfe, immer an Helene 
denfen muß, und daß Fein anderes Weib mir 
jemald einen lebhaften Eindrud zu machen vers 
mocht hat!“ 


331 


Und Du baft alfo nicht vor, Di einmal 
erheirathen ?“ 
zriedrich ſah ernfthaft vor fih hin. „Daran 
ich fogar oft gedacht und befonders jeit in 
der Plan feftfteht, auf's Land zu gehen. 
ß ich müßte mir wirfli eine Frau juchen, 
man eine Magd auswählt. Bon allen Mäd- 
bie ich Eenne, zieht mid) Feines an, Sie 
eben Alle nicht Helene!” 
sn dieſem Augenblide hatten fie einen Zug 
er Handwerfögefellen überholt, bie fingend 
ı Yortwandernden das ©eleite gaben. 
56 war ein Fräftiger fchlanfer Gefell, und fo 
ter er auch in das Wanderlied mit einftimmte, 
innte man ihm doch an den Augen anjehen, 
er geweint hatte. 
Werft Euren Ranzen in den Wagen!” rief 
g ihm zu, nachdem er dem Kutfcher zu halten 
len; „bis zur nächften Station kann id) ihn 
mir nehmen!” 
Solched Vorſchlages ungewohnt, ftugten die Ges 
‚und der Wanderer fchien nicht zu wiſſen, was 
8 der Sache machen follte. Georg merkte Das, 


320 


Leidenfchaft in feine Arme, aber Regine wehrte 
ihn mit fanfter Bewegung von ſich ab, 

„Regine!“ fragte er, „was bebeutet das?" 

„Laß mich, laß mich! ich flehe Dich darum, * 
antwortete fie ihm mit einem Ausdruck der Angft 
und Trauer, den er fi nicht zu deuten wußte. 

„Laß mich, Erich!“ 

„Und das grade jebt, in diefer Stunde?" tief 
er, „iest, da ich meine Zukunft von mir fehleu- 
derte, um — —“ 

„Sprich nicht! um Gottes Willen fprich nicht 
weiter!“ fiel fie ihm heftig in das Wort. „Du 
würbeft e8 bereuen, wie Du die Bergangenheit 
bereuft! — Und ich bin elend genug, auch ohne 
diefe Schmach!“ 

Erich erftarrte vor ihren Worten, mehr noch 
vor dem duͤſtern Ausdruck ihrer Etimme, ihrer 
Züge. Maͤchtig und traurig wie fie vor ihm 
ftand, ſchien fie ihm fremd geworden, und doch 
liebte er fie in diefem Augenblide wahrhaft. Die 
Verachtung, mit welcher der General von ihr ges 
fprochen, hatte fie ihm ‚heilig werden laſſen. Er 
hätte fie befchügen, fie behüten mögen, aber ed 


321 


m, ald babe er die Macht dazu verloren, 
ürfte fie feines Schutzes jet nicht mehr, 
nd wir denn nicht diefelben?* fragte er 
im. „Was ift gefchehen Regina! feit ich 
ir ging? was hält Dich befangen?“ 

hob fie ihre Arme mit langfamer Bewe⸗ 
‚mpor, preßte ihre Hände gegen die Stirne, 
ıgte tonlos: „Die Eelbfiveradhtung, die Du 
:ute aufgeladen! 
zott im Himmel!* rief er und riß fie an fein 


aß mich,* wiederholte fie, „auch Dir bin 
ehrloß! “ 

ie gelähmt ſanken feine Arme herab, und 
: verließ das Zimmer. 


ndlungen. I. 21 


334 


Handwerker, ben fein Rängel druͤckt, wirb es nicht 
ablehnen, wenn ein Anderer, ber neben ihm hergeht, 
ihn fragt: „Kann ich helfen?" Kein Armer weis 
gert fid) von feinem armen Nachbar Beiftand zu 
empfangen, denn unter ihnen herrfcht bie Gegen 
feitigfeit, die, ohme glei den Dank abtragen zu 
wollen, ficher ift, früher ober fpäter ben geleifte 
ten Dienft vergelten zu können. Ihr aber behan- 
delt, wenn Ihr gut gelaunt feid und großmüthige 
Anwandlungen habt, den Arbeitenden als einen 
Bettler, der froh fein muß, die Gabe Eurer Will 
für zu empfangen, und fo beleidigt Ihr, ftatt 
wohlzuthun] 

Georg fühlte, daß ber Freund Recht Habe. 
„Das ift die verdammte ariftofratifche Erziehung,“ 
fagte er ärgerlich, „von der ſich unfer eins, von 
ber fich felbft ein Mirabeau nicht los zu machen 
wußte! Es ift das alte: „Mirabeau, depute, 
Marchand de draps et puis Marquis!“ das 
man ihm als ein Zeichen der Freijinnigfeit 
ausgelegt hat und das mir immer ald eine feiner 
ariftofratifchften Aeußerungen erfchienen if. Um 


ſiehung ift unfer Unglüd, aber ich werde 
iß fie befiegen lernen! Du haft Recht!“ 
u haft e8 auch leichter in unferer Zeit, 
n es damals hatte, und glaube mir, Du 
ı Dir viel an richtiger Werthfchägung der 
en gewinnen, wenn Du nur erft in Deinen 
Gemohnheiten, in Deiner Sprache unb 
iem Verkehr mit ihnen die üble Gewohns 
egft, Die Standesunterfchiede zu bezeichnen. * 
ie ic) das jemals?“ fragte Georg. 
urchgehend thuft Du es, thun es die Mei« 
ter und. Wer giebt Dir das Recht, einen 
° mit „Ihr“ oder „Du“ anzufpredhen, da 
„Sie" nennen muß? Wie fommft Du 
hm die Anrede „mein Herr“ zu verfagen, 
Jedem gewährft, der einen Brad und feine 
rägt? Und würbeft Du fchließlidy einem 
jehenden Studenten ober einem fremden 
in unferer Kleidung bdaffelbe Anerbie— 
diefem Gefellen zu machen gewagt haben? 
nicht Jeder von und Deinen Vorſchlag, 
r Weife gethan, eben fo zurüdgewiejen 


336 





Georg räumte dad ein, und Friedrich fügte 
hinzu: „Verlaß Dich) darauf, wärft Du dem Ge 
fellen zu Buße begegnet, hätteft Du mit ihm, als 
mit Deines Gleichen eine Unterhaltung angeknüpft 
und ihm dann gelegentlich angeboten, fein Ränzel 
ein Ende zu tragen — oder wärft Du allein im 
Magen geivefen und hätteft ihm gejagt: „Steigen 
Sie ein, Zwei zufammen find befler daran, ald 
Einer allein! " er würde das Alles dankbar ange 
nommen und fchnell und herzlich Zutrauen zu 
Dir gefaßt haben! * 

Der junge Baron gab dem Sprechenben bie 
Hand. „Du bift Deines Vaters Sohn," fagte er, 
„und wohl Dir, daß Du's bleiben darfſt in feis 
nem Sinne. Ich muß aufhören der Sohn mei 
ned Vaters zu fein, fol’8 Etwas werden mit 
mir!“ 

„England und vor allem Amerika werben 
Dir dazu verhelfen!" meinte Friedrich, und fie 
faßen dann fchmweigend bei einander, bis Georg 
nach einer Weile anhob: „Du fagft, Du wolle 
aufs Land! Denfft Du die Univerfitätscarrier 
alfo aufzugeben?” 


337 





Ja, und zwar fobald als möglich! Ich fange 
ich mehr und mehr nad einer freien prafs 
Wirkſamkeit zu fehnen. Die Erfahrungen 
sten Zeit haben mich belehrt, wohin man 
er geiftigen Unterordnung unter eine Autoris 
religiöfen Dingen gelangen, wohin ed mit 
egoiftifhen Streben nad) einfeitiger Selbſt⸗ 
dung kommen kann. Auf der andern Eeite 
ine einzige, praftifche Thaͤtigkeit als Huͤlfs⸗ 
in der Schule gänzlih unfrei. Sch bin 
Ih an einen Xehrplan gebunden, ber mir, 
atlich in Bezug auf den Religionsunterricht, 
erſcheint. Welche Bereutung haben für 
bis vierzgehnjährige Kinder die mofaifchen Ges 
der die Dogmen und Myſterien des Chris 
ums? Und eine moralifche Einwirfung auf 
naben babe ich in meiner Stellung nicht!“ 
Aber Deine Eolegia, Dein Dociren machten 
och Freude! Du hoffteft viel davon!“ 
Sie machten mir Freude, ich hoffte viel das 
das ift wahr, allein — mir fehlt der 
yet“ 
Der Glaube?“ wiederholte Georg, 


Kungen. I. 


338 


‚Der Glaube an die Unfehlbarkeit meine 
Wiſſens,“ berichtete der junge Docent. „Mit 
aller meiner Arbeit, mit der Redlichkeit meine 
Forſchens komme ich nur immer mehr dahin, mie 
unfertig zu fühlen. Zweifelnd und im Kampfe 
mit mir felbft, ift es mir aber unerträglich, mid 
als unfehlhare Weisheit hinzuftelen und Draft 
zu verfünden, wo ich jelbft mich nur von Raͤth⸗ 
feln, von unvereinbaren Widerfprüchen befangen 
finde, und taufendmal habe ich den Wunſch bed 
Fauſt in mir wiederholt: „Daß ich nicht weht 
mit ſaurem Schweiß zu fagen brauche, was id 
nicht weiß!“ - 

„Sp Iehre Deine Zweifel!" fill ihm Georg 
ins Wort, „fie find ja fruchtbar! * 

„Hätte ich fie überwunden, wäre ich durch fie zur 
Klarheit gelangt, ich würde eine Lebenserfuͤllung 
darin finden, Anderen den gleichen Weg zu zeigen. 
Der in ber Irre Sudende darf ſich aber nidt 
zum Führer aufwerfen, ohne gewiſſenlos zu han 
deln,” wendete Friedri ein. 

„Und was wird fih in diefem Deinem Ems 
pfinden auf dem Lande, was ald Prediger än- 


39 _ 


‚ wo Du ja au als Lehrer aufzutreten 
Ich werde jedenfall die Möglichkeit finden, 
as zu nügen, auf bie Moral und auf das 
befinden der Pfarrkinder einzuwirken, wenn 
auch an mir noch zu arbeiten habe, um zur 
e zu gelangen. * 

‚Barum fprahft Du aber nie mit mir das 
7) 

„Ich mußte erft mit mir felbft zu einem Abſchluß 
nen. Mein Ehrgeiz, die Luſt mir einen Na- 
zu machen, Anſehen zu gewinnen, die Welt 
ehen, waren fehr mächtig in mir. Ich hatte 
u befämpfen, um zur Entfagung zu gelangen. 
Jetzt ift das gefchehen! “ 

„Was fol das heißen?“ fragte Georg. 
„Daß id) gelernt habe, mich zu bejcheiden und 
nad einer nüglichen Wirkfamfeit zu ftreben. 
ne Welt, ich fühle es immer deutlicher, wird 
fein, wie die Berhältniffe, in denen ich erwuchs. 
bat mich gefördert, daß ich nach Höheren, 
Berem ftrebte, gefördert durch fchmerzliche Erz 


ungen. Jetzt, da ich diefen Lebenserwerb in die 
23* 


340 


mir zugewiefene Enge tragen werde, bin ich ruhig i,- 


geworden und mit meiner Zukunft ausgeföhnt." 

Er ſprach das fehr beflimmt, aber der Ion I; 
feiner Stiinme und der Ausdrud feiner Züge wa 
ren traurig. | 

Sie hatten während biefer Unterhaltung bie J. 
Station erreicht, und fliegen nun aus, Biel: 
Schneltpoft zu erwarten. Erft jebt fehien Beiden h 
ber Gedanke der bevorftehenden Trennung zu fom 
men, obfchon ihre ganze Unterrebung auf dem 
Wege unmwillfürlich eine Vorbereitung dafür, ein J 
letztes Ausfprechen gewefen war. Beide ſchienen h- 
erft heute, erft in biefer Stunde zu empfinden, | 
wie nahe fie ſich ftanden, wie theuer - fie einande 
waren. Schweigend gingen fie vor dem PVofthauft ſ. 
auf und nieder, den Blid immer nad) ber Seit, 
zurücdwendend von ber bie Poft anfommen mußte ſ. 
Endlich, ald fie aus weiter Ferne ein Hom er 
Elingen hörten, fagte Georg gepreßt: „Ich bat, 
noch Etwad auf dem Herzen, was mich brüMf, 
und wobei Du mir helfen ſollſt. — Ich habe — Ja 
er unterbrach fich, fuchte nad) Worten und fprad fl, 
dann ſchnell: „Augufte wird troſtlos fein über mein J 





341 


fe — und fie ift fehr einfam. Kümmere Di 
ie! und fage ihre, wenn Du zurädkommft, 
ich Dich darum gebeten habe, * 

Verlaß Dich darauf, Georg!" 

Und fage ihr auch, daß ich fie für eins ber 
i, feldftlofeften Geſchoͤpfe Halte, die die Erbe 
— — Sobald ih in Ruhe bin, fchreibe 
Dir Alles. Stehe mir beit! Du allein 
tes. Sie hat Vertrauen zu Dir!" 

jriedrich Eonnte ſich in biefe Aeußerung nicht 
t, da er ftetö an eine heimliche Verlobung 
hen Augufte und .Georg geglaubt, indeß cr 
in diefem Augenblide feine Zeit zu fragen. 
Poſthorn fchmetterte näher und näher, bie 
»e wurden herausgeführt, um angefchirrt zu 
em. Der alte Kutfcher bed Barons, der bie 
ade bis hieher gefahren hatte, brachte den Man⸗ 
nd den Handſack feines jungen Herrn herbei. 
Poſt hielt. Ein Bekannter, der ſich in berfel 
befand, bog fich heraus, Georg feine Freude 
ver auszubrüden, daß fie die Reiſe bis zur 
ytftadt gemeinfam machen würden, und bie 
ı Minuten ſchwanden fihnell und wirt dahin, 


342 


Friedrich fah es, wie Georg fi in den Mantel 
huͤllte. Er hörte, wie er mit dem Conducteur vom 
Wetter und von ber Morgenfühle ſprach, wie tt 
auf die Frage, wohin er reife? „nach England!’ 
antwortete, — aber ed Fam ihm das Alles traum 
haft vor. Es that ihm weh und ließ ihn doch 
kalt, er wußte fich’8 nicht zu erklären. 

Da rief der Conducteur: „Einfteigen, meint 
Herren!“ 

Sriedrich fuhr zufammen. Georg fiel ihm um den 
Hals. „Ic, liebe Dich fehr, Friedrich! * ſagte er leiſe. 

Sie umarmten fid) noch einmal, dann ftieg er 
ein. Der Schlag ward zugeworfen, der Poftilen 
ſchwang die Peitſche, die Pferde zogen an, bet 
Wagen feste fich in Bewegung, und ein Paar Mi⸗ 
nuten darauf war er ben Augen bed Zurückblei⸗ 
benden entfchwunben. 

„Wie lange werde ich das treue Geficht nicht 
wieder ſehen!“ fagte Friedrih im Selbftgefpräd 
und wendete fi zurüd, Da ftand der alte 
Kutſcher und trodnete fich Fopffchüttelnd die Aus 
gen, ald wolle ihm die Abreife feines jungen Herm 
nicht in den Sinn, 


aß fon fchöner Offizier, daß unfer juns 
er nun partout Kaufmann werden muß!” 
e er vor fih Hin. Friedrich beachtete es 
ind ging auf und nieder, fich zu fanmeln.. 
: Stallfnechte führten die müben Pferde 
ıd fegten den Platz. Die Kellnerin trug die 
‚ aus denen ein Paar ber Paſſagiere 
en hatten, in dad Haus. Diefe ruhige 
iltige Thätigfeit hatte für Friedrich etwas 
ges. Er wünfchte den Ort zu verlaffen, 
; der Kutfcher um eine halbe Stunde Raft 
ve Thiere bat, machte fi) der junge Mann 
e auf den Weg, mit der Weifung, daß 
agen ihm folgen folle. 

mochte eine Wiertelftunde gegangen fein, 
der Gefellen anfichtig wurde, deren Gefang 
n früher gehört hatte, 

e Betrübniß des Scheidenden war vorüber. 
heiter und wohlgemuth aus, und feine Aus 
jauten hell vorwärts in die Weite, Als er 
ch erfannte, grüßte er denfelben, „Glück auf 
eg!” rief diefer ihm erwiedernd zu. 
nd heile Füße, daß er's einholen kann!“ 


344 


entgegnete einer der Begleiter, „dad Glück iſt ver⸗ 
flucht flink!“ Ale lachten, und waͤhrend ſie ruͤſtig 
fortſchritten, ſangen ſie aus voller Kehle: 


Welche Luſt, aus enger Stadt 

In die weite Welt hinaus marſchiren! 
Und zumal wer Nichts daheime hat, 

Kann gewinnen Viel und Nichts verlieren. 
Darum, Bruder mein, 

Laß uns luſtig ſein! 

Friſch hinaus, da draußen liegt das Glück, 
Thor iſt, wer zu Hauſe bleibt zurück! 
Auf die Wanderſchaft laßt uns marſchiren, 
Unſer Gluͤck, 

Unfer Glücke draußen zu probiren! 


Die Melodie des Liedes war fo froh und zu 
verfichtlich Fe ald der Inhalt des Textes, und 
noch aus der Ferne hörte Friedrich bei dem Schluß 
ber zweiten Strophe, deren Worte er nicht mehr 
verftehen fonnte, das fehallende jubelnde: „Unſer 
Glück, unfer Glüde draußen zu probiren!“ 

Der Ton Hang fo verlodend, der Morgen 
war fo ſchoͤn, die Welt fo funfelnd im Sonnen 
lichte. Es zog ihn wie mit Gewalt hinaus, cr 


345 


orbentlid Scheu vor der Heimkehr in bie 
t. 
lle wanderten fie fort, Alle wollten fie ihr 
probiren, fi) unbefannten Verhaͤltniſſen, 
Zufall anvertrauen, Abenteuer fuchen. Er 
blieb zurüf und hatte Fein Abenteuer zu 
ten. 
Jeorg und der Handiwerfögefelle waren nun Beide 
ed Fam ihm vor, ald fei ihm auch durch das 
den des Lebtern ein Leid gefchehen. Er mußte 
e erite Scene ded Zauberringes denken. Es 
ihn ald Knaben immer fo gerührt, wenn bie 
2 fingend von bannen zogen, die Zelte abge. 
n wurden, bie Badeln erlofchen, und ber 
Herr Ott von Trautwangen allein zurüds 
in der Dunfelheit auf der feuchten nächtigen 
, traurig und fehnfüchtig der verfchwundenen 
ichfeit nachfchauend. Grade fo war ihm zu 
e. Er erfchraf, ald er den Wagen fommen 
ils ob ihn derfelbe in einen Kerfer führen follte, 
atte fich feit langer Zeit nicht fo muthlos 
It und die Entjagung, zu der er ſich zu ge 
en ftrebte, war ihm lange nicht fo ſchwer 


346 


geworden, als eben jegt. Als er in bie Stat 
zurüdfam, bünfte fie ihm troß des hellſten Sonne 
lichtes düfter. Die Straßen famen ihm eng vor, # 
wollte ihn Nichts gefallen, und niedergejchlagen 
fagte er fih: „ES ift wohl gut, daß bu die Well 
nicht fehen wirft! wie folteft du mit bir fertig wer 
den, hätteft du die Freude, die Schönheit gekannt, 
deren bloße Ahnung dich unzufrieden und begeh⸗ 

rensvoll macht?“ 
Sich zu tröften ſprach er fi die Worte Pl | 

tend vor: 
Ber die Schönheit angefhaut mit Augen, 


Iſt dem Tode ſchon anheim gegeben, 
Wird für feinen Dienft der Erde taugen! 


Aber es fruchtete Nichts, feine Traurigkeit 
wollte nicht weichen, 


Sicebenzehntes Kapitel, 


— — — 


m Heidenbruck'ſchen Hauſe angelangt, ließ 
h bei Auguſte melden und ward in das 
er geführt, das Georg bisher bewohnt 


ie Benfter deſſelben waren geöffnet, die Vor⸗ 
bereitd abgenommen. Auf den Tifchen las 
Jade von Wäfche umher, die Diener trugen 
iedene Möbel hinaus, und mitten in ber 
aglihen Berwirrung ftand Augufte, und 
‚achte zufriedenen Blickes die Ausführung ihr 
efehle. 

Sie finden mich in voller Arbeit,” rief fie 
Sintretenden entgegen, „aber folche Abreiſe 


348 


auf lange Zeit macht doch eine gründliche Con 
trole nöthig und Georg ift fehr unordentlich. 
Es war nicht möglich von ihm heraus zu brin 
gen, was er mitnahm und was er zurüdlief. 
Da muß ich eben nachjehen!“ 

Friedrich Hatte erwartet nad des Freundes 
Heußerungen, dad Mädchen traurig, vielleicht in 
Thränen zu finden, ftatt defien war fie in voller, 
ihr zufagender Thärigfeit, und er fühlte fich. über 
flüffig, da er gekommen war, fie zu tröften. 
Dennoch glaubte er, es fei feine Pflicht, bie 
Aufträge des Reifenden auszurichten. «- 

„Ich bringe Ihnen die herzlichften Grüße von 
Georg! Seine Abfchiedsworte galten Ihnen und 
waren vol Liebe und Verehrung für Sie!" fagte 
er leiſe. 

Bei der Zartheit feiner Natur fprach Fried: 
rich das mit jener Zurüdhaltung, die fich feheut, 
ein fremdes Geheimniß anzutaften und fich un: 
aufgefordert einem Dritten als Vertrauten aufzu- 
drängen. Augufte aber fchien Nichts davon zu 
empfinden, fondern fagte plößlich, zu einem Aus- 
druck von Trauer übergehend: „Gott weiß auch, 


349 


y das nicht endlich von ihm verdient habe! 
bat er mir für Kummer gemadht! Wie uns 
; ift unfere Zukunft! und das allein, allein 
feine Schuld! * 
aß ſie einen Scheidenden anzuflagen vers 
e, ber ihrer fo dankbar gedacht, mißfiel 
ih, und fein Geſicht mochte fein Erftaunen 
hen. Wenigftend lenkte Augufte augenblids 
nit der Bemerkung ein: „Wer fo, wie ich, 
Jugend an auf ſich felbft gewieſen worden, 
nuß es lernen, auch mit ſich allein abzufchlies 
Sch arbeite mich müde, dann wird ber 
jerz ſtill! — Mit fich fertig werden, daß ift 
yauptfache im Leben!” 
Mit fich fertig werden, das ift die Haupt- 
im Leben!” wiederholte Friedrich gedanken⸗ 
und ſah dann Augufte betroffen an. Es 
Zuftände, in denen die einfachfte, bekann⸗ 
Bemerfung, der größte Gemeinplag und wie 
tiefe Erfenntniß erfcheinen, weil fie unferm 
‚blilichen Seelenbeduͤrfniß entfprechen; das 
jest mit Auguftend Aeußerung ber Fall. 
seftigfeit, mit der fie ihren Schmerz beftegte, 


350 
die Entſchloſſenheit, mit welcher fie ſich felbfiver 
geflen fchnell wieder in bie Arbeit werfenkt, 
machten Friedrich den Eindruck großer Tüchtigleit; 
fogar der ihm noch kurz vorher jo mißfähige To 
bel gegen ben Freund gewann für ihn im hielem 
Madchen eine andere Bedeutung. 

„Ich beneide Sie um bie fichere Klarheit Ihres 
Weſens!“ fagte er, als Auguſte die Schraͤnke 
und Schiebladen zugeſchloſſen Hatte und mit ihm 
in das früher von Erich bewohnte Nebenzimmer 
gegangen war, in bem fie ſich mit ihm nieder 
ließ. 

„Ach!“ antwortete fie, „ed IE ein alles 
Sprichwort, aber die alten Sprichwörter haben 
ihren tiefen Sinn: Gott läßt ed nad bem Klei⸗ 
bern frieren | * 

„Was meinen Sie damit?“ 

„Sch meine, wie ich wohl hätte durchkommen 
follen ohne die Ruhe und Feſtigkeit, die Sie 
Klarheit in mir nennen? Denken Sie doch, daß 
ich, noch ein halbes Kind, in eine Familie einge 
treten bin, in der eigentlich Jeder, obſchon fie 
Alle im Grunde vortrefflich find, fein eigenes 


% 


351 


ntaftifches Weſen und dadurch Alle folch’ 
intaftifche Rebenswege hatten, daß man fchwins 
ıd werden Ffönnte, wenn man fi) nicht immer; 
t auf fich ſelbſt und auf feine eigene Lage ber 
nen hätte, Dabei war bie Schule, die ih in 
ined armen Baterd Haufe durchzumachen hatte, 
h eben nicht bie Teichtefte |“ 

Sie ſchwieg zurüdhaltend und Friedrich bes 
ehtete fie mit wachſender Theilnahme. Ihr ges 
ides Ffräftiges Ausfehen, ihr ſtarkes, glaͤnzen⸗ 
; Haar, die Feſtigkeit und Sauberkeit ihrer 
dung, ja felbft ihr etwas harter Dialekt, was 
: fo aus einem Gufie, fp fehr das Gepräge 
es beftimmten Charakters, daß Friedrich feine 
ude darın hatte und es fich zum Vorwurf 
hte, Augufte bisher nicht nady Gebühr ge 
Abt zu haben. Kr glaubte jest zu verftehen, 
3 grade einen Mann, wie Georg, an dieſes 
aͤdchen feſſeln konnte, mag «8 ihm in allen 
yensverhältnifien fein mußte, und wenn er 
:an dachte, daß ber Freund ihm von ber Adı- 
ig und von dem Vertrauen gefprochen, die. Aus 
te für ihn begte, fo fchämte er fi, daß ber 


nn 


352 


— — — 


richtige Blick des Maͤdchens ihn herausgefunden, 
während er fie nicht gewuͤrdigt hatte. 
In dem Beitreben, dad Berfäumte gut zu 


machen, fagte er: „in fo gluͤcklich organifitd 


Weſen, wie Sie, ein Mädchen, das fich ſchon 
in früher Jugend zur Celbftftändigfeit erzogen, 
fann ficher, ich weiß das wohl, auch ferner in 
fich felbft beruhen. Aber Georg's Wünfche wer 
den Ihnen ja heilig fein. Er bat mich zu Ih—⸗ 
nen gewiefen, weil er fühlte, wie einfam jeine 
Entfernung Eie laffen würde, weil er wußte, 
was ich durch biefelbe verliere, und er meinte, 
daß ich Ihnen nicht ein Troft, wohl aber ein 
Freund zu werden vermöchte!“ 

Sie fah ihn mit ihren hellen Augen langſam 
prüfend an, ohne eine Silbe zu entgegnen, fo daß 
Hriedrih, dem diefe Beobachtung peinlich wat, 
ihr die Hand entgegenhielt und fie bat: „Laflen 
Sie mich um feinetwillen dafür gelten, bis Sie 
felbft mich als einen Freund erkennen.“ 

„Ich habe Sie immer für meinen Freund ge: 
halten!“ rief fie nun plöglich, feine Hand ergreis 
fend und herzlich drückend, „ich fah Sie nur um 


353 


b fo verwundert an, weil Sie foldhe Eins 
y für nöthig hielten. Sie müffen ja wiffen, 
Beorg und ich fanden! Und bie Anderen 
es eben fo gut wiſſen fönnen, fähen fie 
etwas Anderd als fich felbft in biefer 
4 

8 entftand eine Pauſe, Friedrich erhob fich, 
ufzubrechen. Sie hinderte es nicht. „Ich 
Sie nicht bitten zu bleiben,” fagte fie, „benn 
abe wirklih zu thun. Aber Sie kommen 
wieder, und wenn Sie von Georg Briefe 
, fo werden Sie fie mir zeigen.” 
Sicherlich! ich rechne auch auf Ihre Güte im 
en Falle! * 

Zeigen? Nein! zeigen werde ich Ihnen feis 
Brief von ihm. Wie fönnte ich das? Aber 
en will ich Ihnen Alles, wad Sie wifien 
n — es ift fo angenehm, von einem Entfernten 
enfchen zu fprechen, die ihn lieben und verfte- 
und wer hat ihn hier wohl verftanden außer 
md Ihnen, außer uns Beiden ?“ 

Der Doctor unbedenklich!“ meinte Friedrich. 


D ja! aber dem find die Menfchen nur wie 
ndfungen. IL 23 


354 


die Medikamente in ber Apothefe, Mittel zu feis 
nen Kuren. Ein Offizier, der Kaufmann wird, 
ein Edelmann, der feinen Adel ablegt, fo unredt 
und ſchaͤdlich es für denfelben fein mag, find ihm 
willfommen; dad find DBlafenpflafter, bie er 
brauchen fann. Georg weiß es auch, daß mir 
der Doctor fchredlich zuwider ift.“ 

Zuwider? aber was fagte Georg dazu? 

„Er tadelte mi) und wollte mir beweifen, 
daß ich Unrecht hätte. Aber ich laffe mir Nichte 
beweifen, wo ich mit meinen zwei gefunden Au 
gen fehe und mit meinen beiden Ohren höre. 
Ich weiß fo gut als Einer, was recht ift umd 
wer gut ift. Ich habe meinen eigenen Kopf und 
laffe mich nicht fo leicht abbringen.” Dabei 
padte ſie verfchiedene Kleinigkeiten, die fie aus 
Georg's Zimmer mitgebradht hatte, in ihr Schlüf 
felförbchen und ging mit Friedrich in das untere 
Stodwerf hinab, wo fie von einander ſchieden. 


Achtzehntes Kapitel, 





Doctor hatte ſich während aller biefer 
ge fehr ruhig gehalten und anfcheinend 
t feinen perfönlichen Angelegenheiten bes 
‚ denn noch war die Anklage, welche ſei⸗ 
tiften halber gegen ihn erhoben worden, 
feitigt, fondern ging in dem langfamen 
nzuge der damaligen Rechtspflege ununs 
n vorwärts. Zwei Gerichtöhöfe hatten 
yn auf Majeftätöbeleidigung erkannt, er 
ıtte die juriftifche Geſchicklichkeit befreun- 
wofaten von ſich abgewiefen, feine Ders 
19 vor den Richtern felbft geführt, und 
rtheidigungen im Auslande bruden laffen, 
23° 


356 


woraus ihm neue Anflagen erwachſen waren, unb 
von nah und fern riethen ihm feine Freunde, 
fich der ihm ficher drohenden Etrafe einer langjähri- 
gen Gefangenſchaft durch ein freimilliges Exil zu 
entziehen. Indeß ein ſolches Verfahren lag vol 
fommen außer feiner Sinnedartt, Das Feld aus 
Furcht vor einer möglichen Niederlage zu räumen, 
dünkte ihm eben fo ſchimpflich ale thöricht; ſich 
von feinem Berufe, von feinem Wirkungdfreife 
zu trennen, ehe feine Thätigfeit für diefelben ihm 
unmöglich gemacht wurde, das wußte er weber 
mit der Liebe für diefen Beruf, noch mit feinem 
Gewiſſen zu vereinen, und endlich Fam bie fors 
gende Neigung für Gornelie dazu, ihn in de 
Baterftadt zu fefleln. 

Niemand konnte fi) darüber täufchen, daß 
mit ber Verlobung berfelben für ihren Frieden 
Nichte gewonnen worden war. Ihre Geſund⸗ 
heit befferte fih nicht, ihre Niedergefchlagenheit 
blieb dieſelbe. In launenhafter Unruhe befchäfs 
tigte fie fich mit Pleſſens Zufunftsplänen, bei 
denen ihr ſtets die gewagteften und fernliegendften 
bie erwünſchteſten fchienen, und mit leidenfchaft 


357 


Sifer betrieb fie das Studium aller Mifs 
te, ſuchte fie Pleſſens Neigung für 
ıfbahn eined Miſſionairs zu beleben. 
bie geiftige Bedeutung derfelben ihn nicht 
n, feine Wünfche nach einem ftillen Leben 
ern, fo ftrebte fie, feine frühere Reife 
bachtungsluſt in ihm wieder zu erweden 
ı die Vorzüge darzuftellen, welche das 
wärmeren Zonen für ihn haben müfle; 
e ihre Benühungen blieben erfolglos. 
pannfraft feiner Natur war gebrochen, 
nd DBerfuche, fie zu beleben, riefen nur 
enblidliche Erregung hervor, welche nach« 
yald die Urfache derfelben aufhörte, und 
an, das Verfahren feiner Braut mehr 
r al8 eine Lieblofigfeit und eine Unger 
t zu empfinden, vor benen er fidh zu 
vor denen er Ruhe zu fuchen babe, wollte 
untergehen. 

elie ihrerſeiss ſah bang dem Heran- 
8 Hochzeitätaged entgegen, der für den 
eftgefegt war, und der Aufenthalt in 
rei, den dad junge Ehepaar auf alle 


358 


Falle nach der Verheirathung für einige Monate 
machen follte, fing an ihr immer troftlofer zu 
erfcheinen. Es wiberftrebte ihr, in eine Gemein 
ſchaft einzutreten, beren Mitglieder fie nicht pers 
ſoͤnlich kannte. Eine Lebensrichtung einzufchlagen, 
bei der fie fortan der Freude entbehren folle, 
welche die Künfte dem Menfchen gewähren, duͤnkte 
fie barbarifch; und fich einer Autorität in geiſti⸗ 
gen Dingen zu unterwerfen, auf’ Neue den abi 
Iuten Glauben ohne Verftandeöprüfung zum Pa 
niere zu erheben, fam ihr nach den eben gemach⸗ 
ten Erfahrungen mehr ald bedenklich vor. Ber 
ſonders aber fträubte fich ihr Unabhängigkeitsfinn 
gegen den Zwang der Gemeindeordnung, und fie, 
die feit Jahren freiwillig den äußeren Genüflen 
des Lebens entfagt, die ſich alles. Schmudes ent- 
halten hatte, fand e8 unerträglich, grade in dieſen 
Dingen nicht Herr ihres Willens und ihres Ges 
ihmades zu fein. 

Mit Erftaunen bemerften ed die Berfonen ih: 
rer Umgebung, daß fie bisweilen wieder in hell⸗ 
farbiger Kleidung erfchien, daß fie Armbänder 
und Ohrringe anlegte, daß fie es war, die zum 


359 


uche bei andersdenkenden, befreundeten Fami⸗ 
aufforberte und an bie Nothwendigfeit erins 
e, bdiefe oder jene Fremde einzuladen, mit 
m Worte, daß fie fi) wieder der Geſellig⸗ 
und dem gewöhnlichen- Leben zuzumwenden 
ann, 
Seit der Prediger gefänglicy eingezogen worden, 
te die Gemeinde fidh um einen jüngern, ihr im 
ifte angehörigen Theologen verſammelt, und 
Berftunden und Antahtsübungen waren für 
nere Gruppen der Frommen in einzelnen Pris 
thäufern abgehalten worden, während die Aus— 
oählten fich nad) wie vor um die Gräfin fchaars 
i, welhe das Anathem gegen ihre frühere 
eundin zum Geſetze unter ihnen erhob. Alle 
erſuche Corneliens, fich mit der Gräfin zu vers 
ndigen, ihre flehende Bitte um ein volled Ders 
wen, damit gemeinfamed Forſchen ihnen möge 
h und der Bund ihrer Freundſchaft erhalten 
erden fünne, waren von ber Gräfin mit der 
älte geiftigen Hochinuthes zurüdgewielen worden, 
„Wer nicht für mich ift, der ift wider mich!“ 
itte fie der Freundin geantwortet, ald dieſe fie 


360 


vor dem Derhöre um Aufklärung, um Wahrheit 
befchworen hatte. „Wermagft Du nicht unbe 
dingt zu glauben an die Menfchen, die Du fieht 
und fennft und liebft, vermagft Du nicht zu glaw 
ben an uns über Dein Verftändniß hinaus, wit 
wilft Du glauben an den Unfichtbaren? wie 
willſt Du glauben an die Wunder, mit denen a 
und umgeben, und zur höchften menfchlichen Tu 
gend, zum Glauben zu gewöhnen? Wer aber 
nicht mit uns glauben kann, der kann audy nid 
mit und wirken!” 

Unter dieſem Borwande hatte bie Gräfin 
plöglich Eornelie von dem Unterricht an den Ar 
menfchulen und von der Armenpflege auszufchließen 
gewußt. Man hatte ihr, mit der offenen Er 
Härung, daß fie dad Vertrauen und die Achtung 
ber Gemeinde durch ihre im Verhöre und in pris 
vater mündlicher Beiprehung Fund gegebenen 
Zweifel an den Häuptern ber Gemeinde verfcherzt 
habe, die Gaffenverwaltung abgenommen. ben 
fo waren die Nothleidenden, deren perfönliche Bes 
auffichtigung ihr obgelegen, angewieſen worden, 
feine Hülfe und feinen Rath mehr von Fräulein 


361 


deidenbrud anzunehmen, da der gute Geift 
ihr gewichen und alſo ihr Beiftand nicht 
heilfam fei. 
ie Meiften biefer Pflegebefohlenen wußten, 
Sornelie nur noch kurze Zeit an diefem Orte 
ilen, daß die Gräfin dauernd au demfelben 
n werde, und zogen die bleibende MWohlthäs 
der Fortgehenden vor. Andere waren jelbft 
eit fanatifirt, Cornelie zu mißtrauen, jo daß 
ch plöglich von allen Seiten mit Mebehvollen 
Zurüdweifung bedroht und in eine gänzliche 
ätigfeit verfebt fahb. Je mehr fie an ber 
in, an der Gemeinde, an ber eigenen Wirk 
eit und ihren Schüglingen gehangen, um fo 
: mußte diefer Schlag fie treffen. Ein Menſch, 
lange in einer ihn mit ſich tragenden 
reinfchaft lebte, gleicht der am Spalier erzos 
n Treibhauspflanze,. die Luft und Freiheit 
t ertragen kann. 
Cornelie fühlte fich ihrem Element entfrembet. 
tlos, ohne Beichäftigung, ohne Liebe für ihren 
lobten, ohne DBertrauen und ohne Neigung 
die von ihm beabfichtigte Zufunft, konnte nur 


362 


ein gewaltiger Entjchluß ſie retten, aber er mußte aus 
dem eigenen Innern fommen, um nachhaltig zu fein, 

Niedergebeugt von der offenen Verachtung 
welche ihre früheren Glaubensbrüder ihr bewiefen, 
aufgerieben von Pleſſens Ermahnung zur Demuth 
und Unterwürfigfeit, erwachte plößlich jene Leiden 
ihaft in ihr, welche meift der Vorbote der Frei 
heit ift, der zornige Trotz. Eie fragte fih: „We 
hat alle diefe Menfchen zu Herren und Meiftern 
über mid) gemacht? Wer hat Pleſſen Rechte über 
mich gegeben, ald nur mein Glaube und mein 
freier Wille? Hört mein Glaube auf, fo endet 
feine Herrfchaft über mich, erfenne ich diefe nicht 
mehr an, jo bin ich frei!” Mit diefem Gedanken 
fam ein neues Leben über fie. 

Ceit fie nicht mehr fragte, was die Gräfin, 
was die Geiftesgenofien zu ihren Zweifeln fagen, 
wie fie über ihre rüdfehrende Selbftändigfeit ur 
theilen würden, fiel e8 wie Schuppen von ihren 
Augen. | 

Zögernd holte fie aus der Bibliothek des Bar 
ters die Wolfenbüttel’fchen Fragmente, zögernder 
nod) ging fie daran, die Werke Kant's und Fich⸗ 


363 


te’8 zu lefen, fo weit fie ihr verftändlich waren, 
aber mit jedem Tage wuchs ihre Zuverficht bei 
ber Lectüre und mit der Zuverficht auch ihre Kraft. 
Ihr feftes Gottvertrauen ward ihr befter Xehrmeifter. 
Ihr Glaube an feine Allweisheit, welche nicht das 
Geringfte nutzlos gefchaffen, Nichts von allem Ge: 
fchaffenen zur Unthätigfeit verdammt, gab ihr den 
Muth wieder, ihre Seelenfräfte, ihr Urtheil zu ge 
brauchen. 

Wie Verbannte, die fich ihr Vaterland wieder 
erobert haben, fo fühlte fie, als fie fich die reis 
heit des Denfend wieder zuerkannte. Wie der 
Genefene froh die Glieder regt, fo freudig übte 
fie den Geiſt in immer fortfchreitendem Verſtehen 
der Spfteme, die den Menfchen einfegen in feine 
Heimath, in die Erde, in feine Rechte, in bie 
freie,. nur durdy die eigene Fähigfeit befchränfte 
Forſchung und Eelbftbeftimmung. 

Niemand wußte um diefe Studien, Allen aber 
war die Veränderung in ihrem Aeußern fichtbar. 
Ihr Auge fchaute wieder hell umher, ihr Gang 
ward ficher, als habe fie aufs Neue feiten Buß 
gefaßt auf diefer Erde. Ihre Stinnme verlor den 


364 


Hagenden Ton, der fortdauernd die Unvollkom⸗ 
menbeit des irdifchen Dafeind zu beweinen ſchien, 
und feit fie fich nicht mehr gewaltfam verſchloß 
gegen die heitere Schönheit des Lebens, begann 
bafielbe ihr wieter mit feinem Sonnenſchein bie 
Seele zu erwärmen. 

Mit Freuden begrüßte fie den Zeitpunft, in 
dem ihr Vater die Stadt zu verlaffen und fid 
auf dad Land zu begeben pflegte Bei großen 
inneren Krifen ift ed eine Wohlthat, fich von 
dem Orte zu entfernen, ber Zeuge unferer Leiden, 


unferer Irrthuͤmer geweſen ift. Die Unmoͤglich⸗ 


feit, den früheren Genoſſen zu begegnen, bie früs 
heren Beichäftigungen fortzufegen, mußte Gornelie 
auf dem Gute das Vergeſſen leichter machen, und 
eine fchmerzliche Vergangenheit muß man zu ver 
geffen fuchen, will man eine neue Zufunft be 
ginnen. 

Pleffen war verhindert, ber Yamilie gleich 
auf dad Gut zu folgen, aber Friedrich follte mit 
ihnen gehen, um dort einen längeren Aufenthalt 
zu machen und fi) allmählich jene Einficht in die 
Xandwirthfchaft zu erwerben, ohne welche ber 


365 


— — 


Mliche auf dem Lande immerdar ein Fremder 
er feinen Pfarrfindern bleiben muß, denn der 
uer glaubt nicht, daß Jemand ihm in ben 
bien Dingen Rath geben könne, der in den 
lichen Erlebniſſen weder fidy noch Anderen zu 
ren weiß. 

Am lebten Abende, den fie in der Stadt zus 
chten, kam der Doctor fo fpät zu feinen Freun⸗ 
„daß man ihn kaum nocd erwartet hatte. 
ſah Blei und abgeipannt aus, als habe er 
e heftige Anftrengung gehabt, erklärte aber, 
man ihn deshalb fragte, er fühle fih wohl 
> habe nur einen weiten Spazierweg durch die 
der gemadt. „Da ich felten dazu komme,“ 
te er hinzu, „fo gehe ich denn immer zu lange 
d zu weit, und ziehe mir meift eine große Ers 
dung zu, welche mir indeß fchließlich doch 
hithätig ift!* 

Der Baron tadelte ihn, daß er im Ganzen 
wenig für fich felbft lebte; Pleſſen meinte, fo 
n dem Genuſſe der Ratur, müſſe endlich 
8 Gefühldvermögen für diefelbe ſich abftums 
n, aber der Doctor beftritt diefe Behauptung. 








366 


„Wir haben uns leider fo fehr gewöhnt, ben 
Menſchen und die ihn umgebende Welt zu tra 
nen, fagte er, daß wir ihn berfelben entgegen 
fegen, daß wir von Menfchenbeobadytung und von 
Naturbeobachtung fprechen, als ob die erftere nicht 
au eine Naturbeobahtung wäre. Wir nennen 
die Freude an ber Welt Genuß, die Freude an 
einem Menfchen Liebe, während man reinen Ras 
turgenuß empfinden fann im Anfchauen und Bes 
trachten eines in fich vollendeten Menſchen, und 
die Natur lieben mit der Hingebung ſeines gan⸗ 
zen Wefens. Ueberhaupt könnten wir mit viel 
weniger Worten fertig werden, wären unfere Be 
griffe Far, unfere Gefühle nicht verwirrt.“ 

„Sie find heute fo aphoriftifh, Doctor!" 
meinte Pleſſen, „wie bie goldnen Sprüche des 
Pythagoras!“ | 

„Keinesweges! es handelt ſich hier um eine 
fehr einfache Wahrheit und um eine noch einfas 
chere Erfahrung! * 

„Und welche wäre das?“ fragte der Baron, 

„Die Erfahrung, daß aller Idealismus Liebe, 
aller Realismus Selbſtſucht ift, und der Kampf 


367 


beiden gleichberechtigten Kräfte das bewe⸗ 
Prinzip im Menfchen. Ohne eine aus 
nde Selbſtſucht kann der Menſch nicht be 
, fie ift feine Bedingniß, feine Nothwendig⸗ 
— aber feine Schönheit liegt in der bewuß⸗ 
tiebe, wenn dieſe mächtiger wird ald das 
hi der Selbfterhaltung! * 
8 war felten, daß der Doctor fih in Ers 
agen und Beiprechungen folcher Themas ein, 
darum fiel es Allen auf, Er fchien jedoch 
einer Behauptung die Sache für erledigt ans 
n, und fragte abbrechend den Baron, welche 
ichten die Zeitungen gebracht, fo daß 
Interhaltung fchnell eine andere Wendung 
‚ ohne deshalb wie fonft eine angeregte zu 
n. Der Doctor blieb gegen feine Gewohn⸗ 
heilnahmlos, und als er kaum eine Stunde 
yefen war, ftand er mit dem zehnten Glodens 
e auf, ſich zu entfernen. 

t fagte dem Baron LXebewohl, man ſprach 
von kleinen Dienftleiftungen und Beforgun- 
die man von einander erwartete, ed war 
anz gewöhnlicher Vorgang, und doch legte 


368 


fi) eine Befangenheit über die Anweſenden, die 
Jeder fühlte und Niemand ſich zu erklären vers 
mochte. Hatte der Doctor ſich fchnell und ploͤtzlich 
erhoben, fo zögerte er jest, obſchon alles Nöthige 
burchfprochen war. Gornelie hielt fich fern von 


ihm, und eben trat er an fie heran, ihr zum Ab 


fchiede die Hand zu geben, als Augufte die Be 
merfung machte: „Sie Beide werden ſich alio 
nun vor Gorneliend Abreife wohl nicht meht 
wiederſehen? 

„Nein!“ ſagte der Doctor ruhig, aber es flog 


eine heftige Bewegung über feine Züge, die et 


nicht bemeiftern Fonnte. 

„Ih fol Sie nicht mehr wieberfehen !* ſprach 
Eornelie nad), und ihre Rechte ward kalt in ber 
feinen. 

„Rein!“ fagte er nochmals, „aber vergefien 
Sie mid nicht!“ 

Er drüdte dabei ihre Hand und fchritt fchnell 
der Thüre zu. Cornelie war bleich geworben, 
die Thränen traten ihr in die Augen, fie ſah ihm 
einen Moment fprachlod nad), dann raffte fie fid 
zufammen, und folgte ihm mit rafchem Entfchluffe. 


369 





3 fie in das Nebenzimmer traten, fagte fie: 

ch kann ed nicht faffen, daß ich fo und jept 

a Ihnen fcheiden fol, Ic hatte nie daran ges 

ht!" 

„Sie hatten nicht daran gedacht?” fragte er. 

„Es war mir, als hätte ich Ihnen noch fo 
1, fo viel zu fagen!” fprach fie mit ängftlicher 
aft. 

„Und was, Cornelie?“ 

„Ich meinte, Sie follten mir rathen, mir bels 
n! — Nun ift es zu ſpaͤt!“ fügte fie faft ton» 
8 hinzu, ald Friedrich und Pleſſen aus ver 
zohnſtube herein traten. 

Soda ergriff der Doctor Gorneliend beide Hände 
fagte leife: „Für das Rechte ift ed nie zu 
!“ und ehe fie ein Wort erwiedern Fonnte, 
e er dad Zimmer verlaffen. 

Friedrich eilte ihm nad), um mit ihm zuſam⸗ 

. nah Haufe zu gehen, Pleſſen und feine 

mt blieben allein zurüd. „Was war daß, 

melie?* fragte er. 

Eie antwortete nicht. 


„Der Doctor” — — hob Pleffen wieder an. 
Wandlungen. I. 24 


_ ID 


„Sprih nicht von ihm! ich bitte Dich!“ 
flehte Gornelie, „er war mein ältefter, mein 
treuefter Freund |" 

„Und das fühlt Du erft jebt, erſt fo plöß 
(ih in dieſer Stunde?“ . 

„Die Todeaftunde macht hellſehend!“ ant 
wortete fie, und brach in Thränen aus. Dann 
ſchwiegen Beide, 

„Sch werde Euch morgen bis Mitteldorf bes 
gleiten! der Vater hat ed mir angeboten!“ fagte 
Pleſſen endlich. 

„So jehen wir und ja noch!" entgegnete 
Cornelie, erwiederte mechanifh den Haͤndedruck 
ihres Bräutigamd, und Plefien verließ das Haus. 


Neunzehntes Kapitel, 





a8 Leben auf dem Lande war für Fries 
ben fo neu ald die Muße, welche er genoß. 
te feine Unterrichtöftunden aufgegeben, feine 
a gefchloffen und den Vorſatz gefaßt, beide 
vieder zu beginnen, fondern fi) auf dem 
ür fein fünftiged Landleben vorzubereiten. 
em Snabenalter war feine Zeit ftetd einer 
ı Eintheilung unterworfen geweſen. Fruͤhe 
frühe Liebe, Ehrgeiz und Wiſſensdrang 
ihn in ihren Bahnen umbergetrieben, fo 
ber Ruhe, bie er fich bereitet, jetzt als 
ahren Heiligung genoß. | 
üh bei Tagesanbruch die Felder zu durch⸗ 
24* 


372 


— 


fhweifen, Mittags im Waldesſchatten zu raften, 
oder am fchilfbewachfenen Teich finnend dem 
Spiele der Waſſerinſekten zuzufchauen, den Abend 
im Freien audzufoften, und mit dieſen Bildern 
in ber Seele einzufchlafen, wenn das Mondlicht 
durch feine Fenſter zitterte, dad war Alles, was 
er begehrte. Jener Egoismus, welcher den Kran 
fen eigen und ber ihre größte Hülfe in ber Ge 
nefung ift, hatte ſich plöglich feiner bemächtigt, 
als er die Ruhe kennen und fühlen lernte, wie 
nöthig er ihrer bedurfte, 

Es ift ein doppelter Zug im Menfchen, ber 
ihm ten Befig erftrebendwerth und das Nichtbes 
fiten erwünfcht macht. Haben wir gearbeitet 
und getracdhtet, und einen feften Wohnſitz, Hab 
und Gut zu fehaffen, fo fühlen wir, wenn wir 
ben Reiſewagen befteigen, daß der Beſitz eine 
Laft ift, und genießen es ald eine Freude, los 
und ledig und mit leichtem Gepäd auf uns felbft 
geftellt zu finden. Dann jhäßen mir gering, 
wad wir mühſam erworben, dann möchten wir 
von und werfen, was und bald wieder weſentlich 
und unentbehrlich fcheint, und unfere Natur ver 


373 


— —— — © 


auf dieſe Weiſe zu immer neuer Zufrie⸗ 
u immer neuem Genuſſe. Eine aͤhn⸗ 
ihrung hatte Friedrich in Bezug auf 
itniſſe zu machen. 
in der Stille des Landlebens dünkten 
h alle ſeine Studien uͤberflüſſig, ſein Wiſ⸗ 
. Der Bauer, ber feinen Acker zu beſtel⸗ 
‚ahreözeiten zu begegnen und ihnen ihre 
zugewinnen weiß, Fam ihm beneidens- 
weil derfelbe, mit Eeinem unmefentlichen 
aden, Zwed und Erfolge feiner Arbeit 
Yugenbli zu überfchauen vermag. Eine 
sung aller Abftraction und Specula- 
htigte fich feiner, die Bücher, weldye 
igem Studium ſich mitgenommen, lagen 
rt und ftaubbebeft, die Tinte trocknete 
Friedrich's Auge fchaute immer heller 
in Herz wurbe leicht und frei; wie ein 
Standpunkt und alle Gegenftände uns 
Lichte zeigt, fo Anderte fi) auch jeine 
er bie eigene Vergangenheit. 
: er ed fonft ftetd für ein Unglüd ge 
ı niederm Stande und in Dürftigfeit 


374 


geboren zu fein, fo fah er dies jet als einen 
Bortheil an. Das Wenige, was er vom prafs 
tifchen Leben und von der Arbeit für daſſelbe 
Eannte, ſtammte aus jener Zeit, banfte er bem 
engen Baterhaufe, und die Erinnerung an daſ— 
felbe bahnte ihm den Weg, ſich mit den Men 
fchen zu verftändigen, für die er Tünftig zu leben 
und zu wirken dachte. Auch den Verluft Hele 
nend lernte er bier ald eine durch die Verhaͤlt⸗ 
niffe gebotene Nothwendigkeit betrachten, und dad 
Gefühl einftiger Kränkung, erlittenen Unrecht, 
das ſich bisher in ihm ftetd mit der Erinnerung 
an jeine Jugendliebe gepaart hatte, ſchwand hier 
mehr und mehr dahin, 

Wenn er Abends durch die Felder ging und 
dad ftattliche Schloß mit feinen vier Thürmen 
fi) vor ihm außbreitete, wenn er die Unterthänig- 
feit jah, die der Baron von feinen Leuten für alle 
Glieder feiner Familie forderte und empfing, und 
wenn er die huldigende, durch mannigfadhe Wohlthat 
erzeugte Liebe der Dorfbewohner für die Schloß⸗ 
berrfchaft gewahrte, fo konnte er es ſich nicht ver 
bergen, daß Helene auch im günftigften Yalle 


IT 


—— 


Nenge gewohnter Befriedigungen an ſeiner 
entbehrt haben wuͤrde; er konnte ſich es 
oerhehlen, daß die ſelbſtherrliche Freiheit, die 
lich geſunde Schönheit eines Lebens, wel⸗ 
im Befig bed feſten Grundes und Bodens 
t, kaum durch etwas Anderes zu erſetzen fei. 
er ihm bier die Frage in den Sinn kam, ob 
end Liebe ftark genug gewefen fein würde, auf 
iefe Vortheile zu verzichten, je deutlicher ihm 
erantwortlichfeit zu werben begann, bie er 
r Unerfahrenheit ber Jugend über fich zu 
n bereit gewefen war, um fo mehr trat die 
erung in ihm zurüd, daß er Helene einft 
Weibe begehrt hatte, um fo anbächtiger Tiebte 
ihr fein Ideal, und diefe Verheißung, welche 
aronin einft tröftend ber Tochter gegeben, 
e fich für ihn, 

chon feit lange hatte er ed vermieden, nad) 
Ergehen der Gräfin zu fragen, denn fait Als 
vas er in den letzten Jahren über fie ver- 
ten, war ihm fehmerzlich gewefen. Hier aber, 
e ald Kind gefpielt, ald Mädchen gemeilt 


376 


hier, wo ihr Andenken geliebt und freundlich in 
dem Gedaͤchtniß aller Dorfbewohner lebte, hier 
ward er es nicht muͤde, nach ihr zu fragen und 
von ihr zu hoͤren; denn uͤberall begegnete er dem 
reinen Bilde, das er in ſich trug. In dem Hauſe 
des Predigers, der ſie unterrichtet und getraut, 
in der alten Anna Wohnung war er bald ein gern 
geſehener Gaſt geworden, und auch die Bauern 
und Dienſtleute hatten ſich ſchnell an den fremden 
Herrn vom Schloſſe gewöhnt, dem fie mit dem 
Infpector oder mit dem Jäger in Feld und Wald 
zu allen Stunden begegneten. 

Eined Tages, zur Zeit der zweiten Heuernte, 
ging Frievrih am Nachmittage hinaus, den In 
ſpector auf der Wiefe zu treffen, die jenfeits bes 
Sluffes gelegen war, Die Sonne fand hoch am 
Himmel, und rüftig zufchreitend, um die Erlen zu 
erreichen, welche dad Bächlein des Dorfes bis zu 
feiner Mündung in den Fluß begleiteten, hatte er 
bald einen Mann eingeholt, der ein tücdhtig Ente 
vor ihm voraus geweſen war. 

„Buten Tag! Herr Schöne!” rief er ihm zu. 

Der Andere, ein ftarfer, Fräftiger Sechs;iger, 


377 


te fich langfam um, rüdte den Hut und fagte: 
sten Tag! Herr Candidat!“ 

„Was ift das für eine furchtbare Hitze!“ bes 
kte Friedrich und trodnete fi) den Schweiß 
ber Stirne. 

„Ja! ſchoͤn Wetter!” entgegnete der Landmann, 
fommt heute Alles ’rein!“ er fegte dabei den 
ıen fchwarzen Filzhut wieder auf, Flopfte im 
en forgfältig die Furze Pfeife aus, und ftedte 
in den Stiefel, ven er über bie graue Tuchs 
: gezogen trug. Als das gefchehen war, fah er 
Friedrich's, vom rafchen Gehen hoch geröthetes 
icht und fragte: „Sie kommen doch wohl nicht 
Schloß?“ 

„Sa wohl!" — Der Bauer fchüttelte den 
f und fchwieg, bis Jener zu wiffen verlangte, 
weit ed nach dem großen Vorwerk fei. 

„Da wollen Sie doch nicht hin?“ meinte der 
2 

„Rod darüber hinaus, nach der Schloßwiefe 
unter!“ 

„Das ift 'ne gute Stunde Wegs und noch 
3 drüber. Ich muß auch nad der Seite!“ 


4 


„Der Infpector fügte mir, es fei nicht weit!” 
wendete Friedrich ein. 

„Sa, auf dem Sattel! aber fragen Sie ’n mul 
fein Pferd! Wer's laufen muß, der kennt's!“ 

Sie gingen, während fie fo fprachen, vorwärts, 
wobei der Alte durch feine Ruhe den fchnellen 
Schritt ded Juͤngern mäßigte. Auf den Wicfen 
war muntered Leben, der fammetweiche, frifch ge 
mähte Plan funfelte goldig grün in der Sonm, 
überall fah man die Mädchen mit ben Rechen 
das Heu zufammenbringen, das bei dem Aufladen 
von den Wagen herunterfiel, oder bepackte Wagen 
davon fahren. Es war ein heiterer Anblid, 


„Solche Arbeit ift eine wahre Luft, wenn man 
fie mit der Arbeit vergleicht, die in den Stäbten 
gethan wird!” meinte Friedrich. „Wie Viele 
figen dort vom Morgen bis in die Nacht in ihren 
engen Werfituben, die dad ganze Jahr nichts 
Grünes fehen!“ 


Der Bauer antwortet felten auf eine Refle 
xion, auch fehwieg der Alte, und der Andere bes 
merfte: „Man fieht recht, welch ein Segen es if. 


379 


und fehen die Leute aus, wie wohlgenährt 
ch find fie Alle!“ 
fallt bier auch Nichts vor!” erwiderte 


alt Nichts vor? Was fol das heißen?“ 
riedrich. 

geſchieht hier Nichts! Seit Jahren und 

iſt hier Nichts geſtohlen und ſonſt Nichts 
mmen!“ 
)as fagte mir der Pfarrer auch mit großem 
7 Alte bob lächelnd den Kopf empor, „Der 
folt’ ihm wohl vergehen, wenn fie hier 
ten! Aber fo find fie Alle!“ 
dh meine, Herr Schöne! Sie müßten mit 
yeren Pfarrer wohl zufrieden fein, er ift ein 
und gelehrter Mann und ein treuer Seel⸗ 
ya fag’ ich Nichts dagegen, Herr Kandidat! 
ichtd dagegen! Wir find mit ihm zufrieden 
wird’8 auch mit und fein, denn er befommt 
seinige. Aber dad Ceelforgen ſollt' ihm 
vergehen, wenn’d anderd wäre. Da druͤ⸗ 







ben in Lippfenfeld, da predigt ſich der Paper dit 
Lunge aus dem Leibe, und der Schulmeiſter bring % 
den Jungen die zehn Gebote bei, jo wie fie auf 
den Beinen ſtehen fönnen, aber gehen Sie mal 
bin und ſehen Sie ſich dort um. Wer Hände 
bat, der ftiehlt, Alles ift dort herunter gefommen, 
und fein Paftor hat's hindern können mit allem 
Predigen. Das Predigen macht's juft am wenig 
ften! * 

Friedrich war überrafcht. „Aber ich habe Sie 
doch Eonntags immer in der Kirche gefehen, und 
Eie fchienen von der Predigt viel zu halten!“ 
wendete er ein. 

„Das thu' ich auch, und unfer Herr Baftor 
macht's auch fehr erbaulid und fehr gut, man 
muß nur dazu haben!“ 

„Was muß man haben und wozu?“ 

„Schen Sie, Herr Kandidat!" antwortete der 
Alte, „zu Allem muß man’d haben und zum Recht⸗ 
thun zu allermeift, denn Noth Fennt fein Gebot. 
Da drüben in Lippfenfeld haben fie nicht dad 
Hemd auf dem Leibe und feinen Biffen im Munde, 
und kommt die fehlimme Jahreözeit, fo ftehlen fie 


381 


iſch wie die Raben, und feine Scheune und 
ztall ift vor ihnen ſicher. Berhungern will 
und feine Kinder hungern laſſen erft recht 
a 
hielt eine Weile inne und fuhr dann fort: 
lernen dort drüben auh: Du folft Vater 
Rutter ehren! und unter den paar Bauern, 
rt noch etwas haben, da Liegen ſich Vater 
Sohn beftändig in den Haaren.“ 
Iber woher fommt bad?" fragte Friedrich, 
lebhafter von der Unterredung angezogen. 
Dad kommt von ber fhlechten Wirthichaft, 
von der Wirthfchaft. Ein Stein, der rollt, 
st fein Mood an, Fein Thier hält ſich 
. Drüben das Gut, das ift wohl in acht, neun 
mn geweien, daß ich denfen fann! Erſt 
e8 der Sohn vom alten Orafen, der hatte 
n Krieg dad Spielen angewöhnt und hat's 
fen müflen. Dann kam's an Einen, ber 
Lorf graben und Glashütten anlegen, da 
Mes in die Fabrik, fogar die Kinder wurden 
eingeſteckt. Nachher, wie's fchief ging und Die 
Nichts brachte, da ſaß Alles da. Die 


382 


Acer waren ’runtergefommen, benn Alle hatten 
fi) auf's Speculiten gelegt und hatten fih Ale 
verfpeculitt; da ging’ an’d Verkaufen — be 
Bauer wie der Herr. Erſt von jedem Bauergute 
eine halbe Hufe an den Müller oder an den neuen 
Gutsherrn, dann wieder ein Stüd an ben nad» 
ften Gutsherrn. Der Jetzige hat's AN in ber 
Hand, und es figen nicht mehr drei Bauern auf 
den alten Hufen, und die da find, bie find in 
Noth und find alt, können aber doc) nicht fort 
vom Hofe, kommen nicht in's Ausgeding, denn 
für Zwei trägt’d dad verarmte Wefen nicht, und 
ein Alter Fann doch nichts Rechts mehr fchaffen. 
Das wird den Jungen zu lang, und es ift Zanf 
ohn Abfehen und End’ zwijchen Vater und Sohn, 
Da laffen Sie denn einmal den Paſtor Davon pre 
digen, daß fie Vater und Mutter ehren follen und 
nicht begehren des Nächften Hab’. und Gut! — 
Wer gotteöfürchtig fein foll, der muß es dazu 
haben, das ift die Hauptfache! * 

Friedrich hörte dem Alten mit Erftaunen zu. Es 
war einer ber vermöglichften und bravften Bauern des 
Dorfes. Wie er fechzig Jahre alt geworden, hatte er 





383 





ne die Wirthſchaft uͤbergeben und war in's 
g, in ein kleines Haus gezogen, das zu 
ut gehörte. Seinen Unterhalt bezog er 
m feften Abkommen von feinem Sohne. 
beftellte nur dad Stück Gartenland, das 
‚rbehalten, und hatte fi) nun ganz auf 
nzucht gelegt, die er mit Glüd und Vor⸗ 
eb. Dabei galt er für einen guten 
und ihm und feinem Sohne ward es nach» 
daß nie ein Armer bülflos von ihrer 
ging. Aus dem Munde eines folchen 
befamen diefe Worte für den fünftigen 
ichen ein bedeutendes Gewicht. 
n man Sie fo fprechen hört, Herr Schös 
e er, „fo folte man eigentlidy) meinen, 
or wäre ganz überflüffig auf dem 


Bauer antwortete nicht glei. Er nahm 
ab, Fämınte fic mit dem runden, breiten 
der fein Haar im Naden zwijchen den 
hren zufanımenhielt, mehrmals über den 
d fah fich dabei feinen Gefährten behuts 
als wolle er erforfchen, wie weit man 







384 


mit ihm gehen dürfe. Dann feßte er den Su 
wieder auf, brüdte ihn tief in die Stine, ſo dej ſJ 
er ihm die Augen ganz befchattete umd meinte: 
„Ueberflüffig? I nun! juft überflüffig ift der ge 
wis nicht, denn wie fol man fich taufen und 
einfegnen und trauen unb begraben laſſen ohme 
einen Baftor, und unferer ift von ben Als 
beften Einer — aber anders koͤnnt' es freilich 
fein!“ 

„Sa! wie denn aber?” fragte Friedrich. 

„Zu arbeiten giebt's immer, Herr Candibat! 
ift’d nicht das Eine, iſt's das Andre, und wer 
richtig arbeitet, der wird auch fat. Da war 
bier der Weber im Dorf, der bungerte mit Weib 
und Kind, denn die Weberei ging nicht, und al’ 
Augenblid hatte ic einen von feinen Jungen in 
meinem Garten beim Rübenausziehen und Apfel 
ftehlen abzufallafchen. Aber faum war ihnen ber 
Budel heil, fo waren fie wieder da, und ed wa 
ren Jungens, die faum die Haut über die Kno 
chen hatten, Zuletzt fah id, dad Prügeln nutzte 
Nichts, fie ftahlen anderwärtd und der Eine fam | 
zulegt in’d Loch,“ 


385 





ad was wurde dann aus ihnen?” fragte 
ich. 
Was dann geworden ift? Ich bin dann hins 
gen und hab’ den Weber genonmen und 
gefagt: Wenn ich ſeh, mein Ader will 
Kartoffeln mehr tragen, fo muß ich Nüben 

Wenn Deine Weberei Nichts abwirft, da 
u ein Narr, wenn Du immer weiter webft 
ie Jungens Nichts lernen läßt, ald die Wes 
bei der fie aus Noth fehlen und alle noch 
Zuchthaus wandern. Du haft ja ab und 
m Korb gemacht, wenn’d nöthig war, und 
8 gut bezahlt befommen, mad)’ Körbe. — Und 
ind fie auf dem Strumpf Alle fammt, fah⸗ 
it nem eigenen Efel 'rum durch's Land bie 
: Stadt, und es ftiehlt Feiner mehr. Sind's 
Körbe, fo ift’d was Andres!" — 
Sie meinen alfo, der Paſtor follte darauf 
daß die Leute Arbeit und ihr Ausfommen 
i, damit der Mangel fie nicht zu Verbrechen 
au 
Es ſollt' wohl gut fein, Herr Kandidat! Es 


manch’ Einer in den Himmel kommen, 
ndlungen. II. 25 






wenn's ihm nit gar zu fchlecht ging in da ſu 
Welt. Blos preb’gen, was man nicht fol mi ir 
wie man nicht in den Himmel kommt, das mahlt fi 
lange nicht!“ 

Eie waren dabei bis zu dem ‘Punkte gelangt, Je 
an tem ihre Wege ſich trennten. Der Baur J 
blieb ftehen, zeigte Friedrich den Fußpfad, den a fi 
einzufchlagen hatte, und fagte dann: „Nichts für | 
ungut, Herr Candidat! und ed mag aud) fein 
Gutes haben mit der Gelehrfamfeit, nur hier und 
draußen nutzt's nicht viel! Alfo Nichts für un 
gut!“ 

„Im Gegentheil! ich will mir's merken, und 
ich danfe Ihnen, daß Sie mir es fagten! Ich 
will von Ihnen lemen, wie man helfen Tann!“ 
tief Friedrich warm. 

„Lernen? lernen kann ſo'n ſtudirter Mann wohl 
Nichts von unfereinem, Herr Candidat! aber wad 
ich fo gejehen hab’, das will ich Ihnen fagen, 
wenn Sie's hören wollen! Guten Weg und Ab 
jes! Herr Candidat!“ 

Damit wendete er fi) zur Rechten, und $rie 
drich ſchlug den Steg zur Linken ein, Immer bem 





387 


— u 





r entlang, defien leifes Murmeln ihn begleis 
ber fo liebevoll er fich fonft in den Ges 
ver Ratur verfenkte, heute fah er Nichts von 
x fanften Schönheit um ihn. ber. Die Uns 
ang mit dem Bauern befchäftigte ihn ganz 
‚fie hatte eine Menge von Fragen und Ges 
ı in ihm angeregt, die ihn ale in das 
[che Leben hinauswielen. Was hatte auch 
Studium der Kirchenväter, dem er durch 
Jahre die ganze Thätigfeit, die ganze 
gewidmet, mit den Bebürfniffen, mit der 
l des täglichen Lebens gemein? Was hatte 
Grunde in ihm felbft gefördert, als jene 
el und Anfchauungen, welche feinem Water 
ieſem Bauern aus ber eigenen Vernunft ges 
:n waren, weil biefelbe nicht durch abfichts 
Srziehung für die Theorie und für das Jen⸗ 
son der Erde und von ber Thätigfeit auf 
gewendet worden waren, 
er Nachtheil, welchen der Alte in dem Wech- 
r Outöbefiger für dad Dorf erblidt, bie 
Folgen der Fabriten auf den ruhigen Er⸗ 
eiß ber „Sanbbewohner ‚ bie Neorwendigkeit 


388 


des Erwerbwechfels bei wechfelnden Eulmrzuftin 
den und eine Menge fi) daran Fnüpfenter Fra 
gen, drängten fid ihm ploͤtzlich als ein Raheliv 
gendes auf, und des Doctord Borausfagung, def 
ein Aufenthalt auf dem Lande ihn lehren werk, 
wie wenig bie Geiftlichen durch ihre theologiſchen 
Etudien darauf vorbereitet würden, Seeljorger und 
Volfserzieher zum werden, madıte fi ihm nur zu 
ſehr als Wahrheit geltend. 

Wie es in folchen Augenbliden geht, hatte 
Friedrich kaum die Schloßwiefen erreicht und den 
Inſpector aufgefunden, ald er von ben Dingen 
zu reden begann, bie ihm im Sinne lagen. Er 
erzählte, welches Geipräd er mit dem Bauern 
gehabt hatte. Der Infpector hörte ihm ruhig zu 
und meinte dann: „Es hat feine Nichtigfeit mit 
Vielen, was er Ihnen fagte, aber der Alte ift 
doch ein Fuchs!“ 

„Ich Habe nichts Liftiged, nichts Habfüchtigee 
in ihm und feinen Behauptungen bemerfen koͤn⸗ 
nen!” entgegnete Friedrich, 

„Sch meine auch nichts Schlimmes damit, er 
ift eben ein Bauer, und in jedem. Bauer ftedt 








389 


chs und ein Ariftofrat zugleich!“ lachte 
fpector, „denn gegen ben Hocmuth und 
tolz des Bauern, der auf feinem Hofe figt, 
der Adelſtolz unfered Herrn Barons nur 
keit.“ 
ging dabei mit Friedrich auf der Wieſe 
hatte die Augen uͤberall, und gab ab und 
en Befehl oder eine Anweiſung, wenn das 
ber Wagen nicht nach feinem Sinne ges 
oder fonft irgendwo eine Verſäͤumniß ſich 
en ließ. 
ch glaube,” fagte er nad einer Weile, 
ber junge Schöne ſich's beikommen liche, 
auſch einzugehen, den wir ihm vorgelchlas 
iben, der Alte ginge nicht mehr über feine 
Ile, und der Sohn ift grade fo.” 
3on welchem Tauſche fprechen Sie?“ 
5ie haben anderthalb Morgen Wieſe, dicht 
zaſſer hier bei der unfern, die ihnen viel zu 
om Hofe liegt und alfo unnüg Zeit weg⸗ 
Uns paßte die Wiefe, denn fie ift von 
ıfern umfchloffen, und Schöne muß forts 
id uͤber unſern Grund und Boden. Da 


382 

Aecker waren 'runtergekommen, denn Alle hatten 
ſich auf's Speculiren gelegt und hatten ſich Alle 
verſpeculirt; da ging's an's Verkaufen — der 
Bauer wie der Herr. Erſt von jedem Bauergute 
eine halbe Hufe an den Muͤller oder an den neuen 
Gutsherrn, dann wieder ein Stuͤck an den naͤch⸗ 
ſten Gutsherrn. Der Jetzige hat's All in der 
Hand, und es ſitzen nicht mehr drei Bauern auf 
den alten Hufen, und die da ſind, die ſind in 
Noth und ſind alt, koͤnnen aber doch nicht fort 
vom Hofe, kommen nicht in's Ausgeding, denn 
für Zwei trägt's das verarmte Weſen nicht, und 
ein Alter kann doc nichts Rechts mehr fchaffen. 
Das wird den Jungen zu lang, und es ift Zanf 
ohn Abfehen und End’ zwilchen Vater und Sohn, 
Da laflen Sie denn einmal den Paſtor davon pre 
digen, daß fie Vater und Mutter ehren follen und 
nicht begehren des Nächften Hab’ und Gut! — 
Wer gotteöfürchtig fein fol, der muß es dazu 
haben, das ift die Hauptfache! 


Friedrich hörte dem Alten mit Erftaunen zu. Eß 


war einer der vermöglichften und bravften Bauern dei, 
Dorfed. Wie er fechzig Jahre alt geworden, hatte er 


383 


— — 


Ihe die Wirthſchaft übergeben und war in's 

ing, in ein Fleined Haus gezogen, das zu 
s But gehörte. Seinen Unterhalt bezog er 
einem feften Abkommen von feinem Sohne. 
elbft beftellte nur das Stück Gartenland, das 
h vorbehalten, und hatte fih nun ganz auf 
3ienenzucht gelegt, bie er mit Glüd und Vor⸗ 
betrieb. Dabei galt er für einen guten 
bar, und ihm und feinem Sohne ward es nach⸗ 
ymt, daß nie ein Armer hülflos von ihrer 
velle ging. Aus dem Munde eines folchen 
ned befamen diefe Worte für den Fünftigen 
geiftlichen ein bedeutendes Gewicht, 
Wenn man Sie fo fprechen hört, Herr Schös 
fagte er, „fo ſollte man eigentlich meinen, 
Paſtor wäre ganz überflüffig auf dem 
e!“ 
Der Bauer antwortete nicht gleich. Er nahm 
Hut ab, kämmte ſich mit dem runden, breiten 
me, der ſein Haar im Nacken zwiſchen den 
n Ohren zuſammenhielt, mehrmals über den 
‚ und fah ſich dabei feinen Gefährten behuts 
an, als wolle er erforfchen, wie weit man 


3904 





hatte er ſich gewendet, ſondern zuruͤck, zum Dorfe 
hinaus. 

Flůchtigen Fußes eilte er davon, vorwärts, 
immer vorwärtd. Die Arbeiter, die vom Felde 
famen und grüßend an ibm vorüberzogen, wur 
berten fi, daß er ihnen feinen Gruß erwiberte 
Cr ſah fie nit, er wußte aud) nicht wohin er 
wollte. Ein unflared Empfinden hatte ihn von 
dannen getrieben, endlich zwang die Ermüdung 
ihn an fid) zu denfen, und er ftand ftille, 

Die Dämmerung war angebrocdhen, im mals 
tem Blau zeichnete ſich die lange Linie des Hori⸗ 
zonted vor ihm ab, Der Nebel ftieg aus den 
Wiefen empor, denn der Abend war fühl gewor⸗ 
ben. Erhitt wie Friedrich es war, fehauerte er frös 
ftelnd zufammen, Er befand ſich auf der Brüde, 
Das Waſſer floß langfam unter dem Bogen bin, 
Ri und kühl, Er blidte hinab, als folle ihm 
von dort her Zöfung kommen, „Auf welche Frage 
bedarf ich denn der Löfung? was ift mir denn 
geſchehen?“ fragte er ſich. 

Er hatte keine Antwort darauf, aber er fühlte 
alle Schmerzen und Freuden der Bergangenheit 





395 


fen in feiner Bruft, er fühlte, daß er wies 
r Ruhe entriffen war, die er fo fchwer errun⸗ 
atte, und er fragte fi, ob es nicht weiler 
ch und ber Gräfin ein Wieberfehen zu er- 
‚ das Beiden doch nur traurig fein konnte. 
a wendete er feine Augen nach dem Dorfe 
r, — bie Fenfter des Schloffed waren er- 
t. „Dort alfo ift fiel” dachte er. Sein 
wallte auf — und gezogen von dem Bers 
‚ fie nur einmal noch zu fehen, Tehrte er 
yorf zurüd, 
8 er dur) bie dunklen Alleen des Parkes 
trat ihm in deutlicher Erinnerung die Nacht 
n, in der er fih von ihr getrennt, So 
ı Luftzug fich regte, glaubte er, fie müfle 
ber Zufall müfje ihm wie damald günftig 
Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihr 
jenwart des Grafen, in Gegenwart der Ans 
ju begegnen — aber Niemand kam und ein 
langte er an’d Schloß. 

der Halle war Alles leer, Keine unge 
che Bewegung verrieth der Gäfte Ankunft, 
n Borfaale des obern Stodes fand er einen 


3% 


Diener, den er fragen fonnte, wo bie Herrichaft 
jei? 

„Im Theezimmer!“ erwiderte diefer und fchien 
verwuntert über feine Frage. 

Der Athem ftodte ibm in ber Bruft, nur 
no ein Zimmer trennte ihn von ihr. Die 
würde er fie wiederfinden? Wie würde fie ihn 
entgegentretn? Gr zauderte. — Rod konnte er 
zurüd — abet er mußte fie ſehen. Mit rafchen 
Entſchluſſe öffnete er die Thüre des Gemaches, 
das fi zwiſchen dem Vorſaale und dem Thee⸗ 
zimmer befand, ein lebensgroßes Bruftbild, von 
der Lampe heil beleuchtet, ftand auf einer Staf 
felei — es war Helene. 

Wie angewurzelt blieb er vor bemjelben ſte⸗ 
ben. Gin dunfelrothed Sammtkleid umgab ih— 
ren Leib, ein Diadem von Brillanten Frönte ihre 
Stirne. Kin ftrahlended Siegeöbewußtfein war 
über die ganze Erfcheinung ausgegoflen. Sein 
Herz Frampfte fi) zuſammen, dieſe Gräfin Et. 
Brezan war nicht mehr Helene, fie war ihm eine 
Fremde. 

In ſchmerzlicher Verſunkenheit konnte er die 


N 


— — —— — — 


nicht von dem Bilde wenden. Es war 
18 muͤſſe ver Ausdruck der Graͤfin ſich uns 
em Auge aͤndern, als müffe die Geliebte 
Jugend daraus hervorgehen in ihrer uns 
polen Schöne, aber das ftrahlende Lächeln 
ch nicht, und mit Thränen in den Augen 
er: „Mußteft Du mir auch noch die Ers 
ig nehmen, unglückſel'ges Weib?" 
ſchreckte auf, als die Thüre fich öffnete. 
it Cornelie, die hereintrat. 
3ie finden Sie das Bild?, rief fie ihm ents 
„Helene fehreibt, es fei das Beſte, das 
r gemacht iſt!“ 
ie ſchreibt?“ — wiederholte er, als vers 
: fie nicht. 
uch Seldheim und die Frau, die es mitgebracht 
halten es für gelungen,“ fagte Cornelie. 
Baftorin war eben mit ihnen hier und ganz 
ich vor Freude über ihred Bruders Ankunft. 
ehn Jahren Hatten fie ſich nicht gefehen!“ 
r Umfchwung in Friedrich8 Ideen und Em- 
ıgen war zu heftig geweſen. Seine ®lies 
fagten ihm den Dienft, er mußte fich feßen. 





398 


Sein Kopf brannte, bunte verſchwimmende Fun 
fen flirrten vor feinen Augen auf und nieht, 
und zwifchen ihnen durch blidte ihn immer dab 
Bildnis der Gräfin mit feinem ftrahlenden % 
chein an, das ihm das Herz zerriß. Er glaubte 
fih auf der Brüde zwifchen den Wieſen, die Falte 
Abendluft durchfchauerte ihn wieder, die Tiefe dun⸗ 
felte unter ihm, und ſchwindelnd ſank er hinab, 
während er einen Hülferuf Eorneliens zu verneh⸗ 
men glaubte. 


Zwanzigfied Kapitel, 


ierzehn Tage waren feit jenem Abende ver 
n und nod) lag Friedrich in den Phantas 
eines Nervenfiebers. Die Lampe leuchtete 
Yinter dem Schirme hervor und ließ bie bleis 
abgehärmten Züge einer greifen Frau erfens 
die mit gefalteten Händen zu Häupten feis 
jettes wachte. Es war feine Mutter, hr 
iber faß Augufte, 

uf diefe Nacht haben wir nun fo gewar- 
fagte die Meifterin, ohne bie forgenvollen 
von ihrem Sohne abzuwenden, „nun wird 
d um fein, und es rückt und rührt fich nicht 
m!“ 


400 


„Er ift doch aber nicht mehr ganz fo lebles 
ald noch geftern Abend, * tröftete Augufte. 

„Sa! es fieht jo aus, als fchliefe er nur!“ 
gab die Mutter zu, bereit fich jeder auch ber les 
feften Hoffnung hinzugeben. Allein des SKranfen 
Todtenbläffe ließ Feinen rechten Glauben in ihr 
auffommen. „Den Schlaf ift aber nicht zu 
trauen!“ feufite fi. „Er wird mohl fo file 
wegfchlafen, wie fein Vater auch. Der Arme fol 
ja einmal nichts haben! —“ Dabei legte fie die 
Hand taftend auf ded Sohnes Stim und Wars 
gen, ſah voll Zärtlichkeit zu ihm herab und fagte: 
„Und wie hat er mir zugeredet: hab' nur Ge 
duld, Du ſollſt nicht mehr lang’ allein fein, Du 
fommft zu mir auf die Pfarre und wir wirthfhaf 
ten zufammen! Er hatte von je das beſte 
Herz! — Daß ift nun aud) vorbei! ch wollte 
nur, ich läge da, denn ich bin alt und bin mein 
Leben fatt — aber wenn Einer fo jung iſt!“ — 
Sie fonnte nicht weiter fprechen, fondern bemegie 
langfam und ſchmerzlich den Kopf, als könne fie 
das Schickſal, das ihr drohte, nicht erfaffen. 

Augufte hatte ihr theilnehmend zugehört. „Ad, 


401 


te bei den letzten Worten der Meifterin, 
gend thut's nicht. Mancher ift jung und 
rzlich gern an feiner Stelle!“ 

rädige® PBräulein, verfündigen Sie ſich 
ı Gott und Ihren Eltern!" warnte bie 


“ 


tem? Ich habe Feine Eltern mehr, Frau 
er doch Geſchwiſter?“ 
e kenne ich faſt nicht! Ich bin ſo allein 
e Welt,“ rief fie leiſe mit unterdruͤcktem 
„jo allein und verlaffen, und fo über 
daß ich Gott danfen wollte, Täg’ ich bier 
drich's Stelle. Um mid würde feine 
fließen, feine! Glauben Sie mir das! -— 
jt er fi) nicht, Frau Brand?“ 
e Frauen bogen fid) über ihn nieder, 
hatte fich getäufcht. Die Lethargie dau⸗ 
, und nachdem das Fräulein der Mutter 
hatte, die Kiffen ded Kranken zu ordnen 
ı wirred Haar von feinen heißen Schlaͤ⸗ 
Azufchlagen, herrfchte ein tiefes Schwei⸗ 


dem Zimmer, 
ungen. II, 26 


402 


Draußen begann bad erfte Grau des Tageb 
aufzubämmern, die Vögel erwachten und zwiticher ii 
ten ihm entgegen. Das machte die Traurigkeit 
und Angft noch Laftender in der Krankenftub, fi 
denn die Natur übt ihren Einfluß auf und au, 
auch, ohne daß wir und Nechenfchaft davon ji 
geben wiflen. Wenn ein Menfchenleben feinem 
Ende zufinft, fcheint der Tagesanbruch und wie fi 
bittrer, Falter Hohn. Augufte faß traurig und in fid 
verfunfen da, ber Mutter Blide wurden immer fi 
ängftlicher, je mehr bie wachfende Tageshelle fe J 
die veränderten Züge ihres Sohnes unterſcheiden J 
ließ; aber fo fehr fie auch mit ihm befchäftigt 
war, konnte fie fich nicht erwehren, auch an bad 
Sräulein und an deſſen Kümmerniß zu benfen, 
denn Augufte hatte dad ganze Herz der Meifte 
tin gewonnen. Grau Brand hatte fich ihr feit der 
Stunde ihrer Ankunft auf dem Schloffe nicht fo fremd 
gefühlt ald Cornelien und- dem Baron gegenüber, 
und mit richtigem Tacte empfand fie es, daß 
Augufte ſich nicht herabzuftimmen brauchte, um 
ihr wohlthuend zu werden. Mitleidig von Na 
tur hatte fie ſchnell Auguftens ftillen Gram br 





403 


jet hielt fie fich nicht mehr und mit 
urüdhaltung fagte fie: „Sie find fo gut 
en Brig und fchonen fich felber nicht bei 
md Nacht. Es kann mir leid thun, daß ich 
» gering bin; aber Ihnen drückt auch Ets 
ad Herz ab, das kann ein Blinder fehen!“ 
8 löfe das einfache Wort alle Schmerzen 
er Bruſt, fo plöglic und fo heftig ftürzten 
tens Thränen hervor, Sie preßte ihr Tuch 
das Gefiht und trat an's Fenfter. Die 
rin folgte ihr, Sie wußte fich felbft nicht 
then und wollte doch fo gern helfen. Uns 
fig, was fie thun folle, legte fie die Hand 
auf Auguftend Schulter, ftreichelte fie fanft, 
man einem Kinde liebfoft, und fragte leife: 
weinen wohl um ihn, und waren ihm wohl 
n 
Iugufte richtete fih empor. Das liebevolle, 
erliche Wefen ergriff und rührte fie, dennoch 
cat fie vor dem Irrtum der Meifterin, und 
ell gefaßt entgegnete fie: „Ach, Sterben ift noch 
‚t das Schlimmfte! aber verlaffen und verra- 


en werden, das iſt's, das ift es! — Ich war 
26* 





402 


Draußen begann das erfte Grau des Tages 
aufzubämmern, die Vögel erwachten und zwitfcher 
ten ihm entgegen. Das machte die Traurigkeit 
und Angft noch laftender in der Krankenſtube, 
denn die Natur übt ihren Einfluß auf uns aus, 
audy, ohne daß wir und Rechenfchaft davon zu 
geben willen. Wenn ein Menfchenleben feinem 
Ende zufinkt, fcheint der Tagesanbruch und wie 
bittrer, Falter Hohn. Augufte faß traurig und in fid 
verfunfen da, ber Mutter Blide wurden immer 
ängftlicher, je mehr bie wachfende Tageshelle fi 
bie veränderten Züge ihres Sohnes unterfcheiden 
ließ; aber fo fehr fie auch mit ihm befcyäftigt 
war, Fonnte fie fich nicht erwehren, auch an das 
Sräulein und an befien Kümmernig zu benfen, 
denn Augufte hatte dad ganze Herz der Meifle 
rin geivonnen. Frau Brand hatte fich ihr feit ber 
Stunde ihrer Ankunft auf dem Schloffe nicht fo fremd 
gefühlt als Cornelien und dem Baron gegenüber, 
und mit richtigem Tacte empfand fie es, daß 
Augufte fi nicht herabzuftimmen brauchte, um 
ihr wohlthuend zu werden. Mitleidig von Ra 
tur hatte fie fchnell Auguftens ftilen Sram be 


405 __ 


ad erfte Zeichen von Bewußtfein, das 
Beginne feiner Krankheit gegeben hatte, 
ſich vor Freude, fiel die Meiſterin dem 
m den Hals. 

ieſer Stunde begann die Beſſerung, ob⸗ 
ur ſehr langſam vorwärts ſchritt. Die 
und Sorge der Schloßbewohner ließen 
nach, das Leben kam wieder in ſeinen 
Gang zurück, und die Anweſenheit der 
hen Familie erwies fich bald als ein 


tille des Pfarrhauſes verwandelte ſich 
igfte Treiben. Die Eltern waren froh, 
mn die Freuden bed Lanblebend auf 
hen Dorfe zu bereiten, von denen fie 
talien fo oft erzählt, und die jebt vier 
hellblonde Agnes ſchien recht eigents 
je Umgebung bineinzupaffen. Bei dem 
n bed Vaters hatte dad junge Mäd- 
Reiz einer feftbegründeten Haͤuslichkeit 
n lernen, fo fchön fie den Segen 
flihen Familienkreiſes auch genoffen 
auf ben Augenblid und dad nächfte 


%* 


404 


Braut und — das ift nun vorbei!” ftieß fie mi 
Meberwindung hervor. 

Damit ging fie an dad Kranfenbett zurüd 
dem Gefpräche ein Ende zu machen. Aud bi 
Meifterin feßte fich wieder zu dem Sohne hin 
indeß ihre Gebanfen waren wie verwirrt. Da 
man um etiwad Anderes weinen fönne, als u 
ihn, däuchte ihr unmöglich, daß Augufte, bie | 
treu mit ihr bei Friedrich wachte, ihn liebe un 
um ihn verzweifle, hatte ihr fo natürlich gefcji 
nen. Friedrich wollte ja immer nur eine gebilbe 
Frau. Warum liebte fie ihn denn nicht? warm 
einen Andern? „Ein Mädchen figen laflen! ta 
hätte der Brig nicht gethan!“ fagte fie Taut ir 
Selbftgefpräch, „denn der ift treu wie Gold!“ 

Augufte fah fie verwundert an, aber in ber 
Momente athmete der Kranke tief und langfam 
und fehlug matt die Augen auf. Sein Blid fi 
auf Augufte, er fehien fie zu erfennen, denn t 
hob mühfam die Hand empor, als wolle er fi 
ihr reichen; indeß bie Kraft verfagte ihm, un 
ohne zu der Mutter aufzufchauen, bie fich üb 
ihn berabneigte, ſchloß er die Augen wieder 


zer Jubiläum verehrt; und von ber Uhr 
dem Beinen Hausrath war Alles Bier 
iligthum, eine Reliquie für Feldheim for 
% für die Seinen. 

Einderlofe Pfarrerin aber fühlte fich wies 
3, wenn fie mit Agnes die Plaͤtze befuchte, 
n fie den Maler, den Rachgebornen ber 
‚ als Kleines Kind behütet, fie ftand 
igem Lächeln Hinter dem Mädchen, 
8 mit Luft die Kleinen altmodifchen Ges 
: oder gar das verblichene Brautfleid der 
anverfuchte, und dankbar gerührt für fo 
be, fühlten: fi rau Feldheim und Agnes 
ter zu der Pfarrerin gezogen, deren eins 
ſtilles Leben ihr fchon feit Jahren eine 
nhafte Haltung angeeignet hatte. Dom 
bi8. binab:-zum: füngften Knaben Feld⸗ 
war Alles voll Behagen, voller. Liebe uns 
befcheidenen Dache, und ſchon nad wes 
gen hatte auch Corneliens Berhältniß zu 
ften des Pfarrers eine Bedeutung für fie 
en, die Zufriedenheit ber Gatten und der 
ihr wohlgethan und fie ihr werth gemacht. 


X 


408 


— — — — — 


Die ſichtliche Verehrung, mit welcher Feldhein 
und feine Frau der Gräfin anhingen, war ein 
Grund geworben, fie und Eornelie noch ſchneller 
zu einander zu führen, und es verging bald 
Tag, an dem fie fi nicht fahen, an dem € 
nelie nicht eine Stunde in dem Dachftübchen ver 
weilte, das Zeldheim ſich zum Atelier erkohren, 
weil er dort ald Kind gewohnt. 

Eines Abends, als das Fräulein zu ihm cin 
trat, hatte er Pinfel und Palette ſchon fortge Wi 
legt, und ſah, die Frau im Arme haltend, zu dem fi 
geöffneten Kleinen Fenſterchen in’d “Dorf hinaus. 
„Ih ſprach in dieſem YAugenblide von Ihnen!“ 
fagte er, nachdem er fie willfommen geheißen 
hatte. „Sie folten die Gräfin überreden, einen 
Sonmer bier mit Ihnen zu verleben !“ 

„Wie fehr wünfche ich das felbft!* entgegnete 
Gornelie, „aber fo oft wir fie darum gebeten ha 
ben, bat fie es abgelehnt. Noch in diefem Jahre, 
als ihe Georg die Hoffnung ausſprach, fie vor 
feiner Abreife aus dem Baterhaufe wiederzufehen, 
bat fie verfichert, nicht kommen zu können“ “ 

Feldheim fann eine Weile nach, dann rief er: 







409 


fenne Sie noch nicht lange, aber mich 
id Eenne Sie gut. Man darf ein offen 
m Ihnen ſprechen!“ 

nbedenklich!“ entgegnete Gornelie. 

un denn! fo geftehe ich Ihnen ehrlich, ich 
‚ die Sräfin fehnt fich hieher, aber fie fürch⸗ 
Rückkehr in dad Baterhaus |” | 
rnelie fchien betroffen, Frau Feldheim kam 
r Hülfe. „Die Gräfin ift fo ungluͤcklich,“ 
te, „daß ihre die Erinnerung an ihre Ju⸗ 
che thun würde, und —* 

ein!® fiel ihre der Maler in's Wort, „ed 
nmal gefagt fein zu einem Weſen, das ber 
Helene Schidfal liebevoll im Herzen trägt; 
ie Erinnerung an ihre Jugend ift es, bie 
htet, fie ſcheut die Stille des hiefigen Les 
weil fie die Einkehr in fich felber ſcheut.“ 
elle, .von der Schwere biefer Worte ges 
‚ flog die Augen mit der Hand. „Und 
je fie fo fehr geliebt!“ rief fie aus. 

hun Sie das, thun Sie dad auch jetzt!“ 
du Feldheim, „denn die arme Gräfin hat 


big!“ | 


410 


„Wir find uns fremd geworben!” klagte Cor 
nelie. „Als Erich in Italien war, Hatte fie. eine 
Leidenfchaft für einen Maler gefaßt. Damals 
ſprach fie mir nody davon in ihren Briefen, und 
ichilderte mir den Zuftand ihres Herzens. D4 
die Sorge, die ich um fie begte, ob meine Ber 
griffe von der Heiligkeit der Ehe, die ich ih 
nicht verhehlen Eonnte, ‚fie dann beivogen haben, 
gegen midy zu fchweigen, weiß ich nit — — — 
dann glaubte ih —“ fte hielt ime — „id; hatte 
mich felbft verloren und fie faſt wergefien!“ rief 
fie im Tone fchmerzlicher Selbftanflage. 
„Ich weiß das!“ fügte Feldheim, „meine 
Schweſter hat mir davon gefagt. Wohl Ihnen, 
dag Sie ſich zuruͤck in's Xeben finden. Ihr tuͤch⸗ 
tiger Kopf iſt auch zu gut für Weltentfremdung- 
Sie. hatten e8 bach nur mit ſich allein zw thun, 
die arme Gräfin aber ift, feit Camillo ſich mit 
einer reichen ruffifchen Prinzeß verheirathete, in 
bie Hände eined wahren Daͤmons gefallen, ber 
feine Gründe hat, fie feft zu. halten.“ 


„Aber der Graf?“ ‚fragte Cornelie beängftigt, 


— „läßt denn ber Graf fie ſchutzlos?“ 


N 


1 


411 





et Maler zuckte die Schultern. „Ihre 
der hat mir ſelbſt geſagt, ſie habe einſt 
m Grafen volle Freiheit für ihr Handeln 
rt und er habe fie ihr mit feinem Wort 
t. Er läßt fie gewähren. Die Gräfin 
eider davon auch ganz allein die Schuld! * 
ch! rechtet nicht! rechtet nicht vor ſolchem 
“ rief Cornelie und brady in Thränen aus, 
mir, Ihr, die Ihr Menfchen feid, was 
was thut Helene?“ 

dheim antwortete nicht gleich, ſchien zu 
en und fprah endlih: „Geben Sie mir 
tort zu fchweigen, fo follen Sie es wiflen!“ 
rnelie reichte ihm die Hand, er nahm fie 
gte: „Die Bräfin malt von früh bis fpät, 
it dem Ertrage ihrer Arbeit die immer neuen 
ven jened Elenden zu beden, fo weit es 
y it! Er felber hat einen verfchiwiegenen 
dmann gefunden, der die Gemälde außer- 
erhandelt! Im Saale Ihres Serm Vaters 
ein ſolches Bild!” | 
n unferm Saale?" fragte Cornelie mit 
lihem Erftaunen. 


d 


a2 





„Das Feſt der Madonna von Piedi Grotta“ — 

„SR von Agnello!“ — fiel ihm ornelie 
in's Wort. 

Feldheim fchüttelte verneinend das Haupt. 
„Es lebt in ganz Italien fein Maler diefes Ne 
mens, alle‘ Werke, welche unter bemfelben feit 
drei Jahren Auffehen in der Kunftwelt machten, 
find Arbeiten der Frau Gräfin,“ 

„Aber die Berichte der Journale über Agnel⸗ 
lo's zurücgezogene Lebensweife im Gebirge, über 
feine Anonymität und feine einfamen Reifen in 
fernen Zonen — —“ | 

„Sie find offenbar erfunden, der Gräfin freie 
Hand zu lafſſen!“ 

Cornelie fühlte fih wie von grelem Licht ges 
blendet, nicht fühlg die Zuftände zu überfehen; 
aber dad Elend ihrer einzigen Schwefter ftarrte 
ihr wie ein bobenlofer Abgrund entgegen. 

„Mnd das Alles gefchah! fie rang mit aller 
Roth des Lebens!” rief fie endlich aus, „fie ar 
beitete Tag und Nacht und ich, ich dachte nur 
an mid und an mein Seelenheil! * 

Sie weinte bitterlih. Als fie ſich beruhigt 


413 


», reichte fie den Freunden die Hänbe und 
„Sagt mir, was fol ich thun?“ 
„Nach Reapel gehen, da die Gräfin es ablehnte 
er zu kommen,” meinte Feldheim. 
Bornelie horchte auf, der Gedanke traf fie und 
n in ihr eine Reihe von Vorftellungen zu er 
m. „Das gab Ihnen Gott ein!" rief fie 
— „Sie werben uns Beide erretten!“ und 
furz verabfchiedend, entfernte fie fich gleich 
uf. 
Ste war ftil und nachdenfend den ganzen 
id; ald der Baron zur Ruhe gegangen war, 
fie fih Schreibgeräthe in den Saal bringen, 
fi) vor dem Bilde ihrer Echweiter nieder 
ſchrieb faft bi8 zum Morgen. Fruͤh als ber 
he Bote in das nächfte Städtchen ging, nahm 
wei Briefe für die Gräfin und für Pleſ—⸗ 
mit. Man Eonnte fie al8 Befenntniffe be- 
ıen. Der Brief an Pleſſen lautete: | 
Se näher der Tag unferer beabfichtigten Vers 
ng und Deiner Ankunft mir rüdte, um fo 
er ift mein Herz geworden, um fo enftlicher 
ch in mid) gegangen, mich zu prüfen und 


Aa 


diefe Prüfung bat mir unwiderleglich dargethan, 
daß wir uns fchon feit längerer Zeit nicht mehr 
auf gleihem Standpunkte befanden, daß wir «6 
wußten, und und nur der Muth gebracdh, es aue 
zufprechen! Sch klage Dich, ich Elage mich bed 
bald nit an, mein Freund! Der Irrthum, ke 
und umfing, hatte feine Quelle in unferer ganzen 
Slaubensrichtung, dieſe ift nicht mehr diefelbe 
und wir dürfen und alfo auch nicht länger taw 
{hen ber die Bedeutung, die wir für einander 
hatten, die wir fünftig für einander haben Eönnen! 

„Erfahrungen der fchmerzlichften Art Haben 
mich belehrt, daß der blinde Glaube, den wir zu 
unferem Panier erhoben hatten, ein Verbrechen 
gegen die Vernunft, daß er bie Duelle alles 
Aberglaubend und die Urſache der traurigften 
Derwirrungen im Leben werden kann. Du felbft, 
Lieber! haft es mir einft geftanden, wie die gänz- 
liche Ungleichartigkeit unferer Naturbegabung, bie 
mich Dir zuweilen als eine erwünfchte Freundin 
erfcheinen ließ, Dir noch öfter fremd und abftos 
Bend gewefen ift, und wie Du ftetd Bedenken 
getragen haben wuͤrdeſt, Dich) mit mir zu verbins 


4 


415 


hätte nicht ein Fingerzeig des Höchften, wie 
es nannteft, Dich zu mir geführt, Weil Du 
9 betrachteft, bift Du auch jet geneigt, ein 
dniß aufrecht zu erhalten, dad und Fein Heil 
yricht, denn wir empfinden, denken, glauben 
t mehr gleih — und was ift die Ehe, was 
ı fie fein, wo diefe Grundbedingungen ihr fehlen? 
„Grade unfere Unzufammengehörigfeit konnte 
die Lehre geben, daß ed ein Frevel war, in 
m Zufalle, der und verbunden, den Fingerzeig 
8 Gottes fehen zu wollen, den wir ald den 
veifen, den Allgütigen verehren. Gott kann 
richt wollen, daß fein Ebenbild, der Menſch, 
orgehe aud den Umarmungen zweier Gatten, 
m die rechte Liebe fehlt, die fich Feine ausfuͤl⸗ 
e Nothwendigkeit, und die dahin gefommen 
, einander ald die Mittel der Selbiterziehung 
betrachten, jener egoiftifchen Selbdfterziehung, 
den Nächten vergißt, wenn er nicht ebenfalls 
st wird, die eigenen Tugenden an ihn aus—⸗ 
N und zu entfalten. 

Wir glaubten uns einfeitig und ausfchließlich 
Is ſelbſt vollenden zu können und vergaßen, 


416 


daß wir nicht ald Einzelmejen daſtehen, fondern 
daß jeder von und mit angeborenen Verhältnifien, 
mit angeborenen Pflichten auf die Welt fommt, und 
dag man fi durch eine Erziehungsweife nicht er 
heben kann, die und von jenem naturgemäßen Bw 
den unferes Lieben und Wirfens entfremdet. Wit 
glaubten und zur höchften Selbftlofigfeit erheben 
zu müflen, und wir verarmten an Liebe, wir wol 
ten werden wie die Kinder und verlernten, und 
wie fie dem Zuge unferer Herzen, unferer Neigum 
gen unbefangen hinzugeben, Wie aber durften 
wir e8 wagen, und diefem Zuge der Natur zu 
überlaffen, da wir und fagten: „des Menfchen 
Dichten und Trachten fei böfe von Jugend an?" 
Wie durften wir ed wagen, von dem allweifen 
Gott der Liebe zu behaupten, daß er den Mens 
ſchen alfo erfchaffen ? 

Sch fehe mit fchmerzlichem Erfchreden, wit 
fehr ich irrte, wie viel ich verfäumte, wie viel 
ih gut zu machen habe, an meinem Vater, an 
meinen Gefchwiftern und vor Allen auch an Dir. 
Sch würde verfuchen, Dir meine Zufunft zu wer 
hen, zu Deinem Wohl zu leben, hätte ich eb 


417 


— — — — — — 


klar empfunden, daß eine Frau dem 
ie wohlthuend zu werben vermag, dem 
ht aus innerer Nothwendigkeit in freu⸗ 
iebendem Müflen dienftbar macht. Die 
ve ift ein Richtanderdfönnen, ift ein Un⸗ 
ed, iſt ganz Empfindung ohne Re 
- und alles Befte in und muß ja fo 
iß aus und hervorgehen, wie die Blüthe 
Stiel der Blume. So habe ih Dich 
ebt, fo fönnte ih Dich nicht lieben, 
Eympathie, die mich zu Dir gezogen 
ne ed feine Härte meines Weſens, daß 
iefem nadten Geftändniß vor Didy trete; 
» es Dir und mir, Dir feinen Zweifel zu 
b darf, nun ih den Zuftand meines 
enne, nicht die Folgen eines Irrthums 
e Häupter herabziehen, in den wir und 
ich verftridt haben. 

halte Dich wertb und in Ehren, denn 
ehr gut und bift mir immer ein milder, 
er Freund geweſen. Ich danfe Dir 
‚ aller Art, Dein Wohl und Weh wird 
theuer fein, Dein Andenken geheiligt, 
gen. I. 97 


418 


und Loch fann ih Dein Weib nicht werden, 
Dad Einzige, was ich für Dich zu thun vermag 
in unjerer Lage, ift, daß ich es bin, die unſer 
Buͤndniß löft, daß ich Dir Deine Freiheit wieder 
gebe, die Du wohl auch erfehnft, und die Deme 
Großmuth fich fcheut von mir zu fordern. 

„Du ſuchteſt Ruhe und Dein milder Sinn 
wird fie finden in der betradytenden Stille, zu 
der Du Dich zurüdzuziehen vorhaft, Du wirft 
auch meiner dann wieder freier und Liebevoll 
denfen, und wirft vergeben, was Dich an mit 
fränfte, was meine Unbefriedigung Dir an Veh 
gebracht, 

„Sch aber will fortan ftreben, mich wieder 
zufinden, indem ich mich vergeffen lerne, mid) zu 
erziehen, indem ich mich an Andere hingebe. Id 
will verfuchen, immer nur das Nächfte anzugrei 
fen, damit mir fchlichted Thun das reflectirte 
Wollen abgewöhne und meinen Hochmuth nie 
berhalte, der die Duelle aller unferer Leiden war. 

„Eine Liebespflicht ruft mich in die Serne; 
ih hoffe, mein Vater geftattet mir, fie zu erfüllen 
und Helenen Beiftand und Troſt zu bringen, bie 


N‘ 





419 


ſehr bedarf. Die Entfernung wird ſich 
lthuend legen zwifchen Dir und mir, und das 
ußtfein uns über dad Weh eines folchen frei« 
gen Scheidens forthelfen, daß wir bamit das 
‚te thaten und Uebel von und abgemwenbet 
N. | 
„So fei denn der Segen des Himmeld mit 
Beiden und das Auge Gotted auch auf dem 
de, den ich zu gehen denke. Xebe wohl, guter, 
r Freund! erinnere Dich meiner, wie ich an 
7 gedenken werde, in Neigung und in Mit- 
bl, und bete für mich, wie ich zu Gott flehen 
de um Dein Heil, um Deinen Frieden, — — 
it laß und fcheiden!“ 
Tief aufathmend hatte fie den Brief beendet. 
Rı faltete fie die Hände zum Gebete; aber 
— hatte fie es gethan, als fie fih erhob, 
zu jet beten!” rief fie aus, „ift es doch Bots 
Rube, die ich fühle, war es doch eine Got⸗ 
inme in ber eignen Bruft, die mich fchon 
ermahnte, zu handeln, wie ich jest gethan. 
' mußte fein, ed war Nothwendigfeit, und 
war’d Gebot!” 

27* 





20 


An dieſem Moment fielen ihre Augen auf 
dad Delgemälde, das Werf der Gräfin. „Und 
dält nicht auch Helene ihre Handlungsweife für 


Rotbwendigkeit? If es ihr nicht Nothwendigkeit, 


dem Wanne beisuftehen, der fie beherrſcht? Schien 
ed ibr nicht eine Nothwentigfeit, als fie vom 
Grafen ibre Freibeit forterte? Hielt er es nicht 
für nerbwentig, fie zu gewähren? — Wo if 
die Graͤnze? wo tie Wahrheit?“ fragte fie fih 
prüfent, und ohne Betenfen antwortete fie fi: 
„Das, was ter Menſch in ruhiger Ueberlegung 
fortdauernd al& eine Rothwendigfeit für fich ers 


fennt, das ift Geſetz für ihn, dem muß er fol Ä 
gen; und darin liegt der Friede,” fchloß fe 


tie Sclbitbetrachtung, „ben ich jegt empfinde.“ 

Daß fie mit dieſer Erfenntmiß den Gott ents 
thronte, der über der Erde die Thaten der Mens 
jchen lenkt und wägt, daß fie den Gott in ihre 
eigene Bruft verjegte, den fie fortan zum Gejeb: 
geber und Richter über ſich erhob, deſſen war fie 
ſich in Liefer Stunde nicht bewußt; aber bie 
Gedanken, die in und entfiehen, find die Pfeiler, 
aud denen fi) unſere Zukunft aufbaut, 


a 


a an nn nn 





Achtzehntes Kapitel, 





eich von der Ermüdung der durchwachten 
bewegt durch innere Erregung, trat Cor» 
m naͤchſten Morgen vor den Vater hin. 
ch komme, lieber Vater!” fagte fie, „von 
e Billigung eines Schritted zu erbitten, 
gethan habe!“ 
t Baron, der eben eine Unterredung mit 
nfpector beendet hatte, und mitten unter 
ingsbuͤchern faß, fchien zufrieden zu fein 
m Erfolge feiner Conferenz, denn er ſah 
aus, und ſich zu der Tochter wendend, 
er fcherzend: „Der Billigung nach) voll; 
r That kannſt Du entrathen; aber ich hoffe 


422 


Dir zuftimmen zu fönnen, ba es fih um feine 
Lebendfrage handeln wird. Was wünfcheft Du?“ 

Cornelie fühlte ſich durch die feltene Heiterkeit 
bed Vaters befangen. Sie hätte ihm die gute 
Stunde nicht trüben, ihm die Mittheilung in die 
fem Augenblid nicht machen mögen, und zögernd 
fagte fie: „Dennod ift es eine Lebensfrage, 
Vater!“ — 

Er fah fie fragend an. 


„Ich habe Herm von Pleffen fein Wort zw 
rüdgegeben!” 


„Nein! Nein!“ rief der Baron, indem er fd 
erhob und mit der, ganzen ftolzgen Haltung feiner 
würdigen Geftalt ihr gegenüber trat. „Das haft 
Du nicht gethan!“ 

„Ich that es, lieber Vater!" wiederholte fie 
mit einer Weichheit, die ihr dem Baron gegen | 
über fremd geworden war; „ich mußte «8 
thun!“ 

„Du mußteſt? Wo gab es ein Muß für Did, | 
ald den Willen Deined Vaters? Mo gab es ein 
Muß für Dih, ald mir zu geborchen, als bie 





423 


y zu fchließen, in die zu willigen ich mid) 
Biderftreben entfchloffen habe, um Deine 
u retten, um — —“ 
ch weiß dad, Vater!” bat fie, „ich weiß, 
Dir ſchwer ward, mir damald Deine Zus 
ng zu geben, und ich habe dad Opfer Dir 
erzen gedanft — aber grade darum — 
in ich Dein Spielball?" zürnte der Baron, 
: Du, ih folle dad Werkzeug Deiner Thors 
Deiner Selbftverblendung fein? wortbrüchig 
ı am Ende meines Lebens?" — 
ater!" bat Gornelie, „und hatte ich nicht 
ein Wort zu löfen? Sollte ich denn 
n, dad Weib eined Manned zu werben, 
nen Manne unterzuorbnnen, den ich fchäßte 
rt den ich nicht zu achten, nicht — —“ 
u hatteft den Mann zu’achten,“ fagte der 
‚ „der fi großmüthig dazu bergab, Dei⸗ 
uf zu retten, denn diefen Ruf — hats 
» entehrt!“ 
wter!“ rief Cornelie, „Vater! nimm das 
drück.“ 
x hatteſt Dich entehrt!“ wiederholte er. 


424 


„Oder meinft Du, ich hätte den Tag vergeflen, 
an dem ic) daftand neben Dir vor Deinen Ric» 
tem? an dem ich meine Tochter, an dem id 
eine Freiin von Heidenbruck um die Art ihrer 
Gemeinfhaft mit Männern befragen hörte, bie 
man ber Unfittlichfeit befchuldigte? Glaubſt Du, 
das Nichtfehuldig der Richter fpräde Dich frei 
in den Augen der Welt? Glaubft Du, es nähme 
den Schimpf von meinem Haupte, den Du 
mir angerhan? Denkſt Du, ich Fönnte bad 
vergefien? Denkſt Du nit, daß mir Dein 
Anblid in jeder Stunde ed vor die Seele ruft, 
wie weit Du Dich vergangen, bi6 wohin Du es 
gebracht haft?“ 

Sein Gefiht flammte, feine Blicke brannten 
in Zorn. 

Eornelie regte fi) nicht. Keine Thräne fam 
in ihr Auge, fein Laut über ihre Lippen. Sie 
fhien erftarrt zu fein. Der Baron ging mit gt 
Ben Schritten im Zimmer auf und nieder, plöß 
lich blieb er vor ihr ftehen. 

„Du wirft Pleſſen's Frau!” fagte er fireng. 

„Das kann ich nicht, das kann ich nicht meht, 


425 


— — 


ter!“ rief ſie, „ſelbſt Pleſſen wuͤrde es nicht 
e wollen!” 

„Er muß es wollen!“ herrfchte der Baron. 
icht Du, nicht er follt fpielen mit dem mir ges 
enen Wort! Er muß es wollen!“ 

„Vater!“ flebte Cornelie, „ift es nicht genug, 
: Du Helme unglüdlid) gemacht haft? nicht 
ug, daß Deine Strenge fie in namenlofes 
nd ſtürzte? daß ein fchulpbefledtes Leben fie 
rückt?“ — — 

Der Baron trat nahe an fie heran, faßte ih- 
Arın mit feftem Drude, und fagte mit furdht: 
er Kälte: „Vorwürfe? Du wagſt ed, mir Vor⸗ 
fe zu machen? Du? die Schande meines 
ers?" — 

Mit heftiger Bewegung ftieß er fie zurüd, 
r dann aber fchaudernd zufammen, ald komme 
n dad Bewußtſein deffen, was er gethan, — 
d beide Hände gegen feine Stirne fchlagend, 
ließ er das Gemach. 
Cornelie hörte feine Schritte auf dem Mars 
rboden ded Vorſaals; als fie verhallten, war 
todtenftil. Sie war wie niebergeivorfen von 





424 


„Oder meinft Du, ich bätte den Tag vergeflen, 
an dem ich daftand neben Dir vor Deinen Rid» 
tem? an dem ich meine Tochter, an dem id 
eine Freiin von Heidendbrud um die Art ihrer 
Gemeinfhaft mit Männern befragen hörte, bie 
man der Unfittlichkeit befchuldigte? Glaubſt Du, 


das Nichtſchuldig der Richter fpräche Di fi 


in den Augen ber Welt? Glaubft Du, es nähme 
den Schimpf von meinem Haupte, den Du 
mir angethan? Denkſt Du, ich Fönnte bad 
vergefien? Denkſt Du nit, daß mir Dein 
Anblid in jeder Stunde e8 vor die Seele ruft, 
wie weit Du Did) vergangen, bis wohin Du es 
gebracht haft?“ 

Sein Gefiht flammte, feine Blide brannten 
in Zorn. 


Cornelie regte fich nicht. Keine Thräne fam 


in ihr Auge, fein Laut über ihre Lippen. Sie 
fhien erftarrt zu fein. Der Baron ging mit gro 
Ben Schritten im Zimmer auf und nieder, plöß 
lich blieb er vor ihr ftehen. 
„Du wirft Pleffen’d Frau!” ſagte er ftreng. 
„Das kann ich nicht, das Fann ich nicht mehr, 





|, zu welcher der Baron fi) zwang, aͤng⸗ 
ie, und war fo ohne allen Zufammenhang 
m Austrud feiner Züge, daß Augufte ten 
lick erfehnte, in dem er ſich zurüdzuziehen 
Es war, ald ob der Friede und die Zwie⸗ 
ich verkörpert hätten in den Räumen, in bes 
herrfchten, als ob man fie fehen, fie em⸗ 
fönnte, als ob ınan fie einathmete auch ges 
nen Willen, — 
r Nacht, ehe fie fich niederlegte, trat Aus 
och an einen Blumentifch heran, die Plan» 
. begießen. Die Rofen dufteten ihr voll 
n, aber ihre Pracht erfchien dem Mäbds 
ie ein Hohn. „Wie das hier nur fo 
n kann!“ ſprach fie zu fich ſelbſt. „Daß 
ht Alles welft vor Trauer und vor Zwies 
u 
e Fonnte den Echlaf nicht finden in ber 
Mehrmals glaubte jie die Tritte des Bas 
zu vernehmen, der über ihrem Zinmer 
, dann hörte fie eine Thüre öffnen. Ges 
torgen ſchlug plöglich der Fleine Hund des 
an, und lief die Treppe Hinunter, ale 


426 


des Vaters fchwerem Worte, in einen Eefjel ge 
funfen, ihr Haupt auf ihre Bruft herabgefallen. 
Jetzt richtete fie fich langfaın empor, fah im Ges 
mad umher, ald wolle fie an der Wirklichkeit der 
Dinge prüfen, ob fie nicht geträumt Habe, und 
blieb dann lange, in Gedanken verfunfen, auf 
derfelben Stelle fiten, bis fie fih in ihr Zim⸗ 
mer zurüdzog, das fie hinter ſich verfchloß. 

Mittags erfchien fie nicht zur Mahlzeit, ließ 
auh Augufte, die nach ihr ſehen wollte, nicht 
bei fi ein. Am Abende ging fie durch die ents 
legeniten Wege ded Parkes in dad Dorf, dann 
weilte fie am Grabe ihrer Mutter auf dem Kirch⸗ 
hofe, und fehrte erft fpät wieder in dad Schloß 
zurüd, 

Der Baron und Augufte fpeiften allein zu 
Nacht in dem großen Saale, und ohne daß bie 
Legtere wußte, was zwifchen dem Water und ber 
Tochter vorgegangen war, theilte fich die büftere 
Stimmung des Barons ihr mit. Der Saal fam 
ihr in feiner Größe unheimlich vor, die Familien» 
bilder in dem Halblicht fpufhaft, der Klang ber 
Stimmen fchallte fremd. Die gleichgültige Unter 


Neunzehntes Kapitel, 


— 6ꝰt'— — 


d ein Unerwartetes war geſchehen: Corne⸗ 
te das Vaterhaus verlaſſen. 

hon am Abend hatte fie dem Kutſcher aufs 
n, um vier Uhr Morgens den Eleinen Eins 
r bereit zu halten, den fie einft angefchafft, 
Irmenpflege in der Umgegend zu beforgen 
en fie felbft zu fahren geübt war. Da fie 
8 Hausrath und Kleidungsftüde für bie 
idenden bei diefen Befuchen mitzunehmen 
‚, hatte ihre Kammerjungfer fein Arg gehabt, 
ad Fräulein einen Koffer gefordert, ihn ei- 
ndig vollgepakt und am Morgen mit fid) 
men hatte; und wenn dem Kutjcher und ber 


428 


folge er Jemand. Sie fand von ihrem Lager 
auf, ging an das Fenſter, aber es war Niemand 
zu fehen, und müde fchlief fie endlich mit dem 
Gedanken ein, daß irgend ein Unerwartetes ge 


fchehen fein müfle. 


431 


omeliend Wagen fommt von der Birken- 
yerab, lieber Onkel!“ fagte Augufte, 


tr Baron athmete auf, wie von fchwerer 
befreit, entgegnete aber mit falten Tone: 
fe Eornelie zu mir, wenn fie kommt!“ und 
h auf fein Zimmer zurüd. 


hon nach) wenigen Minuten langte dad Ca⸗ 
auf dem Hofe an, indeß ein fremder Bur⸗ 
hrte es, und brachte einen Brief Eorneliend 
en Vater. Er enthielt die folgenden Zeis 


zs giebt Worte, die fich nicht vergeffen lafs 
reigniffe, die man nicht ungefchehen machen 
mein Vater! Worte die fich ald unüber: 
be Scheidewand zivifchen die Menfchen ftels 
Ih kann die Irrthümer nicht aus meinem 
nehmen, durch die ich in Deinen Augen 
ntehrte, ich fann die Worte nicht vergeflen, . 
u mir gejagt haft, und es ift mir unmöglich, 
im Vaterhauſe auszudauern, feit ich weiß, 
u mid) feiner unmerth achteft. 


sch werde mich in Helenend Nähe begeben. 


430 


Dienerſchaft die ungewoͤhnlich frühe Ausfahrt auf— 
gefallen war, fo hatten fie ſich zwar untereinan- 
ber über die neue Grille der Herrfchaft audge 
fprochen, aber ihre Befehle nach gewohnter Weile 
ohne Weiteres vollzogen. 


Ad Cornelie beim Fruͤhſtuͤck fehlte und der 
Baron erfuhr, fie fei in aller Frühe auögefahren, 
erbleichte er fichtlich, und fragte nach einiger Zeit 
mit fcheinbarer Ruhe, weldye Straße fie einge 
fchlagen habe? Man wußte e8 ihm nicht zu fa 
gen. Er las dann, wie er ed gewohnt war, bie 
Zeitungen, und begab fich auf fein Zimmer. Ge 
‚gen Mittag fah Augufte ihn in den Park hinab 
gehen und ein Belvedere befteigen, von dem man 
einen weiten NRunbblid hatte Er war büfter 
und fchweigfam ald er davon zurüdfan, und bie 
Mittagstafel verging den Beiden noch trauriger 
als das legte Abendbrod. 


Ehen hatten fie ſich vom Mahle erhoben 
und der Baron beftellte, ihm ein Pferd zu fat 
teln, als die Kammerjungfer Corneliens eintrat 
und Auguften leife eine Meldung machte, 














435 


: trat näher heran, beugte fi) zu dem 
en hernieder und fagte leife: „Er ift doch 
eſtorben, Erich?” 

h trüg' es leichter, als ſolchen Brief von 
rief er mit dem Tone des tiefften Kummers. 
jine fand angfivoll neben ihm. Cie wagte 
m Brief zu fordern, fie wußte nicht, wie 
Bekuͤmmerten ſich nahen folle, denn Erich 
ıft immer ihre Theilnahme an den Ange 
iten feiner Bamilie mit einer fie Eränfen- 
‚tfchiedenheit zurüdgewiefen, und mit fanfs 
jen bat fie: „Soll ich nicht wiffen, was Dich 
üttert, Erich? Ich Angftige mich um Dich!“ 
ornelie ift aus dem Vaterhauſe entflohen 
it vierundzwanzig Stunden in Berlin!“ 
:ete er troden, ftand auf und d hide ſich 
1ögehen an. 

o wilft Du zu ihr?“ 

h muß fie aufiuchen, das ift auch Fein 
Amt! Ich wollte” — er vollendete nicht, 
fügte: „Lied den Briefl* und ging dann 
tt, 


gebrängter Kürze meldete der Water dem 
28* 


436 


Sohne dad Vorgefallene und forderte ihn auf, 
falls die Schwefter nicht zu ihm Fäme, fie aufzuſu⸗ 
chen, fie um ihre Pläne zu befragen, und ihr mit 
zutheilen, daß der Baron ihre Reife nach Neapel 
felbft ald rathſam anfehe und daß Erich fie dw 
hin begleiten werde, „Ic rechne darauf, mein 
Sohn,” hieß ed dann weiter, „daß Du augenblid- 
lich aufbrechen und Alles thun wirft, was "Dit 
nothwendig fcheint, um Auffehen zu vermeiden, 
und ich lege unfere Ehre vertrauensvoll in Deine 
Hand, weil Du allein von allen meinen Kindern 
gewußt haft, was Tur ihr fehulbig bift. 

„Es liegt ein hart Gefchik auf mir, Don 
vier Kindern, die ich auferzogen habe in den ftreng- 
ften ©efegen der Moral und Ehre, bift Du allein 
mir geblieben, auf den idy meine Augen hoffend, 
als auf den Erben unferes Namens, ald auf den 
Erben der Achtung richten kann, die ich ihm er 
worben zu haben mir bewußt bin. Helene und 
Cornelie haben es dahin gebracht, daß ich mid 
Iheue, ihrer Verhältniffe zu gedenfen, und Georg 
giebt unferen alten Namen auf der Börfe Preis, 

„Sie haben es dahingebradht, daß ich den Tag 





437 


mehr beflage, an dem Eure trefflihe Mutter 
br Auge Schloß. Wohl ihr, daß fie nicht 
yauen brauchte, was ich ſeitdem erlebt an 
ı Kindern. 

sch fühle meine Kraft entjchwinden, aber es 
ht das Alter, das fie bricht. Die Schmad) 
Schande meiner Kinder, die mid unvers 
t trifft, beugt mich danieder, Mein Haus 
amt um mid ber. Es wäre Zeit, daß 
nein Erftgeborener, mein theurer Eohn, ber 
ir nie Anlaß zu irgend einer Klage gegeben 
jeit Du verantwortlich für Deine Handluns 
ft — es wäre Zeit, mein Sohn, daß Du 
hrteft in Dein Baterhaus, daß Du mir in 
: fünftigen Gattin Erſatz gewährteft für 
Töchter, die fo wenig ihrer edlen Mutter 
n. Auf Dir, mein Sohn, beruhen die lehs 
offnungen meined Lebens, auf Dir bie 
n, bie ich noch erwarten fann, und Du 
ftend wirft fie nicht zu Schanden machen, 
icht, denn Du weißt, wad Du mir, was 
)ir felber ſchuldeſt. 

Begleite Deine Schwefter nad) Neapel und 


A38 


dann kehre dorthin zurüd, wo Dein Vater Did 
erwartet. Gott fei mit Dir, mein geliebter Sohn!! 

Regine lad den Brief und las ihn wicht. 
Er bohrte fich ihr fohmerzlich in die Seele. Sie 
fonnte nachempfinden, was Erich dabei fühlen 
mußte; kam fie fich doch felbft wie ſchuldig vor 
gegen den Baron, hatte fie felbft doch Mitleid 
mit dem Greife, ber fih fo in feinem innerften 
Leben angegriffen fühlte. Vor einem jremben 
Zeiden vergeflen großmüthige Naturen leicht ben 
eignen Schmerz, weil der Wunfch zu helfen fie 
ein befchäftigt. Sie dachte, welch ein Kummer 
Erich's Verhaͤltniß zu ihre dem Vater fein müflt, 
hätte er davon erfahren. Sie ftellte fich die Mög 
fichfeit vor, daß Cornelie den Bruder in feine 
Wohnung aufzufuchen Fäme, und fie in berfelben 
ande, Sie begriff nicht, daß der Baron nid 
längft von ihrem Dafein unterrichtet worden, 
fie malte es ſich aus, in wie vielen Fällen Erid 
vor diefer Möglichkeit gezittert haben mochte, 
und fo oft ein Fußtritt auf der Treppe fchallte, 
fchraf fie zufammen, denn fie glaubte Cornelie 
fommen zu hören. 


— 430 


e Angſt, dieſe Gedanken entwurzelten ſie 
Umgebung, in der ſie ſich befand. „Wie 
) iſt es,“ rief fie aus, „fein Daſein vers 
u müffen! wie fann, wie fol Erich mich 
venn er beftändig daran denfen muß, meine 
ıheit zu verhehlen? Wie kann er mich lies 
fein Vater mich verfluchen würde, wüßte 
ih feinem Sohne bin?“ 

begriff es nicht, daß Erich jemals eine 
Stunde an ihrer Seite genofien hatte, fie vers 
„ jemald wieder Frieden zu finden neben 
Sie verzieh ihm alle Härte und Mißs 
'g, fie klagte fich ihrer Liebe an, fie bes 
: al8 ein Verbrechen gegen ihn zu betrach» 
d doch war biefe Liebe unverändert mäd)« 
br, das tieffte Gefühl ihrer Seele. 

war ihr unzweifelhaft, daß Erich dem 
ines Vaters Folge leiften, daß er heim- 
werde zu ihm, denn wie Fonnte er dem 
e feined Vaters widerftehen? Hätte fie 
in Vater gehabt, fie würde ihn ja nicht 
: haben. „Hätte ich einen Vater gehabt,“ 
aus, „ed wäre ja Alles nicht geichehen! 


440 


AU das Elend wäre nicht herein gebroden 
über mich, ich wäre ja ftill und fleißig geblieben an 
feiner Seite und hätte mid) vor Niemand zu ſcheuen, 
Niemand hätte fich meiner zu fehämen gebraucht!" 

Die Tage, in denen fie nach dem Tode ihre 
Vaters einfam und arbeitfam gelebt, das kleine 
friedliche Stübchen, das fie bewohnt, die Freund 
lichkeit ihrer alten Nachbarin, die Theilnahme, die 
ihr diefelbe bewieſen, traten ihr lebhaft in das Ge⸗ 
bächtniß, und ſchienen ihr fehr genußreich, wenn fie fie 
mit ihrer jebigen Lage verglih. ine tiefe Sehn⸗ 
fucht nad) Ruhe, nad) innerer Ruhe beimächtigte 
fi ihrer. AM die Stunden, weldye fie in Qua⸗ 
len der Eiferfucht verlebt, wenn Erich bei ber 
Frau von Werde verweilte, all die Tage, in des 
nen fein Mißmuth fie gedrüdt, feine wachſende 
Reizbarfeit fie gemartert, fanden als ein Bild 
der Angft und Unruhe vor ihrer Seele, felbft die 
Erinnerung an jene Ergüffe der Liebe, zu denen 
er fih dann oftmald wieder hingeriſſen zeigte, 
trugen nur dazu bei, jened Gefühl der Angftigen- 
den Unruhe in ihr zu fleigern und ihr Verlangen 
nad) anderen Zuftänden zu erregen. 


441 


„Ausruhen! nur einmal ausruhen!“ ſeufzte 
„Nur allein fein, nur nicht mehr die Noths 
idigkeit haben zu gefallen, um geliebt zu wers 
; denn waß ift die Liebe, die man täglidy neu 
bern, täglich neu erfaufen muß? Was fann fte 
ich, was kann ich ihm noch fein, neben der 
Onme feines Vaters, der ihn, ruft, der ihn bie 
te Hoffnung feined Lebens nennt? Mußte 
nicht dahin fommen, mich als die Duelle aller 
er Leiden anzufehen? Mußte er nicht dahin 
nmen, die Stunde zu verwünfchen, die und zu 
ander führte?“ 
Der ganze Abend verging ihr in dieſem 
hmerz. Es war fpät, ald Erih nach Haufe 
n. Sein verbüftertes Ausfehen war nicht ger 
ht fie zu ermuthigen. Er hatte bie Fremden⸗ 
en nachgeſehen, die Poſtregiſter durchforſchen 
ſen, in keinem derſelben war der Name ſeiner 
hweſter zu finden geweſen. Kein Bekannter 
er Familie war, nach den Poſttabellen, an dem 
a feinem Vater bezeichneten Tage auf dem 
urfe gefahren, fo daß man hätte Ausfunft von 
n fordern können, ob Cornelie vielleicht früher 





438 


dann kehre dorthin zurüd, wo Dein Vater Did 
erwartet. Gott fei mit Dir, mein geliebter Sohn!” 

Regine las den Brief und lad ihn wieder. 
Er bohrte fich ihr fchmerzlich in die Seele. Sie 
fonnte nachempfinden, was Erich dabei fühlen 
mußte; Tam fie ſich doch felbft wie ſchuldig vor 
gegen den Baron, hatte fie felbft doch Mitleid 
mit dem Greife, der fih fo in feinem innerften 
Leben angegriffen fühlte Vor einem fremden 
Leiden vergefien großmüthige Naturen leicht ben 
eignen Schmerz, weil der Wunfch zu helfen fie 
allein befchäftigt. Sie dachte, weldy ein Kummer 
Erich's Verhaͤltniß zu ihr dem Bater fein müflt, 
hätte er davon erfahren. Sie ftellte ſich die Mög 
fihfeit vor, daß Cornelie den Bruder in feiner 
Wohnung aufzufuchen Fäme, und fie in verfelben 
ande, Sie begriff nicht, daß der Baron nidt 
längft von ihrem Dafein unterrichtet worden, 
fie malte es ſich aus, in wie vielen Fällen Erid) 
vor dieſer Möglichfeit gezittert haben mochtt, 
und fo oft ein Fußtritt auf der Treppe fchallte, 
fchraf fie zufammen, denn fie glaubte Cornelie 
fommen zu hören. 


443 


ih, ſchrieb auch noch öfter ald zuvor, und 
8 hörte Regine ihn feufzen, wenn er fie 
ig oder abfendete, 

o ging der Sommer zu Ende, der Herbft 
an und die Abende wurden länger. Erich 
viel zu Haufe, es lag etwas Gebrochenes 
‚nem Wefen, feine Phantafie war meift mit 
en Vorſtellungen befchäftigt, fo daß Regine 
ich für feine Gefundheit fürchtete, 

Infähig, ihn zu erheitern, fah fie ihn eines 
ds an ihrer Seite fiten. Er hatte das Buch, 
7 gelefen, fortgelegt, ven Kopf auf den Arm 
3t, und ftarrte gedanfenvoll vor ſich nieder. 
re betrachtete ihn lange, ein Entſchluß ſchien 
rer Seele zu ringen. Mehrinals legte fie ihr 
eug fort, als rüfte fie fich zu einer Unter: 
g, und immer nahm fie es wieder nur um 
figer auf, als wolle fie die Gedanken, bie 
alten, durch die Arbeit verfcheuchen. Ends 
wüdte fie die linfe Hand feft gegen die Aus 
wie es ihre Weife bei heftiger Gemuͤthsbewe⸗ 
war, und fagte leife: „Erich! ich fehe ja, wie 
icklich Du bift, warum fagft Du mir es nicht?” 


434 


— 


feine Frau Urſache hatten, Corneliens Reife nad) 
Neapel als eine Liebeöpflicht zu betrachten, aber 
die Dienerfhaft des Schloſſes war nicht über 
bie Flucht Eorneliend zu täufchen, wenn fchon fie 
diefelbe nach ihrer Weiſe deutete, 

Noch am Abend trug ein reitender Bote ein 
Schreiben ded Barond an Erich zu dem naͤchſten 
PBoftamte, und mochte der Vater auch die Kraft 
befigen, im perfönlichen Verfehr mit feiner Um 
gebung den Schein der Ruhe über fich zu breiten, 
feine Sorge, fein Gram und fein Verzagen [pre 
hen aus jeder Zeile feined Briefes. 

Erich befand ſich zu Haufe, ald er ihn em 
pfing, Regine war in feinem Zimmer, Sie fah 
ihn erbleichen, fah den Ausdruck feiner Züge im 
mer fehmerzlicher werben, bis er endlich das Blatt 
aus feinen Händen finfen ließ, und aufgeftügt in 
tiefen Gedanfen vor feinem Schreibtifch figen 
blieb, 

„Erich, fragte fie, was ift gefchehen?“ 

Er antwortete ihr nicht. 

„Iſt Dein Bater krank?“ 

Schlimmer als daß! 


— — — — ⏑— 
.- ug mn 5 ‚rm 2. NM 


435 


ie trat näher heran, beugte fi) zu dem 
iden hernieder und fagte leife: „Er ift doch 
geftorben, Erich?“ 
Ich trüg’ es leichter, ald folchen Brief von 
"rief er mit dem Tone des tiefften Kummers. 
tegine ftand angftvoll neben ihm. Sie wagte 
ben Brief zu fordern, fie wußte nicht, wie 
m Befümmerten fich nahen folle, denn Eric) 
faft immer ihre Theilnahme an den Ange 
heiten feiner Familie mit einer fie Fränfen- 
Entſchiedenheit zurüdgewiefen, und mit fanf 
jagen bat fie: „Sol ich nicht wiſſen, was Dich 
chüttert, Erich? Ich Ängftige mich um Dich!“ 
Eornelie ift aus dem Baterhaufe entflohen 
feit vierundzwanzig Stunden in Berlin!” 
ortete er troden, ftand auf und d ſchicie ſich 
Ausgehen an. 
So willſt Du zu ihr?“ 
Ich muß ſie aufſuchen, das iſt auch kein 
Amt! Ich wollte“ — er vollendete nicht, 
ın ſagte: „Lied den Brief!“ und ging dann 
fort. 


n gebrängter Kürze meldete der Water dem 
28* 


448 


zufammengebrochen unter ihrer Laft! Was habe 
ich nicht Alles erfonnen, Dir zu helfen, für Did 
zu forgen, Deine Zukunft angenehm zu maden, 
und Alles fchien mir Deiner doch nicht werth; 
Nichts fhien mir genug für dad, was ich Dir 
ſchulde!“ 

Der ſanfte Ausdruck ihrer Züge ſchwand, je 
laͤnger er ſprach, ein ſtrenger Ernſt trat an ihre 
Stelle, fie hörte ihm zu, ohne ihm zu antworten, 


Beide verfanfen in Schweigen, die Unterredung 
fam zu feinem Abſchluß. Die Nothwendigkeit 
ihrer Trennung hatten fie Beide anerfannt, ohne 


einen Zeitpunft für dieſelbe feftzufegen, und ängft 
lich beffommen, wie vor der Nähe eines fihen 
Todes, gingen ihnen die folgenden Wochen hin. 


Li 


yeiundzwanzigfies Kapitel, 





erften klaren Herbfttage Famen ber Ges 
Friedrich's fehr zu ftatten, und als knuͤpfe 
eberfehrende Erinnerung auf dem Punkte 
dem ihm das Bemwußtfein entfchwunden, 
feine erfte Brage der Ankunft der Gräfin 
ezan. 

ſchien es mit Freude zu hoͤren, daß ſie 
olgt ſei, verlangte aber Cornelie zu ſehen. 
igte ihm, ſie ſei verreiſt, er glaubte die 
alſo vollzogen, bis er allmaͤhlich durch 
das Geſchehene erfuhr. 

ſah er ſich Anfangs ausſchließlich auf die Ge⸗ 


t feiner Mutter und Auguſtens angewieſen. 
lungen. II. 29 


A450 


Die Freundlichkeit, welche die Lebtere der Mir 
fterin bewies, das Lob, welches diefe dem Fraw 
fein jpendete, die Neigung, die fie für daſſelbe 
hegte, trugen noch dazu bei, feine Dankbarkeit 
und Anerfennung für Augufte zu erhöhen, wäh 
rend fein Mitleid für fie durch die Kunde ange 
regt ward, daß Georg mit ihr gebrochen habe. 

Ihre Niedergefchlagenheit, des Barons ſich 
immer ſteigernde Abgeſchloſſenheit machten das Zu⸗ 
fammenfein mit ihnen druͤckend. Die Dienerfchaft 
nie vor ungerechtem Tadel von den verftimmten 
Gebietern ficher, beforgte unluftig den Dienk, : 
nur felten erfchienen Edelleute aus der Nachbar 
ſchaft, dem Baron einen Befuch zu machen, noch 
feltener wurden fie empfangen und Fein gern ge 
fehener Gaft betrat die Schwelle. Das Unglüd 
laftete über dem Haufe wie ein bdüfterer, fhweret 
Himmel, und die Güte, welche der Baron und 
Augufte dem Geneſenden bewiefen, vermochte ihn 
nicht zu erquiden. Sie war wie das Eonnenlicht, dad 
ftumpf und fahl in Wintertagen aus den Wolfen 
hervorbämmert und bie ſchwere Luft und die win 
terlihe Starrheit noch fühlbarer macht. 








451 


ſprach von Erich's Ruͤckkehr, die er vers 
und hoffte auf fie, wie der Menſch auf 
änderung hofft, wenn feine Zuftände ihm 
find; aber man wußte nicht, wann er 
würde, und wußte noch weniger, was 
yentlich davon erhoffte So war es denn 
), daß Friedrich, den trüben Einprüden 
ehen, ſich oftmals nah dem Pfarrhauſe 
‚ und bier fand er immer heiteres frifche® 


m!“ rief ihm Feldheim eines Abends ent- 
„was bringen Sie und für Nachrich⸗ 
Ihrem verwünfchten Schloffe, denn «8 
drüben, wie im Palaſt der verzauberten 
en Bee!“ j 

id ed war body fo anders,” meinte die 
in, „als die Frau Baronin noch dort wals 
fchaltete! Gott, war das ein Leben, eine 
nheit! man konnte nichts Prächtigeres 
als das Haus vol fehöner, froher Mens 
Aber feit fie die Augen gefchloffen bat, 
8 ob der gute Geift gewichen und ein 


ngezogen wäre. Mandymal Fommt mir 
29* 


“> 
ertenlih ein Serum ım, tas ich denke, eb 
werte no; irzenk eim Unglũd kur zerhehen!” 

Sie krach ab, wel das Waren tie Abend⸗ 
jurre würuz Die Knaben drängten ach zum 
Tirke, une fıum ja tie Familie bei tem be 
Ikeitnen Mahl in Heiterkeit verjammelt, ald 
ker Jüngiie, son jeinem Zeller aufichenp, yplöplid 
fragte: „Zante! wie fpuft ed tenn trüben?“ 

‚Wie es puft? was meinſt Du kamit, mein 
Kind?“ 

„Run! was ber böje Geiſt im Schloſſe thut, 
der böje?“ 

„Schäme Ti,” rief der Paſtor, „wer wird 
denn ſolchen Unfinn glauben, es giebt gar feine 
böjen Geifter, es giebt gar feinen Epuf und —" 

„Schwager!” fiel ihm Feldheim in’d Wort, 
„Schwager! ruiniren Sie mir die Kinder nidıt! 
— Ich danfe Bott, daß ich fie in Stalien vor 
aller Aufklärung bewahren fonnte, und vollends 
den Jungen, in dem ein Künftler ſteckt! Reden 
Sie ihm doch die Phantafie nicht zu Schanden, 
woranfoll er denn glauben, wenn nicht an Spuk?“— 
Und fi) gegen den Kleinen wendend, fagte er: 


N 


453 


Onkel ſpaßt nur, freilich giebt’8 böfe Geiſter 
alten Spuf, und drüben das ganze Schloß 
vol davon vom Keller Bid zum Dache. In 
großen Saale mit den Sammetmöbeln, in 
Du neulich bineingegudt haft, und der immer 
ngte Benfter hat, da figt der Eine, das ift 
Jochmuthöteufel! * 
Was thut der, Papa?“ fragte der Knabe. 
Der zetert und fchreit, fo wie ein Menſch 
ikommt, der nicht Schuhe und Strümpfe an 
fondern Stiefel, und kommt Einer, der feine 
fchuhe hat, den nimmt er beim Genid und 
ihn hinaus; und Einer, ber, wie ich, eine 
fe bat mit Delfleden und eine Leinwandhoſe, 
fchmeißt er die Treppe hinunter, daß man 
und Beine brechen kann. Es iſt ein ſcheuß⸗ 
Geſchoͤpf!“ 
Wie ſieht der denn aus?“ 
Lang und vornehm, und dann hat er große 
n, die er zukneift, und dicke Augenbrauen, 
hoch heraufzieht, er fieht jo aus — —“ 
Wie der Herr Baron!“ rief der Kleine. 
Ja, es wird wohl ſo ſein!“ entgegnete der Vater. 


454 


„Sind noch mehr böfe Geifter dort?“ 

„Ganze Rudel! Da find die diden, graum 
Vorurtheile und verfluchte Grundfäge, bie feinen 
Menfchen dort froh werben laflen, und alle Kin 
der zum Haufe hinaustreiben!“ 

„Ale Kinder?“ 

„Sa! alle Kinder! wo Grundfäge find, ge 
beiht Fein Kind. — Aber iß jebt Deine Sup, 
ich erzähle Dir morgen zu Ende!“ 

Der Knabe ließ ſich das gefallen, und wils 
rend der Paſtor mißbilligend den Kopf fchüttelte, 
fagte Friedrich: „Sie haben ſchon neulich Ihre 
Abneigung gegen alle Grundfäpe und namentlid) 
gegen ein Leben ober ein Erziehen nach feften 
Grundfägen ausgefprochen, fo daß ich beinahe 
glauben muß, ed fei Ihnen Ernft damit?“ 

„Zweifelten Sie daran?" 

„Sa! weil ich mir nicht denfen fann, wit 
man ohne fette Anfıhauungen, ohne fefte Prin⸗ 
cipien in den taufend Conflicten beftehen fol, die 
ſich und entgegen ftellen. “ 

„Lieber Freund!“ rief der Maler, „und find 
benn die Conflicte, die man gewöhnlich mit 


5 


m vornehmen Namen titulirt, nicht meift bie 
ge fefter Grundfäpe? IR nicht alles Unglüd 
ber Erde, find nicht unfere religiöfe und ſtaat⸗ 
> Unfreiheit eine Folge fefter Grundfäbe? Das 
abenfte, was man mit felten Grundſaͤtzen ers 
hen fann, ift, daß man Andere damit zu 
ınde richtet, oder beften Falls, daß man jelbft 
fie zum Märtyrer wird. Andere zu Grunde 
richten ift aber ein Verbrechen, und fi) zum 
irtyrer zu machen, meift eine Thorheit. Ich 
te Nichts vom Märtyrthum.“ 

Mit der ihm eigenen Heiterkeit, hob er fein 
is empor und rief: „Man hat, zum Fluch der 
nſchheit, fo oft den Wein auf die Erhaltung 
iffer Grundſaͤtze geleert, daß es Zeit ift, eins 
‚in ehrlihem Bier ihnen ein Pereat zu brin⸗ 
. Bereant die Orundfäge!“ 

Er jah dabei fo glüdlich aus, hielt den Ans 
enden jo fröhlich fein Glas entgegen, daß felbft 
Paſtor nicht umhin Fonnte, lächelnd mit ihm 
uftoßen; jedoch bemerkte er: „Es Fame nur 
auf an, wie Sie die Menfchen erziehen wollen, 
n Sie feine fefte Dogmen für Recht und 


456 


Sitte, für Moral und Geſetz, mit einem Work, 
feine Schranfe für den Menfchen anerfennen mi 
gen?“ 

„Komme ih Ihnen wie ein Verworfentt 
vor?“ 

„Schwager!“ tabelte der Paſtor. 

„Nein! antworten Sie mir darauf! Komme 
ich Ihnen wie ein Verworfener vor?“ 

„Sie find der bravfte Menfch unter det 
Sonne," fügte der Paſtor und reichte ihm bie 
Hand, „dad Mufter eines Gatten, eined Bw 
terd, und — — " 

„Genug, genug!” rief Feldheim. „Das Alte 
genügt mir, Nun fehen Sie — ich habe gat 
feine Orundfäge!“ 

„Sie find aber auch von den würbigften El 
tern zu allem Guten angeleitet worben !* meinte 
der Paſtor. 

„sa! indeſſen war in unferm Haufe nie von 
Grundfägen die Rede. Oder weißt Du etwas 
davon, Schwefter? haft Du einen Grundfag und 
anpreifen, einen andern Grundfag bei uns jemals 
tadeln hören, ald den, den bie alte Kathrine und 





457 


— — -- — 


in unferm Gichorienkaffee zu  trinfen 


8 ift wahr,“ befräftigte die Geftagte, „man 
in unferm Haufe nicht viel davon, Die 
waren Beide gut, thaten einander und und 
n alles Liebe, was fie Eonnten, und waren 
auch menfchenfreundlih und barınherzig. 
chen wurde darüber nicht viel und nachge⸗ 
noch weniger. Es war eben fo und fonnte 
inders fein!“ 
Ja habt Ihr's, da Habt Ihr's!“ rief der 
‚ „das iſt's ja grade, was ich meine. Es 
infachheit, Schlichtheit in den Menfchen da- 
und Einfachheit und Schlichtheit das ift 
ylichfeit, denn der Menſch ift gutartig und 
gutartig, bis ihn die feften Grundfäge vers 
haben. Wo aber in einem Haufe bie 
[lichte Menfchlichkeit herrſcht, da ift weiter 
in Erziehen mehr von Nöthen, da wächt 
wie in der himmlifchen Campagna felice, 
on felbt — man hat nur den Samen 
ven und bie und da einen wilden Scyöß- 
uszuroden — dazu aber braudyt man fo 


452 


ordentlih ein Grauſen an, daß ich benfe, «8 
werbe noch irgend ein Unglüd dort gefchehen!* 

Sie brach ab, weil das Mädchen die Abend 
fuppe auftrug. Die Knaben drängten fich zum 
Tifche, und kaum faß die Familie bei dem br 
fheidenen Mahl in Heiterkeit verfammelt, ald 
der Juͤngſte, von feinem Teller aufjehend, ploͤtzlich 
fragte: „Tante! wie fpuft e8 denn drüben?“ 

„Wie es fpuft? was meinft Du bamit, mein 
Kind?‘ 

„Run! was der böfe Geiſt im Schloffe thut, 
ber boͤſe?“ 

„Schäme Dih,“ rief der Baftor, „wer wir 
denn ſolchen Unfinn glauben, es giebt gar feine 
böfen Geifter, e8 giebt gar feinen Spuf und —“ 

„Schwager!* fiel ihm Feldheim in's Wort, 
„Schwager! ruiniren Sie mir die Kinder nidt! 
— Ich danfe Gott, daß ich fie in Stalien vor 
aller Aufklärung bewahren fonnte, und vollendd 
den Jungen, in bem ein Künftler ſteckt! Reben 
Sie ihm doch die Phantafie nicht zu Schanden, 
woran ſoll er denn glauben, wenn nicht an Spuf?"— 
Und ſich gegen ven Kleinen wendend, fagte er: 


459 


mc mit Agned und dem ältern Knaben red⸗ 
verfucht, indeß es wollte nicht gehen, Weißt 
wohl, Agnes, was Du für ein unluftigeß, 
es Kind gewefen bift in Deinen Zeichen« und 
ifftunden? Wir hätten fie für ihr ganzes Les 
mürrifch machen Eönnen, hätten wir auf dem 
ndfaß der Xebenserheiterung durch die fchönen 
fte beharren wollen. Sept wird fie freilich 
: Künftlerin werden, aber doch eine nüßliche 
frau, wie ihre arıne Mama, die auch fo 
itlos, und mit der ihr Mann doch immer 
zufrieden iſt!“ Sie reichte dabei freundlich 
Manne die Hand, Agned war aufgeftanden, 
Mutter zu Eüffen, 
Als Died Heine Intermezzo zu Ende war, 
erkte Sriedrih: „Alles, was Sie da fagen, 
nir nicht neu und dennoch fremd. Ich habe 
feit Jahren, faft möchte ich fagen, feit ich 
tftändig denfen kann, mit PBerfonen zu thun 
ıbt, die c8 im Felde der Moral, der Politik, 
Religion, ja felbft der Freiheit, auf ein Leben 
ı feften Grundfägen angelegt Hatten, und id) 
t neige dazu. Es liegt, fo ſchwer ed auf der 


460 


— — — — 


einen Seite iſt, den Grundſaͤtzen gerecht zu wer 
den, boch eine Bequemlichkeit darin, ſich an fi 
fehnen, auf fie berufen zu fönnen. Es enthet 
und manches Kampfes, mancher Verlegung” — 

„Die Grundfäge,” fiel ihm der Maler ind 
Wort, „find, um es kurz zu machen, ein Cor 
fett, ein unbequemes und doch unentbehrlicdkt 
Ding für die verrenkten Zuftände der Frank und 
ſchwach gewordenen Menichheit — gefunde Men 
jhen brauchen Grundfäge fo wenig als ein 
Schnürleib, um fhön zu fein, die rechte Schön 
heit leidet nur darunter. * 

„Es ift freilich oftmals leicht,“ meinte ber 
Paftor, „ſich hinter feinen Grundſaͤtzen zu verfchan 
zen, wenn Forderungen der Menfchlichfeit verweis 
gert werden follen!“ 

„sn der Erziehung laſſen allerdings fefte Grund 
fäge feine Freiheit, alfo auch fein Individualifiren 
zu, was doch die Hauptfache bei aller Erziehung 
iſt!“ feßte Friedrich Hinzu. 

Der Dialer lachte bel auf. „Bravi! Bravi!“ 
tief er, „da pfeift Ihr ja Alle ſchon meine Weiſe! 
Bedenkt doch nur, daß ein Menfch, der fich hin 


N 


461 


und fagt: „Die Menfchlichkeit ift eine Pflicht, 
will ich menfhlich fein,* und nun bingeht 
bringt dem Armen mit gloriofem Bewußtfein 
überlegten- Pflichterfüllung eine Gabe, daß 
ein Menſch die wärmfte Arınenfuppe Falt laͤ⸗ 
fann; während das kalte Stüd Brod, das 
Barmfühlende fih vom Munde nimmt, um es 
geben, weil's ihn dazu drängt, zum Labfal 
für den Empfänger. Wie kommt es denn, 
Ihr bier mit allen Euren Wohlthätigfeits- 
Iten Feine Liebe ernten Eönnt? Wie fommt 
—“ Er hielt inne, und da man ihm nicht 
drtete, antwortete er felbft: „Ihr fäet feine 
‚ wie fol fie denn erwachfen, und wie wollt 
te faen? Iſt doch Eure ganze Bildung nicht 
Bildung freier Menfchlichfeit und fehöner 
fondern bie Bildung der Reflerion, und bie 
fruchtbar im Menfchenverfehr, noch unfruchts 
ale in der Kunſt. Geht mir mit Eurer 
riondbildurfg, mit Euren Orundfägen! Ein 
tone ift ein Heros gegen Euch in feiner 
heit und in feiner Großmuth, in feinen Tus 
n und in feinen Laftern! Es ift doch Eins 


462 


falt, e8 ift Kraft darin! — wo aber follen Ein 
falt und Kraft auffommen unter der Obhut 
flectirter Orundfäge, die jeden neuen Keim gleid 
lang reden und reglementsmäßig an Spaliere 
binden möchten? Geht mir mit dem ganzen 
Plunder, mögt Ihr ihn nun Knechtfchaft, oder Frei⸗ 
heit nennen. Die Eine ift fo gut wie bie As 
dere Drefiur bei Euch — eben weil Euch die na 
turwüchfige, einfache Menfchlichfeit mangelt!“ 

Hatte er Anfangs ſcherzend gefprochen, fo war 
er immer ernfthafter geworden und endlich in je 
nen reinen Zorn gerathen, ber frei von allem per⸗ 
fönlihen Mißempfinden, durch die allgemeinen 
Hebel angeregt, eine der erhabenften menfchlichen 
Leidenschaften if. Auch der Paſtor, fo meit er 
zu Anfang des Geſpräches von den Anfichten de 
Schwagers abgewichen war, ftimmte ihm jest bei, 
und Friedrih gab ihm aus voller Veberzeugung 
Recht. 

„Welche Weisheit,“ fagte er, „liegt in ben 


Worten: „So ihr nicht werdet wie die Kinblein“ 


— aber wie folen wir e8 anfangen, und von bei 
Reflerionsbildung zu erlöfen? wie fönnen wir je 











457 


— — — — — — 


taͤglich in unſerm Cichorienkaffee zu trinken 
gab?“ 

„Es iſt wahr,“ bekräftigte die Gefragte, „man 
wußte in unſerm Hauſe nicht viel davon. Die 
Eltern waren Beide gut, thaten einander und uns 
Kindern alles Liebe, was ſie konnten, und waren 
ſonſt auch menſchenfreundlich und barmherzig. 
Geſprochen wurde darüber nicht viel und nachge⸗ 
dacht noch weniger. Es war eben fo und Eonnte 
nicht anders fein!“ 

„Da habt Ihr's, da Habt Ihr's!“ rief der 
Maler, „das iſt's ja grade, was ich meine. Es 
war Einfachheit, Schlichtheit in den Menfchen das 
mals; und Einfachheit und Schlichtheit das ift 
Menschlichkeit, denn der Menſch ift gutartig und 
bleibt gutartig, bis ihn die feften Grundſaͤtze vers 
dorben haben. Wo aber in einem Haufe bie 
rechte ſchlichte Menfchlichfeit herrſcht, da ift weiter 
gar fein Erziehen mehr von Nöthen, da wädhft 
Alles, wie in der himmlifchen Campagna felice, 
faft von felbt — man bat nur den Samen 
zu fireuen und hie und da einen wilden Schoͤß⸗ 
ling auszuroden — dazu aber braudyt man fo 


464 


leerem Prunk und die Bewunderung und Bere 
rung vor denen, bie fi) mit ihm und durch ihn 
von Euch unterfcheiden und die Ihr als unnahbar 
über oder unter Euch geftellt glaubt. Die Aeſthe⸗ 
tie wird mehr reine Menfchlichkeit unter Euch 
erzeugen, die Borurtheile fiegreicher befämpfen, als 
die Religion!“ 

Er wendete ſich dabei zu dem Paſtor, reichte 
ihm die Hand und fagtes „Und jebt Fönnen Sie 
meinetwegen auch wieder gegen meine heidnifchen 
Kunftanfichten und gegen alle Kunft zu Felde zies 
ben, Schwager! es ſchadet ihr Nichts, denn 


fie ift unfterblich — Hab’ ich doch wieder einmal Als - 
(ed herunter geſprochen, was ich auf der Seele 


hatte! — Nun aber Marſch in’d Bett, Zungen!“ 
rief er den Kleinen zu, „und nehmt Euch vor dem 
Hochmuthsteufel in Acht! “ 

Die Kinder gingen um den Tifch herum, die 
gute Nacht zu wünfchen, und entfernten fich dann, 
während die Erwachfenen noch beifammen blieben. 


Als fie dad Zimmer verlaffen hatten, fagte ber 


Vaftor: „Wenn Sie fo in Abftracto gegen bie 
feften Grundfäge zu Felde ziehen, fo ließe fich das 


465 


: wohl fo Manches jagen, indeß mit ben 
dfägen unfered Herrn Barons ift es doch 
ich faft ein mißlih Ding. Die Kinder has 
vie ein rechtes kindliches Herz zu ihm gefaßt, 
it immer vor ihnen geftanden, wie der ftrenge 
Iſraels, fie haben ihn in Ehrfurcht angebes 
und er hat gerichtet über Leben und Tod. 
yat ihnen Gefege und Lebensregeln gegeben 
feinem Sinn, und feines von Allen ift da⸗ 
u Rechte gefommen. Auch mit dem jungen 
ı Baron fol’8 nicht fo fein, wie der Vater 
ohl wünfchte! “ 
Mit Erich?“ fragte Friedrich, „was wiſſen 
von ihm?“ 
Er hat ’nen fchlimmen Handel mit einem 
enzimmer,“ fagte der Paſtor. „ES fol ein 
es Mädchen fein, rechtlicher Leute Kind, und 
nun fchon feit Sahren mit ihm in feinem 
er“ 
Woher haben Sie die Nachricht?" fragte 
rich, fchmerzlich betroffen über ded Freundes 
ı- und über fein mangelnded Vertrauen. 


Der Sohn der alten Anna, des jungen Herrn 
andlungen. I. 30 


466 


Spiellamrad, der im GarbesRegimente ald Un 
teroffizier dient, ift bei der Mutter zum Beſuch 
geweſen und hat's erzählt!“ 

„Es mag nicht wahr fein!” begütigte bie 
Paſtorin. 

„Nicht wahr? Er hat das Frauenzimmer ſelbſt 
geſehen, wenn er ab und an zum jungen Herm 
gekommen iſt, und er ſagt, er habe fie ſogar ge 
fannt. Ihr Vater habe ihn vor zehn Jahren in 
Königsberg einerereirt!“ 

Eine unheimliche Ahnung zudte in Friedrich 
auf, Wenn ed Regine wäre? wenn er deshalb 
gefchwiegen hätte? dachte er. Aber er verwarf 
den Einfall eben fo ſchnell wieder, als er ihm ges 
fommen war, Hatte Regine ihm doch mehrmald 
in jedem Jahre gefchrieben, ohne irgend Etwas 
zu erwähnen, was auf ſolche Verhältniffe hindeu⸗ 
ten Eonnte; hatte er doch erft nach feiner Gene 
fung einen Brief von ihr erhalten, in dem fie 
ihm gejagt, fie denke daran, Berlin zu verlaffen 
und wolle fehen, daß fie eine Stelle ald Bonne 
ober als Begleiterin einer Herrfchaft finde, bie 
auf Reifen gehe; „Thorheit, Wahnfinn!* rief er im 


467 


oſtgeſpraͤch, ſo daß die Anderen ihn erftaunt bes 
‚teten und er feine Zerftreutheit vor ihnen zu ents 
[digen hatte, Aber fo undenkbar ihm die Sache 
n, fo feft er fie als unglaublich von fich wies, 
ı0ch Fehrten feine Getanfen immer wieder auf den 
enftand zurüd. Er fragte, ob der Unteroffizier 
ı bei der Mutter fei, aber er hatte das Dorf bes 
ı verlaffen, Der quälende Zweifel blieb alfo in 
drich's Seele haften und ließ ihn feine Ruhe, 
Er hörte kaum, was der Paftor von ded Bas 
I wachfender Strenge fagte, von der Härte, 
der er, feit Fräulein Cornelie verreift fei, alte 
echtſame hervorfuche, und wie alle feine Leute 
iber klagten, daß er gar nicht mehr derſelbe, 
er wetterwenbifch in feinen Anordnungen ges 
den und auf Feine Weife mehr zu befriedigen 


„Es iſt hohe Zeit, daß der junge Herr zurüds 
t, daß wieder ein zufriedener Menfch und vor 
m eine Frau in’d Schloß fommt, denn Alles 
üftert und verfümmert dort fowohl, als auch 
Dorfe, Die alte Liebe fchwindet in den Leus 


Das arme Mädchen aber, die Augufte, Hat 
30* 


468 


vollends böfe Tage!“ fagte die Paftorin, und 
Alte floffen nun über in des Fräuleind Lob, Io 
daß Friedrich wieder aufinerffam zu werden begann, 

„Schen Eie, wie gut fie ift,* meinte bie 
Paftorin gegen ihn gewendet, „und wie fie an 
Alles denkt! Da ift fie geftern bei mir gewelen 
und hat mich gefragt, ob es denn nicht zu ma 
chen wäre, daß Ihre Mutter hier im Dorfe bliebe, 
weil Sie felbft den Winter bier verleben wollen; 
und flug wie fie ift und unfichtig, bat fie ge 
meint, wenn Ihre Mutter fi) bei der alten Anna 
in Koft geben wollte, fo würde es Ihnen billiger 
fein als fie in der Stadt zu unterhalten, fie würde 
befier leben und die beiden alten Frauen hätten 
das größte Behagen davon. Sie hatte die Sadıe 
auch ſchon mit der Anna befprochen, und wollte 
nun wiffen, was ich davon bächte, ehe fie es 
Ihnen ſagte.“ 

„Ja!“ ſagte Friedrich, gerührt von dieſer 
Vorſorge, „ſie iſt in der That ſehr gut. Wie 
viel habe ich ihr ſchon zu danken, mit welcher 
Aufopferung hat ſie meiner Mutter es erleichtert, 
mich zu pflegen, mit welcher Freundlichkeit weiß 


469 


ich zu den Anfichten und Begriffen der alten 
ı berabzujtimmen! Eie ift fehr gut — und 
r iſt auch fie nicht gluͤcklich!“ 
‚Es iſt Alles richtig, was Sie zu ihrem Lobe 
n,“ bemerkte der Paſtor, „und ich fpreche 
8 dagegen; nur will mir, der ich fie von 
e Jugend an fenne, ein gewifler Zug ber 
ufriedenheit in ihren Weſen nicht gefallen. 
weiß nicht fih an das Gute ihrer Lage 
‚alten, fie denkt jelten an das, was fie hat, 
defto öfter an Alles, was ihr fehlt, fie fieht 
über fich, nie unter fih — und mit folchen 
iſchen iſt nicht leicht zu leben; denn kaͤmen 
ch in den fiebenten Himmel, fie finden doch 
Etwas, was ihnen fehlt und find nie redht 
eben. * 
„Zufrieden?“ rief Feldheim, „wo fol denn 
n Frauenzimmer von ſechsundzwanzig Jahren 
Zufriedenheit herfommen, wenn es noch feinen 
ın und Ausſicht hat eine alte Jungfer zu 
en? Und e8 wär Schade um fie, denn fie 
übfceh und friſch!“ 
‚Sehr hübſch!“ fagte die Paftorin, deren ent« 


464 


leerem Prunf und die Bewunderung und Vereh⸗ 


tung vor denen, bie ſich mit ihm und durch ihn 
von Euch unterfcheiden und die Ihr als unnahbar 
über oder unter Euch geftellt glaubt. Die Aeſthe⸗ 
tif wird mehr reine Menfchlichfeit unter Euch 
erzeugen, die Borurtheile fiegreicher befämpfen, ald 
die Religion!“ 

Er wendete fich dabei zu dem Paſtor, reichte 
ihm die Hand und fagtes „Und jet Fönnen Sie 
meinetwegen auch wieder gegen meine heibnifchen 
Kunftanfichten und gegen alle Kunft zu Felde zie⸗ 
hen, Schwager! es ſchadet ihr Nichts, denn 
fie ift unfterblich — hab’ ich doch wieder einmal Als 
led herunter gefprochen, was ich auf der Seele 
hatte! — Nun aber Marſch in’d Bett, Jungen!“ 
rief er den Kleinen zu, „und nehmt Euch vor dem 
Hochmuthsteufel in Acht!“ 

Die Kinder gingen um den Tifch herum, die 
gute Nacht zu wiünfchen, und entfernten fich dann, 
während die Erwachfenen noch beifammen blieben. 
Als fie das Zimmer verlaffen hatten, fagte ber 
Paftor: „Wenn Sie fo in Abftracto gegen bie 
feften Grundfäge zu Felde ziehen, fo ließe fich das 


| 


471 


Ja!“ wendete die Paſtorin ein, „aber in 
Tagen, da ift ein nüchterner Sinn —“ 
In böfen Tagen,“ fiel der Bruder ihr in's 
t, „in böfen Tagen, bei Roth und Eorge, 
Zank und Etreit, ba ift ja eine nüchterne 
„ die al die Noth fo Flar vor Augen fieht, 
fie durdy ein Bischen Täufchung oder Hoffe 
| zu mildern, die all den Zwieſpalt mit fchar- 
vüchterner Gerechtigkeit betrachtet, ohne bie 
nswürbdige Schwäche der Nachgiebigfeit, — da 
a folhe Frau ein wahres Unglüd. Ich 
e mih auf, Weib, wenn Du mir jemals 
tern wirft!“ rief er lachend, und gegen Fries 
gewendet wiederholte er: „ft fie nüchtern, 
alten Sie fih den Schatz vom Leibe! Sonft 
ein ftattlich Mädchen und eine Frau müflen 
ja einmal haben, Herr Paftor in spe!“ 
Ohne daß er es fich eingeftand, machte biefe 
rredung einen unangenehmen Eindruck auf 
rich. Es verdroß ihn, daß man ihn aus fei- 
Ruhe ftörte, daß man ihm Wünfche und Pläne 
rbreitete, die er nicht hegte, ja felbft Augus 
3 Bürforge für feine Mutter warb ihn dadurch 


472 


verleidet, oder doch mindeſtens verbächtig gemacht. 
Er verlor feine Unbefangenheit gegen das Fraͤu⸗ 
fein, er glaubte ſich zurüdhalten zu müflen, um 
nicht gegen feinen Willen in ein Berhältniß ge 
zogen zu werten, bad man zwifchen ihnen her 
zuftellen dachte; und doch reizte es ihm zu willen, 
ob Augufte die Pläne der Anderen 'theile, doch 
fchmeichelte ihm die Vorftellung, eine Nichte, eine 
Pflegetochter des Hauſes zur Frau zu nehmen, 
das einft eine Verbindung mit ihm als eine Un 
möglichkeit betrachtet hatte. 

Aber fein Zug in feinem Herzen ſprach für 
Augufte. Er fchäste fie, er war ihr dankbar, 
aber er liebte fie nicht. Der Dialer hatte das 
rechte Wort gefunden, fie war zu nüchtern; iht 
fehlte, um Friedrich’ Neigung zu gewinnen, jene 
Anmuth, ohne welche das tägliche Beifammenfein 
farblo8 und bald zu einer, allen Reizes baaren 
Gewohnheit und Ermüdung wird, Dennoch be 
Ihäftigte ihn feit jenem Abende der Gedanfe an 
bie Ehe oftmald, und das glüdlihe Familien 
leben, deſſen Zeuge er in dem Pfarrhaufe war, 
ließ ihm zum erften Male feit: den Tagen feiner 


| 
| 


473 


ı ein befchränftes Dafein in bürgerlichen 
tniffen als etwas Schönes, Begehrenswer⸗ 
fcheinen. Was hatten der Reichthum, der 
die Bildungdmöglichkeit, weldye allen Kin⸗ 
ed Barons zu Theil geworden waren, für 
ı bewirken vernocht? Welche Erfolge hatten 
bie Zufriedenheit und richtige Entwidlung 
nzelnen geliefert? welche Segnungen konnte 
Zegünftigten dad Leben bieten, die der Paſtor 
ne Frau, die das Künftlerpaar nicht eben fo 
ıd Schön genoflen? Nicht die äußeren Bedin⸗ 
‚waren e8, bie hier den Frieden, dort das Un⸗ 
er Familien erzeugten, e8 war ber Geilt der 
ber hier waltete und dort fehlte. Nicht in 
oas wir befigen, fondern darin, wie wir es bes 
liegt fein Werth, feine Kraft, feine Wirk⸗ 
für und, Wir find Herren über unfere 
enheit, jo lange wir Herr bleiben über 
Willen. Die Möglichkeit des Streben 
ed Erringend oder die Möglichfeit einer 
seichränfung find Jedem gegeben, und Jeder 
ch dieſen Anlagen eben auch die Audficht, 
ı Einen oder dem Andern feine Zufrieden» 


468 


vollends böfe Tage!“ fagte die Paſtorin, und 
Alte floffen nun über in des Fräuleins Lob, fo 
daß Friedrich wieder aufmerkfam zu werden begann, 

„Schen Sie, wie gut fie ift,“ meinte die 
Paftorin gegen ihn gewendet, „und wie fie an 
Alles denkt! Da ift fie geftern bei mir gemelen 
und hat mic) gefragt, ob es denn nicht zu mas 
hen wäre, daß Ihre Mutter hier im Dorfe bliebe, 
weil Sie felbft den Winter bier verleben wollen; 
und Hug wie fie ift und umfihtig, bat fie ge 
meint, wenn Ihre Mutter fich bei der alten Anna 
in Koft geben wollte, fo würde e8 Ihnen billiger 
fein als fie in der Stadt zu unterhalten, fie würte 
beffer leben und die beiden alten Frauen hätten 
dad größte Behagen davon. Sie hatte die Sadıe 
auch fchon mit der Anna befprodhen, und wollte 
nun wiffen, was ich davon dächte, ehe fie es 
Ihnen fagte.“ 

„Ja!“ fagte Sriedrih, gerührt von dieſer 
Borlorge, „fie ift in der That fehr gut. Wie 
viel habe ich ihr ſchon zu danken, mit welcher 
Aufopferung bat fie meiner Mutter e8 erleichtert, 
mich zu pflegen, mit welcher Freundlichkeit weiß 


469 


fie fich zu den Anfichten und Begriffen der alten 
rau berabzuftimmen! Sie ift fehr gut — und 
leider ift auch fie nicht glücklich!“ 

„Es ift Alles richtig, was Sie zu ihrem Lobe 
fagen,* bemerkte der Paſtor, „und ich ſpreche 
Nichts dagegen; nur will mir, der ich fie von 
ihrer Jugend an fenne, ein gewiffer Zug ber 
Unzufriedenheit in ihrem Weſen nicht gefallen. 
Sie weiß nicht fih an das Gute ihrer Lage 
zu halten, fie denkt felten an das, was fie hat, 
aber deſto öfter an Alles, was ihr fehlt, fie fieht 
ftet8 über fich, nie unter fih — und mit folchen 
Menfchen ift nicht leicht zu leben; denn kaͤmen 
fie auch in den fiebenten Himmel, fie finden doc) 
noch Etwas, was ihnen fehlt und find nie recht 
zufrieden, ” 

„Zufrieden?“ rief Feldheim, „wo fol denn 
einem Yrauenzimmer von fehsundzwanzig Jahren 
die Zufriedenheit berfommen, wenn es noch feinen 
Mann und Ausfiht hat eine alte Jungfer zu 
werden? Und e8 wär Schade um fie, denn fie 
ift hübſch und friſch!“ 

„Sehr hübſch!“ fagte die Paſtorin, deren ent- 


476 


Abende länger, die Ratur herbftlicher werden. Die 
Einfamfeit, welche dadurch auf dem Lande ker 
vorgerufen wird, bie Abgetrenntheit von ber übtis 
gen Welt waren ihm willfommen, nur die Sorge 
um Regine zog feine Gedanken aus dem Kreilt 
fort, in dem er fi) bewegte. Er Fonnte fi) nicht 
überwinden, den Verdacht gegen fie auszufprecden, 
der ihn fo grundlos gekommen war, und bed 
ließ es ihm feinen Frieden, bis er fich entfchloß, 
Erich zu fragen, was es mit den Gerüchten ſei, 
die er vernommen. 

Mit unummundener Offenheit geftand ber 
Freund ihre Wahrheit zu. Er fchilderte ihm bie 
Art, in der er das Mädchen wiedergefunden, ba6 
er fchon in der Jugend gefannt, erwähnte mit 


bitterer Reue feiner Handlungsweife, mit Liebe des 


Mädchens, mit großem Schmerz der zwilchen ih— 
nen nothwendig gewordenen Trennung. Dann 


aber ſprach er in dem Briefe die Bitte aus, Frie 


drich möge ihm, als einen Freundſchaftsbeweis, bie 
Gunſt geftatten, ihm die legten Detaild und den 
Namen feiner Geliebten erft mündlich mittheilen 
zu dürfen, 


AM 


„Sa!“ wenbete die Paftorin ein, „aber in 
böfen Tagen, da ift ein nüchterner Sinn —“ 

„Sn böfen Tagen,“ fiel der Bruder ihr in’ 
Wort, „in böfen Tagen, bei Roth und Sorge, 
bei Zanf und Streit, da ift ja eine nüchterne 
Frau, die al die Noth fo Far vor Augen fieht, 
ohne fie durch ein Bischen Täufchung oder Hoff⸗ 
nung zu mildern, die all den Zwieſpalt mit fehar- 
fer nüchterner Gerechtigkeit betrachtet, ohne bie 
liebenswuͤrdige Schwäche der Nachgiebigfeit, — ba 
ift ja folhe Frau ein wahres Unglüd. Ich 
hänge mich auf, Weib, wenn Du mir jemals 
nüchtern wirft!” rief er lachend, und gegen Fries 
drich gewendet wieberholte er: „Ift fie nüchtern, 
fo halten Sie ſich den Scha vom Leibe! Sonft 
iſt's ein ſtattlich Mädchen und eine Frau müffen 
Sie ja einmal haben, Herr Paftor in spe!“ 

Ohne daß er es fich eingeftand, machte dieſe 
Unterredung einen unangenehmen Eindruck auf 
Friedrich. Es verbroß ihn, daß man ihn aus fei- 
ner Ruhe ftörte, daß man ihm Wünfche und Pläne 
unterbreitete, die er nicht hegte, ja felbft Augus 
fiens Fuͤrſorge für feine Mutter warb ihn dadurch 


472 


verleidet, ober doch mindeftene verdächtig gemadht. 
Er verlor feine Unbefangenheit gegen das Fräw 
fein, er glaubte ſich zurüdhalten zu müflen, um 
nicht gegen feinen Willen in ein Verhältniß ge 
zogen zu werden, dad man zwifchen ihnen her 
zuftellen dachte; und doch reiste es ihn zu willen, 
ob Augufte die Pläne der Anderen theile, doch 
fchmeichelte ihm die Vorftellung, eine Nichte, eine 
Mflegetochter des Haufes zur Frau zu nehmen, 
das einft eine Verbindung mit ihm als eine Un 
möglichkeit betrachtet hatte, 

Aber fein Zug in feinem Herzen ſprach für 
Augufte. Er fchägte fie, er war ihr banfbar, 
aber er liebte fie nicht. Der Maler hatte dad 
rechte Wort gefunden, fie war zu nüchtern; iht 
fehlte, um Yriedrich’8 Neigung zu gewinnen, jene 
Anmuth, ohne welche das tägliche Beifammenfein 
farblo8 und bald zu einer, allen Reizes baaren 
Gewohnheit und Ermüdung wird. Dennoch be 
fhäftigte ihm feit jenem Abende der Gedanke an 
die Ehe oftmald, und das glüdliche Familien 
leben, defien Zeuge er in dem Pfarrhaufe war, 
ließ ihm zum erften Male feit den Tagen feiner 


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felbft, ald Stieffinder des Glücks betrachtete, 
.. e8 ihre wohlthuend war, von ihnen liebevoll 
kannt zu werden, und weil fie es als eine 
idung anfah, daß ihr die Sorge für den Frans 
Sriedrih in dem Augenblide zugewieſen wors 
war, in dem Georg fie für immer verlaffen 
e. 


Dreiundzwanzigftes Kapitel 


— — — 


Erich war für einige Tage zu einer befreun 
beten Familie auf dad Land gegangen, ald Regine 
an einem hellen Dectobermorgen in das Zins 
ner eined Hoteld trat, in dem eine noch jung 
Dame fie empfing. Sie hatte fich fehr veränbert, 
ihre Wangen waren bleich geworden, ber Gtam 
hatte feine Spuren in ihren edlen Zügen auß 
geprägt. 

Scheu und demüthig blieb fie nahe bei ter 
Thüre ftchen, als zaudere fie vorwärts zu treten, 
als falle e& ihr fchwer zu fpredhen. Die Damt 
auf dein Sopha bemerkte es, erfundigte fich nad 
ihrem Begehr und nöthigte fie zum Sigen. Re 


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merfantilifchen Treibens gaben, in das Sener ſich 
mit Behagen Hineingezogen fah, weil es feinem 
Drange nach Thätigfeit und Selbftändigfeit ent- 
ſprach, diefe Briefe machten Friedrich die Etille 
nur nod lieber. Er empfand fie ald ein Be- 
bürfniß für fi) nad den Leiden feiner Krank⸗ 
heit, und ohne daß er ed gewahr ward, fpann 
fih fein Leben in die Schranken feiner jeßigen 
Umgebung ein. 

Was er von Pleffen über den Fortgang bes 
Proceſſes gegen die gemeinfamen Freunde hörte, 
was der Doctor ihm über die, gegen ihn ver- 
hängte und immer noch nicht entfchiedene Unter- 
fuhung, fo wie über den wachſenden Drud bes 
richtete, den Polizei und Cenfur über die Preſſe 
ausübten, war nicht geeignet, ihn in feine frühes 
ren Verhaͤltniſſe zurüdzuloden. Der Doctor felbft 
begann an eine Entfernung aus den Lande zu 
denfen, Pleſſen, der Eorneliend Entfcheidung er- 
wartet hatte, ſchickte fih an nad) Gnadenfrei zu 
gehen, und damit waren bie wefentlichften Bezie- 
hungen gelöft, die ihn dort gefeflelt hatten. 

Mit Behagen ſah er die Tage Eürzer, bie 


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fchließen, die bei Ungewohnten ihre Haͤtten 
hat?” " 

Da hielt fi) Regine nicht länger, Die Th 
nen flürzten ihr aus den Augen, und bie gefalts ° 
ten Hände gegen ihre Bruft brüdend, fagte fi 
leife: „Ja! ich bin fehr unglücklich!“ 

Der innige Ton der Wahrheit erfchütterte die 
Dame „Was kann ich für Sie thun?“ rief fe. 
vol Theilnahme und ergriff Regine's Hände 
„Sagen Sie mir, Liebe! was kann id für Sie 
thun?“ 

„Nehmen Sie mich mit ſich!“ bat Regine 
und fügte dann lebhaft hinzu: „Sch habe Nie 
mand, auf den ich mich berufen dürfte, feine 
Empfehlungen, die für mich fprächen, die wenigen 
Menfhen, die mich bier kennen in der großen 
Stadt, die würden gegen mich zeugen, ich habe 
Niemand ald mich felbft und die Zuverficht auf 
Ihre Menfchlichkeit, die mir Ihr Anblick giebt!" 

Die Dame trodnete fi die Augen. „Was 
it Ihnen denn gefchehen? Was beprängt Sie?" 
forfchte fie theilnehmend. 

Regine kämpfte mit fich felbft, endlich fagte 


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So auffallend dies lebte Verlangen für Fries 
drich fein mußte, fo Hatten Erich's Offenheit und 
por Allem der Umftand, daß er feine Geliebte 
fhon in der Heimath gefannt haben wollte, ihn 
doch völlig beruhigt; denn Regine hatte nach fei- 
ner feiten Ueberzeugung Erich niemald gejehen, 
und bald zog er fich wieder in bie Fleine Welt 
zurüd, in der er heimifch zu werden begonnen 
Hatte. | 

Er felbft nahm Auguftend Borfchlag, feine 
Mutter nad) dem Gute überzufiedeln, wieder auf, 
um fih aud von bdiefer Seite abzuſchließen, 
und mit Zufriedenheit fah er die befcheidene Habe 
ber Meifterin im Haufe der alten Anna anlangen. 
Selbft die Ausficht, daß die Familie ded Malers, 
Daß der Baron und Augufte mit Anfang bed 
Minterd den Ort verlaffen würden, erfchredte ihn 
nicht; er freute fich vielmehr darauf, bald ganz 
auf fich felbft und auf den Verkehr mit den fchlich- 
teften Menſchen angewiefen zu fein, und das Zus 
fammenfein mit den Bewohnern des Schloſſes 
war ohnehin nicht erheiternd. 

Die Erfehütterung, welche ber Baron durch 


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Himmel lebt, * rief Regine, „Sie follen dies Ber- 
trauen nie bereuen! Sie follen es nie bereum, 
mich gerettet zu haben!* 

Sie reichte der Dame die Hand, bie jene 
nahm, es entftand eine Pauſe. Beide raum 
fhienen betroffen von dem plöglihen Bertraum 
das fie zu einander gefaßt; dann fagte bie 
Dame: „Ih hatte vor nah Italien zu reifen, 
Bamilienverhältniffe hindern mich daran, und id 
gehe nah Frankreich. Wann koͤnnen Sie fertig 
fein?“ 

„Zu jeder Etunde, gnädige Frau!“ 

„So laflen Sie ed übermorgen früh fein. 
Es drängt mich von hier fortzufommen. ” 

Regine erklärte fich bereit und wollte die Da 
me verlaffen, als diefe lächelnd fagte: „Aber Ihre 
Wohnung und Ihren Namen möchte ich doch 
wiſſen!“ 

„Ich heiße Regine Baldig — —“ 

„Regine Baldig?“ wiederholte die Fremde, 
„Regine Baldig? Sind Sie eine Koönigsbergerin?“ 

„Ja! gnädige Frau!“ antwortete Regine, vers 
wundert über dieſe Frage. 


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eh ein merfwürdiger Zufall" rief die 
zab dann Reginen nochmals die Hand und 
‚Sa, Sie follen mit mir gehen und wir 
einander nicht verlaffen, denn auch ich bin 
) felbft geftellt und recht allein! Auf übers 
alfo! — Für Ihren Paß forgen Sie 
h habe bereits. einen für mic) und meine 
ng audfertigen laſſen. Auf übermorgen 


ine langte erleichterten Herzens in ihrer 
ı9 an. Sie padte eine befcheidene Garde⸗ 
ammen, ließ alle wertbvollen Gegenſtaͤnde, 
y ihr gefchenft, zurüc, ordnete feine Zimmer 
Heimkehr, und fchrieb ihm dann, daß fie 
mmerjungfer einer vornehmen Dame nad) 
ch gehe, daß fie den Ort ihrer Beſtim⸗ 
:[bft nicht Fenne, und daß fie ihn um ih⸗ 
feiner Ruhe willen beſchwoͤre, nicht nady 
orfchen. Kein Wort der Klage, ded Bes 
oder des Vorwurfs fprach fi) in dem 
ud. Er war voll fanfter Trauer, vol 
r Erich, der Ausdrud einer großmüthigen 
ie fich beſchieden hatte zu entfagen. 


Dreiundzwanzigftes Kapitel, 


— W—t) — — 


Erich war für einige Tage zu einer befreun 
beten Familie auf dad Land gegangen, ald Regine 
an einem hellen Detobermorgen in dad Zins 
mer eined Hoteld trat, in dem eine noch junge 
Dame fie empfing. Sie hatte fi fehr veränbert, 
ihre Wangen waren bleich geworden, ber ram 
hatte feine Spuren in ihren edlen Zügen aus 
geprägt. 

Scheu und demüthig blieb fie nahe bei ter 
Thüre ftchen, als zaubere fie vorwärts zu treten, 
al& falle es ihr fchwer zu ſprechen. Die Dame 
auf dem Eopha bemerkte es, erfunbdigte fich nad 
ihrem Begehr und nöthigte fie zum Sitzen. Re 


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ſchließen, die bei Ungewohnten ihre Härten 
bat?“ ; “ 
Da bielt fi) Regine nicht länger. Die Thraͤ⸗ 
nen flürzten ihr aus den Augen, und bie gefalte 
ten Hände gegen ihre Bruft brüdend, fagte fie 
leife: „Ja! ich bin fehr ungluͤcklich!“ 

Der innige Ton ber Wahrheit erfchütterte bie 
Dame „Was Ffann ih für Sie thun?“ rief fir - 
vol Theilnahme und ergriff Regine's Hände, 
„Sagen Sie mir, Liebe! was Tann ich für Sie 
thun?“ 

„Nehmen Sie mich mit ſich!“ bat Regine 
und fügte dann lebhaft hinzu: „Sch habe Nie 
mand, auf den ich mich berufen dürfte, Feine 
Empfehlungen, die für mic) fprächen, die wenigen 
Menfhen, die mich hier fennen in ber großen 
Stadt, die würden gegen mid) zeugen, ich habe 
Niemand als mich felbft und die Zuverficht auf 
Ihre Menfclichkeit, die mir Ihr Anblick giebt!“ 

Die Dame trodnete fi die Augen. „Was 
ift Ihnen denn geſchehen? Was bebrängt Sie?" 
forfchte fie theilnehment. 

Regine Fämpfte mit fich felbft, endlich fagte 





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Himmel lebt,“ rief Regine, „Sie follen dies Ber- 
trauen nie bereuen! Sie follen es nie bereum, 
mich gerettet zu haben!“ 

Sie reichte der Dame die Hand, bie jene 
nahm, ed entfland eine Paufe. Beide Frauen 
fhienen betroffen von dem plöglihen Vertrauen 
dad fie zu einander gefaßt; dann fagte bie 
Dame: „Ich hatte vor nah Italien zu reifen, 
Bamilienverhältniffe hindern mich daran, und id 
gehe nad) Frankreich. Wann Fönnen Sie fertig 
fein? 

„Zu jeder Stunde, gnädige Frau!” 

„So lafien Sie es übermorgen früh fein. 
Es drängt mich von hier fortzufommen. ” 

Regine erklärte fi) bereit und wollte die Das 
me verlaffen, als diefe lächelnd fagte: „Aber Ihre 
Wohnung und Ihren Namen möchte ich doch 
wiſſen!“ 

„Ich heiße Regine Baldig — —“ 

„Regine Baldig?“ wiederholte die Fremde, 
„Regine Baldig? Sind Sie eine Koönigsbergerin?“ 

„Sal gnädige Frau!” antwortete Regine, vers 
wundert über dieſe Frage. 


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„Welch ein merfwürdiger Zufall” rief die 
Dame, gab dann Reginen nochmals die Hand und 
fagte: „Sa, Sie follen mit mir gehen und wir 
wollen einander nicht verlaffen, denn auch ich bin 
auf mich felbft geftelt und recht allein! Auf übers 
morgen alſo! — Für Ihren Paß forgen Sie 
nicht, ich babe bereits. einen für mich und meine 
Bedienung audfertigen laffen. Auf übermorgen 
alfo I“ 

Regine langte erleichterten Herzens in ihrer 
Wohnung an. Sie padte eine befcheidene Garde⸗ 
robe zufammen, ließ alle werthvollen Gegenftände, 
bie Erich ihr geſchenkt, zurücd, ordnete feine Zimmer 
für die Heimkehr, und fchrieb ihm dann, daß fe 
ald Kammerjungfer einer vornehmen Dame nad) 
Frankreich gehe, daß fie den Ort ihrer Beftims 
mung felbft nicht kenne, und daß fie ihn um ih 
rer und feiner Ruhe willen befchwöre, nicht nady 
ihr zu forfchen. Kein Wort der Klage, ded Bes 
dauernd oder ded Vorwurfs ſprach fi) in dem 
Briefe aus. Er war vol fanfter Trauer, vol 
Liebe für Erich, der Ausdruck einer großmüthigen 

Seele, die ſich befchieden hatte zu entfagen. 


Den Brief legte fie auf Erich's Schreibtiſch. 
Als fie am Morgen ihrer Abreife dem Portier 
die Schlüffel ihrer Wohnung übergab, fah dieſer 
fie ruhig mit ihrem Gepäde davonfahren. Cr 
glaubte, fie gehe zu Erich auf das Land. 

Wenig Wochen fpäter meldeten die Zeitungen 


die Verlobung des Barond Erich von Heiten | 


brud mit der Freiin Sidonie von Werbed, un 
ber Bräutigam hatte die Freude, feine Schweſter, 
bie Gräfin St. Brezan, bei der Verlobung gegen 
wärtig zu haben, die ihren Gemahl auf feine 
außerordentlihen Mifften nad) Petersburg be 
gleitete. 


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